Mittwoch, Oktober 2

Der Industriesektor sendet weltweit Signale einer konjunkturellen Belebung. Das schafft ein positives Umfeld für die Aktienmärkte in Europa. Zudem: Zückt Peking endlich die Bazooka?

«Solange sich der Arbeitsmarkt nicht wesentlich abschwächt, muss ich noch mehrere Monate mit guten Inflationsdaten sehen, bevor ich eine Lockerung des geldpolitischen Kurses befürworten würde.»
Christopher Waller, Gouverneur im Board der US-Notenbank (Fed)

Auf Nvidia ist einmal mehr Verlass. Der Chipdesigner aus Kalifornien hat mit seinen Quartalszahlen am Mittwoch die Erwartungen übertroffen und den Ausblick erhöht. Die Welle rund um das Thema künstliche Intelligenz (KI) rollt weiter – und Nvidia ist der unangefochtene Champion im Feld.

Der Konzern bringt mittlerweile eine Marktkapitalisierung von mehr als 2,5 Bio. $ auf die Waage und ist auf Rang drei der schwersten Unternehmen – hinter Microsoft und Apple – vorgerückt.

Mehr und mehr identifiziert der Aktienmarkt auch die Profiteure des KI-Booms in der zweiten und dritten Reihe. Stromversorger in den USA zählten seit Anfang Jahr zu den grössten Gewinnern an den Börsen – getrieben von der Erkenntnis, dass mehr KI-Anwendungen mehr Rechenzentren bedeuten und diese Unmengen an Elektrizität benötigen (lesen Sie hier mehr dazu). In einer Studie der UBS rechnen die Analysten vor, dass KI-Anwendungen zehnmal mehr Elektrizität verbrauchen als Suchabfragen im Internet. Aus diesem Grund identifizierten die UBS-Analysten den amerikanischen Solarpanelspezialisten First Solar als einen Gewinner des KI-Booms.

Die Kapitalinvestitionen, die nur schon die fünf grossen amerikanischen Tech-Konzerne in den Bau neuer Rechenzentren stecken, übersteigen im laufenden Jahr die Summe von 200 Mrd. $ und werden weiter steigen.

Diese Rechenzentren benötigen Kühlsysteme und Klimaanlagen von Anbietern wie Carrier oder Johnson Controls, Dieselgeneratoren von Caterpillar oder Cummins, und sie benötigen Systeme für das Elektrizitätsmanagement von ABB, Schneider Electric oder Eaton. Kein Wunder, notieren die meisten dieser Unternehmen am Aktienmarkt auf oder in der Nähe eines Allzeithochs.

Im Hype um Nvidia fällt allerdings auf, dass der US-Aktienmarkt insgesamt eine schwache Woche hinter sich hat. Über die Sektoren hinweg haben die meisten Titel im S&P 500 einen Verlust erlitten.

Ein Grund dafür: Die Marktteilnehmer mussten einmal mehr die Perspektive verarbeiten, dass die US-Notenbank die Leitzinsen nicht so bald senken wird. Die Publikation des Sitzungsprotokolls der Fed-Sitzung vom 1. Mai sowie Aussagen von Fed-Exponenten wie dem einflussreichen Gouverneur Christopher Waller zeigten, dass Hoffnungen auf baldige Zinssenkungen verfrüht sind.

Im dieswöchigen «Big Picture» soll es aber nicht um Nvidia und auch nicht um das Fed gehen. Wir werfen einen kurzen Blick auf den «anderen» Halbleitersektor, auf das «alte» Europa und nach China. Zudem präsentieren wir einige Gedanken zum Thema UBS, die Schweiz und das Problem des Too Big to Fail.

Die Themen

  1. Der «andere» Halbleitersektor
  2. Europa rückt in den Sweet Spot
  3. China: Ist das die Bazooka?
  4. UBS und die Schweiz: War da was?

1. Der «andere» Halbleitersektor

Die Graphics Processing Units (GPU) von Nvidia mögen derzeit zwar Wallstreet entzücken, aber deutlich wichtiger für die «reale» Welt sind die – viel profaneren – Halbleiter von Herstellern wie Texas Instruments oder Analog Devices. Diese Analog-Chips werden für allerlei industrielle Anwendungen sowie in grosser Zahl im Bau von Automobilen benötigt. Der Geschäftsgang dieser Konzerne, die meist Zehntausende von Kunden in allen möglichen Branchen bedienen, ist deshalb ein guter Gradmesser für den Zustand der Wirtschaft.

Aus diesem Grund liessen die Worte des CEO von Analog Devices, Vincent Roche, diese Woche aufhorchen: «Die Bereinigung der Lagerbestände in unserem breiten Kundenstamm stabilisiert sich und ebnet den Weg für die Rückkehr zu sequenziellem Wachstum im dritten Quartal. In Kombination mit einem steigenden Auftragseingang stimmt uns das optimistisch, dass wir am Anfang einer zyklischen Erholung stehen.»

Dass die Branche nach einem zwei Jahre dauernden, brutalen Abschwung Licht am Ende des Tunnels sieht, ist ein erfreuliches Konjunktursignal (lesen Sie hier mehr dazu). Der Markt hat diese Entwicklung bereits erkannt und die Aktienkurse von Branchenvertretern wie Texas Instruments, Analog Devices oder NXP Semiconductors markant steigen lassen.

2. Europa rückt in den Sweet Spot

Wenn die Hersteller von Analog-Chips von einer Aufhellung im Industrie- und Automobilsektor sowie von Anzeichen einer zyklischen Erholung sprechen, dann ist das ein besonders erfreuliches Signal für Europa. Der Alte Kontinent kann zwar keine Nvidia, Apple oder Microsoft bieten, aber er ist ein Industrie-Schwergewicht. Und die europäische Industrie gewinnt an Dynamik.

Vor einigen Wochen haben wir an dieser Stelle von «grünen Knospen» geschrieben, die sich in der Weltwirtschaft zeigen. Diese Entwicklung hat sich fortgesetzt. Die Einkaufsmanagerindizes (Purchasing Managers Index, PMI) des europäischen Industriesektors, ein vielbeachteter vorlaufender Konjunkturindikator, haben sich im Mai gemäss vorläufigen Erhebungen weiter erholt. In Deutschland, in Frankreich, in der gesamten Eurozone sowie in Grossbritannien sind die Industrie-PMI höher ausgefallen als erwartet. Sie liegen zwar in Kontinentaleuropa noch unter 50 und deuten weiterhin auf eine Kontraktion hin, aber die Richtung zeigt nach oben.

Schwedens offene, exportorientierte Volkswirtschaft ist ein besonders feinfühliger Gradmesser für die Dynamik in der Weltwirtschaft. Dort ist der Industrie-PMI bereits in den Expansionsbereich über 50 geklettert.

Weil im Euroraum der Inflationsdruck im Gegensatz zu den USA und zu Grossbritannien stetig nachgelassen hat, gilt eine erste Zinssenkung von der Europäischen Zentralbank im Juni an den Finanzmärkten als so gut wie sicher. Diverse Exponenten des EZB-Führungsgremiums haben diese Erwartungshaltung in den vergangenen Wochen in öffentlichen Auftritten bestätigt.

In Europa führt die Mischung aus einer Beschleunigung der Dynamik im Industriesektor, der Aussicht auf baldige EZB-Zinssenkungen sowie eine im Vergleich zu den USA deutlich günstigere Bewertung zu einer attraktiven Ausgangslage für die Aktienmärkte. Über die vergangenen drei Monate betrachtet hat der Stoxx Europe 600 in Euro gerechnet besser abgeschnitten als der S&P 500 und der mächtige Nasdaq 100.

Die Analysten haben ihre Gewinnschätzungen für die im Stoxx Europe 600 enthaltenen Unternehmen seit Anfang März laufend erhöht. Selbst in Deutschland, der schwächsten unter den grossen Volkswirtschaften Europas, haben die Unternehmen mit ihren Zahlen zum ersten Quartal mehrheitlich positiv überrascht.

Auf Basis dieser Gewinnschätzungen ist der Index für 2024 mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 14 bewertet. Im Vergleich dazu kommt der amerikanische S&P 500 auf ein KGV von 20,5.

Für Anleger dürfte es sich lohnen, weiter auf Europa zu setzen. Aber welchen ETF, respektive welchen Index, soll man wählen?

Wie immer gibt es in dieser Frage kein Richtig oder Falsch, aber einige Eigenheiten der europäischen Indizes sollten beachtet werden. Die häufigsten ETF beziehen sich in Europa auf vier Indizes:

  • Euro Stoxx 50
  • Stoxx Europe 600
  • MSCI Europe
  • MSCI EMU

Der Euro Stoxx 50 kann als Blue-Chip-Index der Eurozone betrachtet werden. Er umfasst Schwergewichte wie SAP, Adidas und BASF aus Deutschland, TotalEnergies, Schneider Electric, LVMH und L’Oréal aus Frankreich oder ASML aus den Niederlanden. Aber Achtung: Wer auch Titel aus Ländern wie Dänemark (z.B. Novo Nordisk), Schweden (z.B. Atlas Copco), Grossbritannien oder der Schweiz berücksichtigen möchte, ist mit dem Euro Stoxx 50 falsch bedient.

Eine umfassendere Abdeckung, bestehend aus 600 Unternehmen aus der Eurozone, Skandinavien, Grossbritannien und der Schweiz, bietet der Stoxx Europe 600. Als «schwerster» Einzelmarkt kommt Grossbritannien im Index auf ein Gewicht von rund 22%, die Schweiz mit ihren Giganten Nestlé, Novartis und Roche kommt auf rund 15%. Der Stoxx Europe 600 kann am ehesten als europäisches Pendant zum S&P 500 betrachtet werden.

Ebenfalls die breite Definition von Europa benutzt der MSCI Europe. Er besteht aus 420 Aktien aus fünfzehn europäischen Staaten, darunter Grossbritannien, Skandinavien und die Schweiz. Die grössten Einzelgewichte im MSCI Europe sind gegenwärtig Novo Nordisk (3,9%), ASML (3,4%), Nestlé (2,5%) und AstraZeneca (2,2%).

Der MSCI EMU wiederum bezieht sich, ähnlich wie der Euro Stoxx 50, auf die Staaten der Eurozone (European Monetary Union, EMU). Er besteht konkret aus 224 Aktien aus zehn westeuropäischen Euro-Staaten. Die grössten Gewichte im Index sind gegenwärtig ASML (6,5%), LVMH (4,1%), SAP (3,4) und TotalEnergies (2,9%).

Aktien aus osteuropäischen Staaten wie Polen sind in diesen Indizes nicht enthalten, da sie als Emerging Markets klassifiziert sind.

3. China: Ist das die Bazooka?

Chinas Immobilienkrise schwelt seit drei Jahren. Was als bewusste Abkühlung eines überhitzten Marktes begann, ist für Peking längst zu einem Problem geworden, das schwer auf die Stimmung der Konsumenten drückt.

Bis anhin haben die Zentralregierung und die People’s Bank of China (PBoC) mit einer Serie von kleinen Schritten – Senkungen der Hypothekarzinsen, geringere Eigenkapitalanforderungen für den Erwerb von Immobilien – versucht, die Bürgerinnen und Bürger der Volksrepublik zum Kauf von Immobilien zu animieren. Ohne Erfolg. In den ersten vier Monaten des laufenden Jahres sind die Immobilienverkäufe in China im Vergleich zum Vorjahr gemessen an den Quadratmeterzahlen um knapp 24% und gemessen am Verkaufswert um gut 32% eingebrochen.

Auf annualisierter Basis liegt das gegenwärtig verkaufte Volumen an neuen Immobilien auf dem Niveau von 2016.

Auf dem Sekundärmarkt für bestehende Immobilien sinken die Preise seit nunmehr 32 Monaten, wie Marko Papic von der Research-Boutique Clocktower Group vorrechnet. Eine derart lange Phase mit rückläufigen Preisen haben die Immobilienbesitzer in China noch nie erlebt.

Am vergangenen Wochenende hat die Zentralregierung eine Reihe von Massnahmen beschlossen, um den Immobilienmarkt zu stützen. Die wichtigsten Eckwerte des Programms sind:

  • Eine Abschaffung des nationalen Mindest-Zinssatzes für Hypothekarkredite
  • Eine Senkung der Eigenkapital-Anforderungen von 20 auf 15% für Erstkäufer und von 30 auf 25% für Zweitimmobilien
  • Die Schaffung eines Fonds im Umfang von umgerechnet rund 42 Mrd. $ durch die PBoC, den Lokalregierungen anzapfen können, um unverkäufliche Immobilien zu erwerben

Die Aktienmärkte in China und Hongkong reagierten erfreut auf die Massnahmen. Ist das die längst erhoffte «Bazooka», die die destruktive Dynamik der Immobilienkrise stoppt? (Anmerkung: Der Begriff Bazooka geht auf den damaligen US-Finanzminister Hank Paulson zurück, der im Juli 2008 – zwei Monate vor dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers – vor dem Senat in Washington sagte, mit einer genügend grossen finanzpolitischen Waffe lasse sich die Immobilienkrise stoppen.)

Die kurze Antwort: Nein. Ein Grossteil der neuen Massnahmen zielt weiterhin darauf ab, Hypothekarkredite zu vergünstigen und damit die Haushalte zu Immobilienkäufen zu animieren. Doch wer will schon eine neue Wohnung kaufen, wenn die Preise seit bald drei Jahren ohne Unterbruch sinken?

Im April haben die Haushalte und Unternehmen in China zum ersten Mal seit Erhebung der Daten in Summe mehr Kredite zurückbezahlt als neue Kredite aufgenommen.

Die Haushalte allein haben im April Kredite in Höhe von netto 173 Mrd. Yuan (24 Mrd. $) zurückgezahlt – so viel wie noch nie:

Das sind klassische Zeichen einer Liquiditätsfalle. Egal, wie stark die Zentralregierung versucht, die Kreditkonditionen zu vergünstigen – die Haushalte wollen keine neuen Kredite aufnehmen.

Einzig der neue PBoC-Fonds zielt auf das eigentliche Problem im chinesischen Immobilienmarkt: das Angebot. Je nach Schätzung wurden im Land rund 90 Mio. Wohneinheiten zu viel gebaut, für die keine Nachfrage besteht. Dieses Überangebot drückt auf die Preise. Selbst in der Boom-Metropole Shenzhen sind Immobilienentwickler wie China Vanke gezwungen, erhebliche Wertberichtigungen auf ihren Landreserven zu verbuchen.

Der PBoC-Fonds dient den Lokalregierungen dazu, überschüssige Immobilien aufzukaufen und damit vom Markt zu nehmen. Aber mit umgerechnet gut 40 Mrd. $ ist der Fonds bloss ein Tropfen auf den heissen Stein. Gemäss Schätzungen der China-Ökonomen von UBS wäre ein mindestens achtmal grösserer Betrag nötig, um in den 35 grössten Städten des Landes das Überangebot zu absorbieren.

Die vorgestellten Massnahmen sind also nicht viel mehr als der mögliche Beginn eines Umdenkens in Peking, dass die Angebotsseite des Immobilienmarktes mehr Aufmerksamkeit verdient. Deutlich grössere Schritte müssten folgen, bis von einer «Bazooka» gesprochen werden kann. Es bleibt dabei: Peking wird ein grösseres Boot benötigen, um die Bestie zu besiegen.

4. UBS und die Schweiz: War da was?

Sergio Ermotti, CEO der UBS, bestätigte diese Woche an einem Auftritt vor dem Swiss Media Forum in Luzern, die Grossbank sei too big to fail für die Schweiz.

Den Preis für die bahnbrechendste Erkenntnis wird Ermotti dafür nicht bekommen. Selbstverständlich ist die UBS too big to fail (TBTF), das heisst, sie könnte im Notfall nicht untergehen, ohne massive Schäden in der schweizerischen Volkswirtschaft zu verursachen. Diese Tatsache ist seit Jahren bekannt – und sie gilt erst recht, seit die UBS im März 2023 von der Landesregierung eingeladen wurde, die havarierte Konkurrentin Credit Suisse (CS) zu übernehmen.

Seit gut einem Jahr dauert der Verdauungsprozess der CS nun schon, und Ermotti sowie UBS-Verwaltungsratspräsident Colm Kelleher lassen kaum eine Möglichkeit aus, um implizit darauf hinzuweisen, dass sie dem Bundesrat im März 2023 ein Problem abgenommen haben. «Legt uns jetzt gefälligst nicht zu enge Fesseln an», lautet die damit verbundene Botschaft.

Der Bundesrat hat im April einen mehr als 300 Seiten umfassenden «Bericht zur Bankenstabilität» mit 22 Massnahmen vorgelegt, wie die Schweiz das TBTF-Problem in den Griff kriegen soll. Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat, allerdings indirekt, von rund 20 Mrd. Fr. gesprochen, um die die UBS ihr Eigenkapital stärken müsste.

An der Generalversammlung der UBS mahnte Kelleher im April, die Regulierung in der Schweiz dürfe nicht zu eng werden; die Bank brauche «gleich lange Spiesse», um auf dem Weltmarkt gegen die Konkurrenz bestehen zu können.

Die Diskussion erinnert an die Jahre nach der Finanzkrise von 2008. Déjà-vu.

Doch aus unserer Sicht wäre es dringend notwendig, die Diskussion um das Thema UBS und TBTF in der Schweiz ernsthafter zu führen. Welche Gefahren birgt die Grossbank für das Land? Was lief rund um den Kollaps der Credit Suisse alles schief? Wie konnte es dazu kommen, dass Bund und Nationalbank (SNB) weniger als fünfzehn Jahre nach der Rettung der UBS abermals mit Notrecht und Finanzgarantien einschreiten mussten, um einen grösseren Schaden für das Land abzuwenden? Was haben die SNB, die Finanzmarktaufsicht Finma sowie das Finanzministerium falsch gemacht, dass sie im Fall CS überhaupt zu dieser Notfallübung gezwungen wurden?

Es ist historisch betrachtet längst erwiesen, dass das Bankensystem in hohem Mass fragil ist. Daran hat sich in den mehr als fünfzehn Jahren seit der Finanzkrise nichts geändert. Banken kollabieren. Und wenn sie TBTF sind, zwingen sie ihren Heimatstaat zu einer Rettungsübung. Immer.

Wir haben an dieser Stelle bereits im Detail beschrieben, was aus unserer Sicht geschehen muss, damit die UBS nicht zur Gefahr für die Schweiz wird.

In den vergangenen Monaten wurden zwei wissenschaftliche Arbeiten publiziert, die einen wichtigen Beitrag zur TBTF-Diskussion in der Schweiz liefern und die wir sehr zur Lektüre empfehlen.

Paul Tucker, früherer Vizegouverneur der Bank of England, hat im Auftrag des Eidgenössischen Finanzministeriums einen Bericht verfasst, der die Liquiditätshilfen der SNB in ihrer Rolle als «Lender of Last Resort» im Zusammenhang mit der CS-Krise untersuchte. Der Autor kommt zum Schluss, dass die schweizerischen Behörden – primär die SNB und die Finma – vollkommen unzureichend auf diesen Fall vorbereitet waren. Sie hätten viel früher erkennen müssen, dass die CS am Abgrund steht und zu einem Notfall wird.

«Credit Suisse ist das erste global systemrelevante Finanzinstitut, das seit den Reformen nach der Finanzkrise von 2008 gescheitert ist. Diese Episode müsste Zentralbankern, Aufsichts- und Abwicklungsbehörden weltweit schlaflose Nächte bereiten, denn die CS war auch für viele von ihnen systemrelevant. Ihre politischen Aufseher sollten sich fragen, ob ihre Pläne für die eigenen Banken so gut sind wie behauptet», urteilt Tucker.

Nicht minder lesenswert ist eine Studie von Pascal Böni und Heinz Zimmermann mit dem Titel «The Credit Suisse bailout in hindsight: not a bitter pill to swallow, but a case to follow», die im Februar in «Financial Markets and Portfolio Management» publiziert wurde.

Die beiden Autoren legen darin messerscharf dar, wie der Untergang der Credit Suisse eine Folge von Missmanagement, Skandalen und Fehlern war, die sich über Jahre erstreckte. Auch sie kommen, wie Tucker, zum Schluss, dass marktbasierte Indikatoren wie die Preise von Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) oder die Volatilität des Aktienkurses schon Monate vor dem Kollaps weitherum sichtbare Alarmsignale darstellten, die die Aufsichtsbehörden hätten auf den Plan rufen sollen.

Mit äusserster Präzision räumen Böni und Zimmermann zudem mit zwei Behauptungen auf, die nicht zuletzt von Ermotti und Kelleher wiederholt geäussert wurden: dass, erstens, die notfallmässige Übernahme der CS für die schweizerischen Steuerzahler nicht mit Kosten verbunden war, und dass, zweitens, die Forderung nach mehr Eigenkapital volkswirtschaftlich schädlich sei, weil sie die Kreditvergabe der Bank verteuere.

Beide Behauptungen, auch wenn sie x-fach und undifferenziert wiederholt werden, sind nachweislich falsch. Die Autoren fordern mit überzeugenden Argumenten, dass eine Grossbank mit TBTF-Status erstens deutlich mehr Eigenkapital aufbauen muss, um ihre eigene Fragilität zu verringern, und dass sie, zweitens, eine ständige Option für Liquiditätshilfen von der SNB halten – und für diese auch entsprechend abgelten muss.

Beide Studien haben mehr Beachtung im Land verdient. Die Schweiz darf sich nicht nochmals den Fehler leisten, auf einen Bankennotfall nicht vorbereitet zu sein. Zu denken, es könne in Zukunft nicht mehr geschehen, ist naiv.

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