Montag, September 16

Verliert der alte Kontinent den Anschluss an die Welt, weil er zu wenig forscht und erfindet? Das ist weniger eindeutig, als behauptet wird. Es gibt in Europa sogar Länder, die innovativer sind als die USA.

Apple, Alphabet, Meta: Die Tech-Pioniere scheinen alle amerikanisch zu sein. Prompt häufen sich die Mahnungen, Europa gerate ins Abseits. Doch fällt Europa tatsächlich hinter die USA zurück, und mangelt es wirklich an Innovation?

1990 betrug die durchschnittliche Wirtschaftsleistung pro Kopf in der heutigen EU inflationsbereinigt zu Preisen von 2015 21 700 Dollar. In den USA waren es 39 200 Dollar, in der Schweiz 70 000 Dollar. Seither hat die reale Wirtschaftsleistung in den USA um 66 Prozent zugenommen, in der EU um 57 Prozent. Die beiden haben sich mit anderen Worten weder angenähert noch stark auseinanderbewegt. Die Schweiz verzeichnete ein Plus von «bloss» 28 Prozent.

Das Niveau der Wirtschaftskraft ist damit allerdings stark unterschiedlich geblieben. Einer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung von durchschnittlich 90 000 Dollar in der Schweiz standen im vergangenen Jahr 65 000 Dollar in den USA und 34 200 Dollar in der EU entgegen.

Wie innovativ ist Europa?

Früher veränderten Europas Denker die Welt, die Unternehmen des Kontinents gehörten zu den besten der Welt. Diese Gewissheit ist heute dahin, doch mangelt es Europa wirklich an klugen Köpfen und guten Ideen?

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Produktivität und Innovation als Treiber des Wachstums

Doch was sind die Ursachen hinter diesem unterschiedlichen Wohlstand, und ergibt es wirklich Sinn, die EU und die USA als Ganzes miteinander zu vergleichen?

Die Wirtschaftsleistung entsteht aus dem Zusammenspiel von Arbeit und Kapital. Wie effizient dieses eingesetzt wird, hängt von der Produktivität ab, die wiederum stark vom Stand des technologischen Fortschritts und vom vorhandenen Wissen (der Qualität des «Humankapitals», wie Ökonomen zu sagen pflegen) bestimmt wird.

Betrachtet man die Produktivität pro geleistete Arbeitsstunde, so hat sich diese zwischen den USA und den «alten» EU-Ländern bis Ende der 1990er Jahre angenähert. Doch seither sind die EU-Länder wieder zurückgefallen. Die Vermutung liegt nahe, dass dies mit einem Mangel an Innovationskraft zu tun hat.

Erfindergeist im Norden und in der «Blauen Banane»

Innovation braucht zuerst einmal Invention, also Erfindungen. Wenn sich die Erfinder und die mit ihnen verbundenen Firmen oder Forschungseinrichtungen davon grösseres wirtschaftliches Potenzial versprechen und Wettbewerber davon abhalten wollen, die gleiche Idee zu nutzen, lassen sie diese patentieren.

Bei Patenten, die international angemeldet werden, kann davon ausgegangen werden, dass ihre Urheber diesen ein relativ hohes und konkretes Innovationspotenzial zumessen. Erfreulicherweise lassen sich diese dem Wohnort des Patentanmelders zuordnen. Damit hat die NZZ für die folgende Analyse ein Mass der «Erfindungsintensität» der verschiedenen Länder und Regionen Europas errechnet, nämlich wie viele Patente in den fünf Jahren von 2017 bis 2021 durchschnittlich pro Million Einwohner und Jahr international angemeldet wurden.

Betrachtet man die Karte mit den internationalen Patentanmeldungen, so zeigen sich erstens ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle, die grob mit dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung übereinstimmen. Das hochentwickelte, stark auf Bildung und Wissenschaft setzende Nordeuropa weist die höchste Konzentration an Patenten aus, während portugiesische, spanische, süditalienische und osteuropäische Regionen abfallen.

Zweitens ähnelt die geografische Verteilung der «Erfindungsintensität» in Europa der sogenannten «Blauen Banane». Dabei handelt es sich um einen dichtbevölkerten europäischen Grossraum, der sich von England durch die Benelux-Länder, die Region Rhein und Ruhr über Frankfurt, Stuttgart, München und die Schweizer Ballungsräume bis nach Norditalien erstreckt.

Die geografische Konzentration internationaler Erfindungen zeigt sich eindrücklich auch am Nord-Süd-Gefälle in Deutschland. In vielen Regionen Baden-Württembergs und Bayerns ist die so gemessene «Erfindungsintensität» mindestens fünfzehnmal höher als in Nordostdeutschland.

In der Schweiz stechen vor allem die Kantone Basel-Stadt, Neuenburg, Zug und Aargau hervor.

Eine nähere Betrachtung zeigt, dass besonders viele internationale Patentanmeldungen von forschungs- und technologieintensiven Konzernen angemeldet werden. In Basel ist Roche der grösste Anmelder, in Zug ist es der Pharmaproduzent Cilag und im Kanton Aargau die ABB. In Neuenburg betreibt der amerikanische Tabakkonzern Philipp Morris ein Forschungszentrum, das viele Patente im Bereich der E-Zigaretten angemeldet hat.

Dasselbe gilt auch für Deutschland: In München ist Siemens der wichtigste Patentanmelder, in Ludwigshafen BASF, in Darmstadt Merck, und in Ostdeutschland sticht Jena dank Carl Zeiss Meditec hervor.

Aggregiert auf Länderebene zeigt sich, dass europäische Staaten nicht generell weniger innovativ sind als die USA. Alle nordischen Staaten ausser das rohstoffreiche Norwegen sowie die Niederlande, Deutschland und Österreich weisen sogar eine höhere «Erfindungsintensität» auf als die USA. Am innovativsten ist die Schweiz mit 5502 Patenten gegenüber 1525 in den USA. Allerdings ist der Durchschnitt in den USA keine besonders geeignete Vergleichsgrösse, denn Innovationskraft scheint sich geografisch zu konzentrieren. Im Silicon Valley dürfte die «Erfindungsintensität» höher sein als in der Schweiz.

Dank viel Forschung innovativer als die USA

Neben der Präsenz von grossen, international tätigen Firmen sind es technologisch orientierte Universitäten und ihre Institute, die zur Invention in Europa beitragen. Der statistische Zusammenhang zwischen den Ausgaben für Forschung und Entwicklung und den Patentanmeldungen pro Kopf ist auf Länderebene sehr gross. Die Korrelation beträgt 0,9 für die F&E-Ausgaben von Unternehmen und 0,74 für F&E-Ausgaben der öffentlichen Hand (perfekt wäre die Korrelation mit einem Wert von 1,0). Wo patentiert wird, wird auch geforscht – und Forschung ist die Voraussetzung für neues Wissen und neue Produkte.

In zentralen Teilen Europas mangelt es an Erfindergeist und Forschung also nicht. Aber sind Patentanmeldungen überhaupt ein guter Indikator für die Innovationsstärke einer Firma oder einer ganzen Region?

Der Weg von der Invention zur Innovation ist nicht zwingend gradlinig. Dass eine Erfindung von einem Ort aus international zur Patentierung angemeldet wird, heisst noch nicht, dass sie auch am selben Ort zu einer marktreifen Innovation führt. Was bei Siemens in München erfunden wird, mag in den USA verwendet und an den Markt gebracht werden.

Eine wichtige Innovation eines Tech-Konzerns basiert auch nicht unbedingt auf Erfindungen, die vor Ort gemacht wurden. In der Computertechnologie und der Softwareentwicklung findet Innovation eher sequenziell statt, Programmierer bauen also auf dem Code anderer Programmierer auf und entwickeln ihn weiter.

Patente könnten hier sogar hinderlich sein, da sie Wissensmonopole begründen. Unternehmen in diesen Sektoren patentieren meist bloss aus strategischen Gründen; etwa um sich bei Gerichtsfällen zu verteidigen oder um einen Bereich strategisch zu schützen und Wettbewerber abzuschrecken.

Zentral ist der Patentschutz hingegen in der für die Schweiz zentralen Pharma-, Biotech- und Medtech-Branche, wo er forschungsintensive Produkte vor Imitation schützt. Auch für Startups ist es in diesem Bereich wichtig, ein Patent zu haben.

Invention ist nicht gleich Innovation

Patente sind deswegen zwar ein guter Indikator für die Erfindungs- und Forschungsintensität einer Region, aber mehr Patente bedeutet nicht immer auch mehr Innovation. Die Korrelation zwischen der «Erfindungsintensität» und dem Anteil der in einer länderübergreifenden Umfrage der EU-Kommission ermittelten Firmen mit Marktneuheiten ist auf Länderebene mit 0,63 mittelstark.

Das dürfte damit zu tun haben, dass es unter den innovativen Firmen, die Marktneuheiten lancieren, viele kleinere und mittlere Unternehmen gibt. Insbesondere kleinere Unternehmen suchen wegen der damit verbundenen Kosten und des Aufwands oft keinen Patentschutz. Auf der anderen Seite bleiben viele Patente ungenutzt und werden nicht kommerzialisiert.

Doch auch bei der so gemessenen Innovation zeigen sich Nord- und Zentraleuropa stark. Demnach sind die belgischen und finnischen Firmen die innovativsten in Europa: Jede vierte Firma hat dort zwischen 2018 und 2020 mindestens eine Marktneuheit lanciert. In der Schweiz und in Österreich schaffte das laut der Umfrage «nur» jede fünfte, in Deutschland bloss jede zehnte Firma.

Die Schweiz und Nordeuropa mit den höchsten Scores

Um den verschiedenen Dimensionen der Inventions- und Innovationsfähigkeit besser gerecht zu werden, errechnen die EU-Kommission und die Internationale Organisation für geistiges Eigentum sogenannte Innovations-Scores. Diese beziehen ein ganzes Bündel an Variablen ein. Das «European Innovation Scoreboard» der Europäischen Kommission verwendet 32 Indikatoren, um zu messen, wie innovativ die Länder und Regionen Europas sind. Der Global Innovation Index (GII) der World Intellectual Property Organization greift gar auf 80 Indikatoren zurück.

Beide Rankings beziehen die Rahmenbedingungen für die Forschung und Entwicklung ein, zum Beispiel den Anteil an Hochschulabsolventen, IT-Skills oder wie stark verankert lebenslanges Lernen ist. Wichtige Faktoren sind zudem die öffentlichen und privaten Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Kooperationen zwischen Firmen und Hochschulen sowie technologische Outputs, zu denen auch die Patente gehören. Der Global Innovation Index berücksichtigt zudem explizit die Qualität der Institutionen und der Infrastruktur.

Auf der regionalen Ebene sieht der European Innovation Scoreboard die Region Hovedstaden (Hauptstadtregion Kopenhagen und Umgebung) in Dänemark vorne, darauf folgen Südfinnland, Oberbayern, Stockholm, Berlin und Zürich.

Auf Länderebene landet die Schweiz sowohl im European Innovation Scoreboard als auch im Global Innovation Index auf dem ersten Platz, was unter anderem auf die effiziente Verwaltung sowie die Qualität und den Forschungsoutput der Hochschulen zurückzuführen ist. Auch bei wissenschaftlichen Publikationen, die in Kooperation mit Unternehmen entstehen, sowie den Patentanmeldungen im Verhältnis zur Einwohnerzahl liegt die Schweiz an der Spitze.

Die Einhörner fehlen

Dennoch gibt es keinen Grund zum Frohlocken. In Europa mag verhältnismässig viel geforscht werden und die Industrie relativ innovationsstark sein. Betrachtet man aber, wo neue Firmen entstehen, die es zu einer Milliardenbewertung bringen und somit zu den sogenannten Einhörnern werden, ist man zurück bei der eingangs erwähnten Dominanz von amerikanischen und zunehmend auch chinesischen Tech-Firmen.

Laut der Datenbank Crunchbase stehen den gegenwärtig 753 amerikanischen und 282 chinesischen Einhörnern bloss 124 in der EU gegenüber. In Deutschland finden sich 40, in Frankreich nur 31, in der Schweiz 9 und in Österreich gar bloss 3.

In den reicheren Ländern Europas sind zwar Infrastruktur und Forschung gut, aber bei der Kommerzialisierung neuer Entwicklung scheint es zu hapern. Es fehlt nicht zuletzt an Risikokapital und generell an Risikobereitschaft. In Kanada und den USA werden 0,25 bzw. 0,23 Prozent der Wirtschaftsleistung in Venture-Capital investiert. In der Schweiz und Schweden sind es nur 0,07 Prozent, in Deutschland und Frankreich 0,06, in Italien 0,03 und in Österreich gar bloss 0,02 Prozent. Kein Wunder, zieht es erfolgreiche Startups, die schnell wachsen wollen, in die USA, wo sie leichter an Geld kommen und erst noch in einem grossen Binnenmarkt integriert sind.

Was Europa tun könnte

Europa hat zwar wenige Einhörner, doch dem stehen viele kleine und mittlere innovative und exportorientierte Unternehmen gegenüber. Sie sind Europas Stärke. Dennoch wächst Europas Wirtschaft langsamer, und Europa verharrt damit auf einem tieferen durchschnittlichen Wohlstandsniveau als die USA.

Die obige Analyse zeigt Ansatzpunkte, wie dies geändert werden könnte:

  • Exzellenz fördern. Innovation sichert Wachstum und Wohlstand. Innovation braucht Invention, Spitzenforschung und Bildung. International betrachtet finden sich in den USA, in Grossbritannien und der Schweiz relativ gesehen mehr Spitzenuniversitäten als in der EU. Innovation ist auf Spitzenleistungen angewiesen, besonders aus den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (Mint).
  • Unternehmergeist stärken. Der Weg vom Forschungsresultat zur marktfähigen Innovation ist auf private (Jung-)Unternehmer angewiesen, die etwas wagen. Risikobereitschaft gehört zum Unternehmertum ebenso wie die Tatsache, dass nicht jede Innovation erfolgreich sein kann. Im Vergleich zu den USA wird Scheitern in Europa noch zu sehr stigmatisiert. Auch das Insolvenz- und Steuerrecht könnte Startup-freundlicher werden.
  • Leistung belohnen – ohne Industriepolitik. Risiken tragen muss sich lohnen; eine übermässige Besteuerung darf Erfolge nicht verhindern. Wobei die staatliche Bürokratie nicht entscheiden sollte, was sich lohnt und was nicht. Eine teure Industrie- und Subventionspolitik macht Europas Wirtschaft per se nicht erfolgreicher. Wettbewerbsorientierte Investitionen in Bildung und Forschung sind die bessere Standortpolitik.
  • Binnenmarkt und Kapitalmarkt vertiefen. Ein einfacher Zugang zu einem grossen Binnenmarkt macht den Weg von der Forschung und Entwicklung zur Innovation attraktiver. Der europäische Binnenmarkt gleicht Nachteile zu den USA aus, ist aber vor allem im Dienstleistungsbereich noch entwicklungsfähig. Deutlich weniger leistungsfähig als in den USA ist in Europa der Kapitalmarkt. Eine bessere Integration der nationalen Kapitalmärkte würde gerade auch mittelgrossen Firmen den Zugang zu (Risiko-)Kapital erleichtern.

Das Potenzial ist also durchaus da. Die Rahmenbedingungen müssten verbessert werden, damit es auch der Wirtschaft in Europa vermehrt und breiter gelingt, mit Innovationen der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung neuen Schub zu verleihen.

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