Freitag, Januar 31

Zwei, drei oder gar fünf Prozent? Wie auf einem Basar nennen Politiker immer neue Ausgabenziele. Entscheidend ist aber, welche Mittel nötig sind, um sich gegen Russland zu verteidigen. Dafür entwickelt die Nato nun erstmals seit Jahrzehnten einen Massstab.

Was für eine Enttäuschung für westliche Regierungen: Mehr als zwei Jahrzehnte lang drängten die USA die europäischen Nato-Mitglieder, ihre Verteidigung ernster zu nehmen und dafür jährlich mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) aufzuwenden. Doch jetzt, wo das Zwei-Prozent-Ziel im europäischen Durchschnitt endlich erreicht ist, gilt es bereits als untauglich. Russlands kriegslüsterner Kurs macht klar, dass die westliche Allianz wesentlich mehr investieren muss, um ihre Abschreckungsfähigkeit zurückzugewinnen.

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Wie auf einem Basar bringen Politiker immer höhere Prozentziffern ins Spiel. Sollten es künftig drei Prozent des BIP sein, oder braucht es noch mehr, wie vor zwei Wochen der Nato-Generalsekretär Mark Rutte andeutete? Der amerikanische Präsident Donald Trump forderte in seiner Videoansprache am Davoser Weltwirtschaftsforum sogar fünf Prozent als neue Zielvorgabe – ein Niveau, das selbst die USA nicht annähernd erreichen. Litauen, in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands gelegen, kündigte derweil für nächstes Jahr einen Militärhaushalt im Umfang von bis zu sechs Prozent des BIP an – eine Verdoppelung gegenüber 2024.

Es geht um Billionen von Dollar

Hinter diesen abstrakten Zahlen stecken gigantische Mehrausgaben. Im vergangenen Jahr budgetierten die 30 europäischen Mitgliedstaaten laut einer Nato-Statistik gesamthaft knapp 480 Milliarden Dollar für Militärisches. Bei einem künftigen Drei-Prozent-Ziel hiesse dies Mehrausgaben von 230 Milliarden, die sich über ein Jahrzehnt und bei stetig wachsender Wirtschaft auf mehrere Billionen Dollar kumulieren würden. Der politische Wille für eine solche Zielvorgabe ist nur in wenigen Ländern erkennbar.

Ein Blick auf die untenstehende Karte des Allianzgebietes zeigt, dass die verteidigungspolitischen Ambitionen weit auseinanderklaffen. Nicht überraschend liegen die Ausgaben vor allem an der Ostflanke der Nato hoch, oft weit über dem Zwei-Prozent-Ziel. Sieben Staaten, im Westen und Süden des Kontinents, erreichen die Minimalvorgabe jedoch weiterhin nicht.

Auffallend ist das Schlusslicht Spanien, das mit Militärausgaben in der Höhe von weniger als 1,3 Prozent des BIP die Nato-Ziele klar missachtet. Aber alles ist relativ: Wäre die Schweiz Mitglied der Nato, stünde sie mit einem Wert von 0,7 Prozent am Ende der Rangliste. An der Spitze steht Polen mit Ausgaben, die in den letzten Jahren rasant gewachsen sind und sich 2024 auf mehr als vier Prozent des BIP beliefen. Polen kann Trumps provokative Forderung deshalb gelassen hinnehmen.

Anders liegt der Fall bei wirtschaftlichen Schwergewichten wie Deutschland und Frankreich, die das Zwei-Prozent-Ziel nur knapp – und im Fall Deutschlands nur mit budgetären Tricks – erreichen.

Seit 2002 steht das Zwei-Prozent-Ziel in Nato-Dokumenten, anfangs als blosse Empfehlung. Als festes Ziel wurde es 2014 verankert – eine Reaktion auf die russische Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim. Wirkung entfaltete diese Vorgabe jedoch nur langsam. Erfüllten 2014 drei Mitgliedländer den Mindestwert, waren es 2020 erst neun. Trumps Kritik an der Trittbrettfahrerei der Europäer bewirkte einen Ausbau der Militärhaushalte, aber die eigentliche Wende erfolgte erst unter dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine vor drei Jahren.

So alt wie das Zwei-Prozent-Ziel ist auch die Kritik daran. Sie stösst sich vor allem daran, dass eine starre Planvorgabe keine Garantie dafür ist, den Zweck zu erreichen – Europa sicher zu machen. Wie effizient und zielführend die Regierungen das Geld ausgeben, lässt sich an diesen Prozentwerten nicht erkennen. Zudem dient nicht jeder Euro der kollektiven Sicherheit – Frankreich zum Beispiel betreibt mit seiner Armee auch Grossmachtpolitik in Übersee. Unterschiedliche nationale Budgetierungsarten erschweren obendrein die Vergleichbarkeit.

Dennoch sind konkrete Prozent-Ziele kein blosser Fetisch, sondern ein Mittel, um die Politik anzutreiben. Erhellend ist auch ein Vergleich mit der Vergangenheit: Zur Zeit des Kalten Krieges waren viel höhere Militärausgaben über Jahrzehnte hinweg die Norm. Da in Europa derzeit ein heisser Krieg tobt und die Nato mit der gravierendsten Bedrohungslage seit langem konfrontiert ist, sind die Vergleichswerte von damals relevant.

Wie die untenstehende Grafik zeigt, gaben die Briten noch in den siebziger Jahren um die fünf Prozent, die Franzosen und Deutschen rund drei und die Schweizer zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für das Militär aus.

Die Zahlen dieser Länder sanken erst nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 markant. Darin spiegelte sich der Wunsch nach einer «Friedensdividende». Diese umfasste im Falle Grossbritanniens, Deutschlands und der Schweiz rund die Hälfte der früheren Militärausgaben. Die Sparpolitik setzte sich überall bis in die 2010er Jahre fort, bevor ab 2020 den Streitkräften wieder mehr Geld zufloss.

Nun sollen die Ausgabenkurven kräftig nach oben weisen. Doch über einen Zielwert gibt es in der transatlantischen Allianz noch längst keinen Konsens. Einigkeit besteht höchstens darin, dass zwei Prozent nicht reichen werden. Dabei fällt auf, dass Nato-Führungsleute neuerdings mehr Klartext sprechen als früher. Dies dürfte eine Folge des Machtwechsels im Weissen Haus sein, aber auch der neuen Verteidigungspläne der Nato.

Plötzlich braucht es 60 Prozent mehr Kampfbrigaden

Zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg, so formulierte es der Nato-Oberkommandierende in Europa, General Christopher Cavoli, gibt es wieder klassische Operationspläne: Sie legen konkret fest, wie bestimmte Gebiete verteidigt werden sollen und welche Mittel dafür nötig sind. In diesen Monaten werden nun die entsprechenden Verantwortlichkeiten auf die einzelnen Bündnismitglieder verteilt. Daraus sollen sich die künftigen Militärausgaben ergeben – und nicht mehr aus einer willkürlich wirkenden Prozentzahl.

«Es sind die Pläne, die unseren Bedarf diktieren, nicht irgendwelche zugesagte Ambitionen», sagte Mitte Januar in Brüssel der französische Admiral Pierre Vandier, der Oberbefehlshaber für Nato-Transformation. Generalsekretär Mark Rutte leitet aus diesen Plänen einen Bedarf an Militärausgaben in der Höhe von 3,6 bis 3,7 Prozent des BIP ab, wobei die Zahlen je nach Land stark schwanken dürften. Wenn in Deutschland der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck «etwa dreieinhalb Prozent» fordert, bewegt er sich somit im Rahmen dieser Überlegungen.

Die Nato-Verteidigungspläne und die vom Oberkommando festgelegten «Minimum Capability Requirements» sind geheim, aber durchgesickert ist, dass die Allianz gewaltige Lücken erkannt hat. Unter Berufung auf vertrauliche Papiere aus dem deutschen Verteidigungsministerium berichtete die Zeitung «Welt am Sonntag» im Oktober, dass die Zahl der verfügbaren Kampfbrigaden (zu rund 5000 Mann) von 82 auf 131 steigen soll, die Zahl der Divisions-Hauptquartiere von 24 auf 38.

Als besonders wunder Punkt gilt die Luftverteidigung. Die Nato hat offenbar berechnet, dass sie mit den heute verfügbaren Mitteln nur fünf Prozent ihrer Ostflanke verteidigen könnte. Vor dem Hintergrund des russischen Luftkriegs gegen die Ukraine, nicht nur mit Raketen, sondern auch mit einer wachsenden Zahl von Kamikazedrohnen, hat ein solcher Befund grosse Brisanz. Ausgehöhlt ist nicht zuletzt die deutsche Bundeswehr – am Ende des Kalten Krieges verfügte sie über 36 Patriot-Flugabwehrbatterien, heute nur noch über 9.

In der Nato drängt nun die Zeit. Es geht um grundlegende Entscheidungen darüber, wie der kollektive Abwehrschild zu Land, zu Wasser, in der Luft, im Cyberspace und im Weltraum aussehen soll und wer wie viel dazu beiträgt. Der seit dem Herbst amtierende Generalsekretär Rutte hat die Planungen beschleunigen lassen. Im Mai will er sie den Verteidigungsministern zur Genehmigung vorlegen. Er möchte damit sicherstellen, dass die Nato an ihrem Gipfeltreffen im Juni konkrete Ausgabenziele festlegen kann. Es wird der erste Gipfel mit Donald Trump seit fünfeinhalb Jahren sein. Bereits jetzt wirft die Präsenz des Nato-kritischen Amerikaners ihre Schatten voraus und lässt die Nervosität in Europas Hauptstädten ansteigen.

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