Die US-Zölle würden Europas Industrie belasten, sagt Peter Voser. Europa und die Schweiz müssten sich darum stärker nach Asien orientieren. Die Zeiten, in denen der Westen gleich auch seine Werte exportiert, sind laut Voser allerdings vorbei.
Die zweite Ära Trump hat für Sie und die ABB gar nicht schlecht begonnen. Kurz nach Amtsantritt lobte Trumps Regierung eine geplante ABB-Investition von 120 Millionen Dollar in den USA und sah darin bereits einen Erfolg ihrer Politik. Wollten Sie die neue Regierung gnädig stimmen?
Peter Voser: Nein. Die Entscheidung fiel schon vor seiner Zeit und ist Teil unserer langfristigen Strategie, die Produktion vor Ort zu stärken. Zudem haben wir unser Geschäft in den letzten Jahren erheblich ausgebaut – besonders in den USA, wo wir das stärkste Wachstum verzeichnen. Deshalb haben wir dort in den letzten drei Jahren bereits 500 Millionen Dollar investiert und legen nun mit den Projekten in Tennessee und Mississippi nach.
Verfolgen Sie in anderen Ländern eine ähnliche Strategie?
Das ist unumgänglich. Die Industriepolitik hat sich weltweit verändert. Überall fordern Regierungen, aber auch Kunden, dass Unternehmen wie die ABB nahe an den jeweiligen Märkten produzieren. Deshalb investieren wir nicht nur in den USA, sondern auch in Ländern wie Indien. Trump erhöht lediglich das Tempo – und durch seine Vorliebe für Zölle verändert sich die Situation zusätzlich.
Was bedeuten die Zölle für die ABB?
Wir sind gut vorbereitet, weil wir schon seit Jahren auf lokale Produktion setzen. Unsere Strategie orientiert sich ohnehin nicht an Wahlzyklen, sondern an langfristigen Trends – etwa Klimawandel, Energieeffizienz und Automatisierung.
Am Donnerstag hat Donald Trump neue Zölle auf Autos erlassen, Mitte nächster Woche sollen weitere folgen. Das wird doch auch die ABB zu spüren bekommen.
Wir sind grundsätzlich für den freien Warenverkehr, weil er gut für Wirtschaft und Gesellschaft ist. Aber wir können auch mit dieser Situation umgehen. Das gehört heutzutage zu den Aufgaben eines jeden Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung. Der Verkauf von importierten Autos wird in den USA vermutlich sinken, da sich die lokalen Verkaufspreise erhöhen. Dies wiederum könnte gewisse Auswirkungen auf die Lieferketten in den Herstellerländern haben. Für die ABB würde ich dieses Risiko aber als überschaubar einschätzen.
Sie klingen etwas gar optimistisch. Themen wie die Energieeffizienz oder der Klimawandel sind für Trump doch rote Tücher. Hat sich die ABB nicht falsch aufgestellt und muss nun zurückrudern?
Nein. Nehmen Sie ein für uns zentrales Thema, die Energieeffizienz. Es gewinnt an Relevanz – egal, wie Energie produziert oder verbraucht wird.
Wo zum Beispiel?
Die Förderung von fossilen Brennstoffen wird stetig effizienter, auch dank Produkten der ABB.
Wie verträgt sich das mit dem Thema Nachhaltigkeit, das sich ja auch die ABB auf die Fahnen schreibt?
Es ist gut, dass in der Energiepolitik wieder mehr Realismus herrscht. Es ist allen klargeworden, dass wir fossile Energien für den Übergang noch viele Jahre brauchen werden. Trotzdem ist die Entwicklung eines klimafreundlichen Energiesystems nicht mehr aufzuhalten. Davon bin ich überzeugt.
Wirklich? Unter Trump wird es zum Risiko, wenn man das Wort Klimawandel in den Mund nimmt.
Wir sehen bei unseren Kunden, dass sie weiterhin in die Dekarbonisierung investieren – wenn auch vielleicht vermehrt im Stillen. Das wird sich nicht grundlegend ändern.
Mit Trumps Amtsantritt hat sich die Situation für weltweit tätige Unternehmen wie die ABB aber noch einmal verschärft. Es ist bereits von einem globalen Wirtschaftskrieg die Rede.
Das liegt sicher am Tempo der neuen US-Regierung. Es ist ja nicht ganz einfach, all die neuen Erlasse, die sie Tag für Tag in Kraft setzt, im Blick zu behalten. Aber grundlegend hat sich nicht so viel geändert.
Was meinen Sie damit?
Wir bewegen uns schon seit längerem weg von einer US-dominierten Welt hin zu einer multipolaren Ordnung. Neue Allianzen entstehen. Die Brics-Staaten – die Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – werden stärker. Besonders China und Russland rücken enger zusammen. Dank Saudiarabien wird der Mittlere Osten zur aufstrebenden Macht. Dass eine Reaktion der USA kommen wird, war klar. Und diese hat sich nicht erst in den letzten zwei Monaten angebahnt.
Sondern?
Bereits die Biden-Regierung hat sich klarer gegen China positioniert, wenn auch deutlich diplomatischer. Unter Trump tritt die machtpolitische Komponente nun viel offener zutage. Darauf haben wir uns bei der ABB schon länger vorbereitet. Obwohl auch wir nicht vorausgesehen haben, bis zu welchem Grad die Trump-Regierung staatliche Institutionen zerschlagen will.
Besteht die Gefahr, dass die globale Strategie der ABB irgendwann an Grenzen stösst? Dass es heisst: Wer stark in China ist, kann nicht gleichzeitig in den USA operieren?
Ich gehe nicht davon aus, dass sich Firmen künftig für oder gegen gewisse Wirtschaftsräume entscheiden müssen. Diese Gefahr wird übertrieben. Unsere Produkte tragen zur Effizienz und zum Klimaschutz bei – das wird überall gefragt sein.
Aber Sie müssen allenfalls vorsichtiger werden?
Natürlich müssen wir versuchen, die geografischen Gebiete zu trennen und möglichst mit lokaler Technologie zu arbeiten. Das machen wir heute schon.
Gibt es Geschäftsfelder, die Sie meiden werden?
Geschäftsbereiche, die verstärkt zum militärischen Thema werden oder die sehr regierungsnahe sind, werden heikler. Drohnen beispielsweise sind zwar ein interessantes Thema. Wir nutzen Messdrohnen, um Gaslecks aufzuspüren. Aber Drohnen werden aus militärischer Sicht stetig bedeutender. Bei solchen Themen werden wir künftig noch bewusster agieren müssen.
Trump will den Staat abbauen und die USA gleichzeitig wieder zur industriellen Supermacht der Welt machen. Kann das funktionieren?
Industrielle Supermacht – das ist ein grosses Wort. Es ist realistisch, dass die USA ihre Produktionskapazitäten stark ausbauen können. Aber das wird nicht innert sechs oder zwölf Monaten geschehen. Dazu fehlt es dem Land an Schlüsselkomponenten und an Fachkräften. Die Zölle könnten zudem die Inflation in den USA anheizen. Die Regierung Trump wird ihre Ziele in den nächsten Jahren darum neu ausbalancieren müssen.
Wie reagiert China auf Trumps Handelskrieg?
Die ausländischen Investitionen im Land und die Exporte aus China sind über die letzten Jahre ja zurückgegangen. Aber mit 1,4 Milliarden Menschen hat China einen grossen Binnenmarkt, auf den sich das Land jetzt fokussiert. Und es gibt noch eine zweite Reaktion.
Welche?
China sucht verstärkt nach anderen Partnern weltweit – in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten zum Beispiel. Auch Europa könnte eine grössere Rolle spielen. Das bedeutet nicht, dass China nicht mehr in die USA exportiert. Aber bereits in den letzten fünf Jahren sind die Exporte in Richtung USA gesunken. China fokussiert sich zudem auf neue Technologien wie künstliche Intelligenz und Robotik sowie auf technisch sehr anspruchsvolle Produkte.
Mit Erfolg?
Ich war kürzlich in China. Es ist bemerkenswert, was dort passiert. Ich habe Robotics-Firmen besucht und dabei einem humanoiden Roboter die Hand geschüttelt. Das Wachstum der Welt wird über die nächsten zehn oder zwanzig Jahre vor allem aus Asien kommen.
China ist Ihr zweitgrösster Markt. Wird die ABB von diesen Entwicklungen profitieren können, zum Beispiel als Lieferantin? Oder werden lokale Konkurrenten heranwachsen, welche der ABB gefährlich werden?
Es wird sicher mehr lokale Konkurrenz geben, aber das spornt uns an, bei Forschung und Technologie Schritt zu halten.
Wird China für Europa als Geschäftspartner wieder interessanter?
Ja. Angesichts dessen, was mit den USA passiert, muss Europa seine Beziehungen zu anderen Regionen stärken – ganz besonders zu Asien und China.
In Europa gibt es allerdings grosse Skepsis gegenüber China.
Der Westen hat in den letzten Jahrzehnten versucht, seine gesellschaftlichen Werte nach China und in andere Länder zu exportieren. Doch jetzt sehen wir eine immer stärkere Blockbildung, Länder setzen ihre Interessen vermehrt mit machtpolitischen Mitteln durch. Die Zeiten, in denen der Westen die Welt nach seinen Werten zu formen versuchte, sind wohl vorbei. Der Westen wird akzeptieren müssen, dass andere Länder andere Wertesysteme haben. Europa und die Schweiz werden Konzessionen machen müssen, wenn sie weiterhin vom globalen Wachstum profitieren wollen.
Wir müssen also unsere westlichen Werte verraten, um wirtschaftlich nicht unterzugehen?
Ich drehe die Frage um. Wenn unsere Ansprüche auf Wohlstand unverändert bleiben – und davon gehe ich aus: Wie wollen wir das dann finanzieren, wenn wir uns durch unsere Werte praktisch aus dem globalen Handel ausschliessen?
Europa ist in eine Position der Schwäche geraten und muss sich anpassen?
Ja, eine gewisse Anpassung wird notwendig sein. Das heisst nicht, dass die langfristigen Werte, die wir verfolgen, falsch sind. Im Gegenteil: Sie sind richtig. Aber wie Europa diese Werte vertritt und fördert, wird sich verändern. Die ABB beschäftigt in China 15 000 Menschen. Ich verspreche mir wesentlich mehr davon, ihnen unsere Werte zu vermitteln, als diese Werte in irgendwelche Handelsabkommen hineinzuschreiben.
Was bedeutet das für die Schweiz?
Eine Aussenpolitik, die sich nur auf die Neutralität fokussiert, wird nicht mehr reichen. Sie muss dynamischer und flexibler werden. Die Schweiz ist ein Exportland – und muss es bleiben, wenn wir unseren Wohlstand sichern wollen. Bilaterale und multilaterale Abkommen sind daher zentral.
Mit wem?
Unser grösster Absatzmarkt liegt direkt vor der Haustüre. Es braucht darum ein Abkommen mit der EU, das uns den Zugang sichert.
Wovon dann die ABB profitieren kann.
Unser Umsatz aus der Schweiz heraus ist global gesehen relativ klein, auch wenn wir hier über eine exzellente Produktion und viel Know-how verfügen. Sollte der Marktzugang erschwert werden, könnten wir gewisse Produkte relativ einfach im europäischen Ausland herstellen lassen – auch wenn wir das überhaupt nicht wollen. Die ABB hätte nicht den grössten Schaden.
Wer dann?
Die vielen Schweizer KMU, die nicht so flexibel sind wie wir. Sie können ihre Produktion nicht einfach ins Ausland verlagern. Die Politik muss endlich verstehen, wie wichtig der Marktzugang für solche Firmen ist.
Wie bewerten Sie das Verhandlungsergebnis der Schweiz mit der EU?
Diese Diskussion verliert sich viel zu sehr in juristischen Details. Ein Vertrag kann und soll nicht jede mögliche Situation abdecken. Natürlich wird es nach einem Abschluss Überraschungen geben, auch negative. Dann setzt man sich halt wieder gemeinsam an den Tisch.
Kann man mit einer solchen Haltung eine Abstimmung gewinnen?
Schwierig zu sagen. Aber wir brauchen mehr Pragmatismus und mehr Rücksicht auf die Exportwirtschaft. Das ist entscheidend für unseren Wohlstand und dafür, wie sich die Löhne in der Schweiz entwickeln. Wenn jetzt behauptet wird, die Schweiz würde mit einem Abkommen ihre Freiheit aufgeben – damit habe ich meine Mühe. Wir werden ja nicht Sklaven eines Vertrages, sondern bleiben ein souveränes Land.
Die EU wirkt zunehmend geschwächt. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Annäherung?
Ja. Die geopolitische Lage zwingt Europa dazu, sich neu aufzustellen. Einen Elon Musk brauchen wir dafür zwar nicht, aber Bürokratie und Regulierung müssen unbedingt verschlankt werden. Vor allem aber braucht es einen stärkeren europäischen Kapitalmarkt. Das ist Europas grösster Nachteil gegenüber den USA. Nur mit einem funktionierenden Kapitalmarkt lassen sich Startups finanzieren und neue Technologien vorantreiben.
Wird Europa das schaffen?
Es herrscht zwar keine Euphorie, aber es ist doch eine gewisse Aufbruchstimmung zu spüren. Man kann sicherlich viel diskutieren über die Riesensummen, die in Deutschland und ganz Europa freigemacht werden, um Infrastruktur und Militär zu stärken. Werden sie richtig genutzt, sind sie eine Chance. Jetzt liegt es an Brüssel und den nationalen Regierungen, ihre Hausaufgaben zu machen. Es wird wohl länger dauern, als es sollte, aber es wird kommen und Europas Wettbewerbsfähigkeit stärken. Wir dürfen nicht vergessen: Europa war immer eine Exportmaschine und ein Innovationsmotor. Jetzt müssen wir wieder auf diese Stärken setzen.
Ein Bereich, in dem Innovation besonders gefragt ist, ist die Energieversorgung. Die weltweite Energienachfrage wuchs laut der Internationalen Energieagentur 2024 fast doppelt so stark wie im langjährigen Durchschnitt, auch wegen Themen wie der künstlichen Intelligenz. Profitiert die ABB davon?
Ja, natürlich. Es ist aber auch eine Herausforderung für uns.
Warum?
Wir müssen vermehrt in Forschung und Entwicklung investieren, damit wir das enorme Wachstum der Nachfrage durch mehr Energieeffizienz abfedern können.
Wo zum Beispiel?
Etwa bei Datazentren für die künstliche Intelligenz. Wir entwickeln Produkte, dank denen sie längerfristig weniger Energie benötigen werden. Wir haben seit 2020 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung um 40 Prozent erhöht. Allein letztes Jahr betrug das Wachstum 12 Prozent. Die Nachfrage nach energieeffizienten Lösungen ist enorm, denn unseren Kunden ist ja auch klar, dass der Energiebedarf nicht ins Unendliche steigen kann.
Wo gibt es Einsparpotenzial?
Es lassen sich noch viel effizientere Elektromotoren einsetzen, oder die Kühlsysteme können weiter verbessert werden. Viele Technologien gibt es heute schon, andere entwickeln wir derzeit. Dazu kommt, dass die künstliche Intelligenz selbst ja auch effizienter werden wird. Neue Modelle wie Deepseek aus China brauchen weniger Energie. Solche Technologien entwickeln sich nicht linear, sondern es kommt immer wieder zu grossen Sprüngen, die üblicherweise auch die Energieeffizienz verbessern.
Als wir uns vor eineinhalb Jahren zuletzt unterhielten, hatten Sie gerade Ihren 65. Geburtstag gefeiert. Als ich Sie damals nach Ihrem Karriereausblick fragte, sagten Sie, 65 sei heute ja das neue 45. Heisst das, dass Sie noch zwanzig Jahre an der Spitze der ABB stehen wollen?
Dazu sage ich nur so viel: Ich habe nicht das Gefühl, in den letzten eineinhalb Jahren älter geworden zu sein – eher im Gegenteil.