Mittwoch, November 20

Boom und Krisen im Ausland bestimmen, aus welchen Ländern Arbeitskräfte in die Schweiz einwandern.

Deutschland steckt in der Krise. Kein Tag vergeht ohne neue Analysen, woran die Wirtschaft krankt, wo es zu Werkschliessungen kommt und wie die überbordende Bürokratie lähmende Zwänge schafft. Man spricht über den kranken Mann in Europa – doch auch in den anderen Ländern harzt es konjunkturell. Die Schweiz wird so mit ihren guten Löhnen für EU-Bürger im Vergleich immer attraktiver. Solche Überlegungen können der Befürchtung Auftrieb geben, dass sich die Schweiz auf eine immer stärkere Zuwanderung einstellen muss. Die Schweiz – ein Sehnsuchtsort für die halbe EU: für viele keine schöne Vorstellung.

Der Sog der Schweiz wirkt stärker als Krisen im Ausland

Eine der Stärken der Personenfreizügigkeit sei, dass sie die Zuwanderung konjunkturabhängig steuere, sagt Reto Föllmi, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Brummt die Wirtschaft, werden mehr Stellen ausgeschrieben. Umso stärker kommen dabei auch Arbeitskräfte aus dem Ausland zum Zug. In konjunkturellen Schwächephase kühlt sich das Stellenwachstum hingegen ab. Es werden weniger Arbeitskräfte eingestellt. Die Zuwanderung sinkt.

Das bedeutet: Die von der Schweiz bestimmten «Pull-Faktoren» fallen stärker ins Gewicht als die «Push-Faktoren» im Ausland. Die Ausländerinnen und Ausländer sind ein wichtiger Puffer für den Schweizer Arbeitsmarkt. Ohne ihn wäre die Arbeitslosigkeit im Inland im Abschwung höher und die Fachkräfteknappheit im Aufschwung höher.

«Etwas vereinfacht gesagt, wird in der Schweiz entschieden, wie viele Stellen geschaffen werden und wie viele Zuwanderer in die Schweiz kommen», sagt Michael Siegenthaler, Leiter Arbeitsmarkt bei der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH. Hingegen bestimme die wirtschaftliche und politische Situation in den Herkunftsländern darüber, wer in die Schweiz komme beziehungsweise wie sich die Zusammensetzung der Nationalitäten entwickle.

Dabei gibt es eine inoffizielle Hackordnung. Deutsche, Franzosen und Italiener werden tendenziell bevorzugt, nicht zuletzt wegen der Kenntnis der Landessprachen. Läuft es in diesen Herkunftsländern gut, wird die Pipeline von auswanderungswilligen Menschen dünner. Dann kommen vermehrt Menschen aus kulturell weiter entfernten Ländern zum Zug.

Bei den Deutschen beispielsweise war die Zuwanderung vor allem zu Beginn der Personenfreizügigkeit hoch. Gegen Ende der 2010er Jahre, nach der Umsetzung der stimulierenden Reformen der Agenda 2010 des Altbundeskanzlers Gerhard Schröder, verbesserte sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland. Es siedelten weniger Deutsche in die Schweiz über. 2021 übernahm die inzwischen gescheiterte Ampelregierung von Olaf Scholz – die Zuwanderung aus Deutschland steigt wieder.

Anders ist die Situation bei den Portugiesen. Bis 2016 wanderten mehr Menschen aus Portugal in die Schweiz ein, als ins Heimatland zurückkehrten. 2017 drehte der Trend. Seither verlassen fast jedes Jahr mehr Portugiesen die Schweiz, als dazukommen. Die Eidgenossenschaft hat bei den Portugiesen an Attraktivität verloren – auch weil ihr Heimatland Auswanderer mit Steueranreizen zurücklockt.

Kurzaufenthalter gleichen Spitzen im Tourismus aus

Das starke Beschäftigungswachstum und die Konjunkturabhängigkeit der Zuwanderung sind Gründe, warum sich kaum eine Verdrängung von inländischen Arbeitskräften durch Ausländer zeigt. Während die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland bald wieder auf drei Millionen steigen könnte, bleibt die Arbeitslosigkeit in der Schweiz tief.

Bemerkenswert ist, dass die Arbeitsmigration eigentlich noch höher ist, als die Ausländerstatistik des Staatssekretariates für Migration (SEM) signalisiert. Diese bezieht sich auf das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung. Nicht in diese Kategorie fallen die Kurzaufenthalter mit Aufenthaltsbewilligungen von weniger als einem Jahr. Sie arbeiten beispielsweise während der Sommer- oder der Wintersaison im Tourismus oder sind mit Temporärverträgen auf dem Bau, in der Industrie oder der Krankenpflege beschäftigt.

2023 kamen knapp 50 000 Kurzaufenthalter in die Schweiz. Diese «hochfrequente» Zuwanderung bleibt in der Regel unter dem Radar der Öffentlichkeit.

Erwerbslosenquote ist seit den 1990er Jahren gestiegen

Ein genauer Blick auf die Zahlen zeigt allerdings, dass die Erwerbslosenquote heute strukturell höher ist als noch in den 1990er Jahren. Man könnte deshalb vermuten, dass es doch eine gewisse Verdrängung von inländischen durch zugewanderte Arbeitskräfte gegeben hat.

Der Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler sagt allerdings, dass es hierfür keine wissenschaftlichen Beweise gebe, und nennt stattdessen andere Gründe für den Anstieg der Erwerbslosenquote. Einen Beitrag dürften die Digitalisierung und die Verlagerung von einfachen Stellen ins Ausland gespielt haben. Auch die Messung könnte eine Rolle spielen. Möglicherweise unterschätzt die Erwerbslosenquote in den 1990er Jahren die Arbeitslosigkeit, weil Ausländer bei den telefonischen Befragungen zur Arbeitssituation, aus denen die Arbeitslosigkeit ermittelt wird, unterrepräsentiert waren oder sich Frauen bei schlechter Arbeitsmarktlage einfach vom Arbeitsmarkt zurückzogen.

Ein weiterer Faktor könnten gemäss Siegenthaler Reformen bei der Invalidenversicherung sein. Im Sinne eines «Back-to-work»-Ansatzes wurden ab den 2000er Jahren weniger Vollrenten gesprochen. Damit beteiligen sich nun mehr Personen mit einer schwierigen Ausgangslage am Arbeitsmarkt, was die gemessene Arbeitslosigkeit erhöht.

Trotz Fachkräftemangel kaum Lohnerhöhungen

Eine andere Frage, die viele Arbeitnehmende umtreibt, ist die nach dem Lohnwachstum. Auffällig ist, dass die Löhne in der Schweiz in den letzten Jahren trotz starkem Arbeitskräftemangel nicht stärker gestiegen sind. Natürlich ärgert es hiesige Arbeitnehmende, wenn sie den Eindruck haben, dass ihr Gehalt nicht wachse, weil ihnen 450 Millionen Menschen aus der EU im Nacken sitzen, die potenziell froh um einen Job in der Schweiz wären und nicht nach einer Lohnerhöhung fragen würden.

«Die Firmen können auf Ausländer zurückgreifen, die mit den bestehenden Löhnen zufrieden sind», bestätigt Michael Siegenthaler. Im Aufschwung müssen die Unternehmen die Löhne deshalb nicht in dem Ausmass erhöhen, wie dies sonst wohl in einem geschlossenen Schweizer Arbeitsmarkt der Fall wäre. Umgekehrt, argumentiert Siegenthaler, entstehe in einem Abschwung allerdings auch weniger Lohndruck nach unten, da die zunehmende Arbeitslosigkeit durch eine geringere Nettozuwanderung quasi exportiert werde. Insgesamt ergebe sich so für die Schweiz eine Glättung, nicht aber eine Verlangsamung der Lohnentwicklung.

In eine ähnliche Richtung argumentiert Reto Föllmi. Kurzfristig, meint der Wirtschaftsprofessor aus St. Gallen, könne die Personenfreizügigkeit das Lohnwachstum zwar dämpfen. Langfristig, so ist er überzeugt, überwiege jedoch eine Positivspirale. Die Wirtschaft wachse stärker, es werde mehr investiert, was wieder mehr Arbeitsplätze schaffe. Das gemässigte Lohnwachstum habe zudem die Teuerung in der Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen Ländern im Zaum gehalten, was die Belastung der Konsumenten begrenzt habe.

Während das Lohnwachstum in der Schweiz zuletzt schwach war, lässt sich gemäss den Arbeitsmarktexperten wegen der Personenfreizügigkeit zumindest kein Lohndruck nach unten feststellen.

Auszuschliessen wäre das trotz den grundsätzlich nach unten starren Löhnen nicht gewesen. Klar zu beobachten war ein Lohndruck nach unten gemäss Michael Siegenthaler in Süddeutschland, als der Arbeitsmarkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1992 für tschechische Grenzgänger geöffnet wurde.

Für die Schweiz geht Siegenthaler hingegen davon aus, dass durch die Personenfreizügigkeit so viele zusätzliche Stellen geschaffen worden sind, dass auch die zusätzlichen Grenzgänger absorbiert wurden.

So hätten beispielsweise die Basler Pharmafirmen nach der Einführung der Personenfreizügigkeit wegen des guten Zugangs zu Arbeitskräften wertvolle Tätigkeiten in Forschung und Entwicklung nicht ins Ausland verlagert, sondern in der Schweiz erhalten. Dadurch hätten gerade die bereits länger beschäftigten Mitarbeiter zunehmend besser bezahlte Führungsfunktionen übernehmen können, was sogar einen positiven Effekt auf ihre Löhne gehabt habe.

Die Schweiz ist nicht der einzige Sehnsuchtsort

Unter dem Strich ist die Schweiz für Ausländer sicher attraktiv. Zuwanderung führt zu mehr Zuwanderung und wirkt daher in einem gewissen Mass selbstverstärkend. Unkontrolliert überrollt wird die Schweiz dennoch nicht, denn wer kommen will, braucht in der Regel einen Arbeitsvertrag – und über diesen wird in der Schweiz bestimmt. Im internationalen Kontext gilt zudem, dass die Schweiz nicht der einzige Sehnsuchtsort für Arbeitsame und Unzufriedene ist. Gemäss dem «Footloose»-Index, den der «Economist» unlängst veröffentlicht hat, sind Kanada, Australien und die USA die beliebtesten Einwanderungsländer für junge Hochschulabsolventen.

Die Schweiz rangiert erst auf dem sechsten Platz. Ein Grund dafür ist sicher, dass Englisch keine Landessprache ist und sich die Schweiz als kleines Land weniger auf dem Radar internationaler Talente befindet. Dennoch heisst dies auch: Selbst wenn die Grenzen komplett offen wären, würden Jobsuchende aus aller Welt ihre Zelte ausserhalb der Schweiz aufschlagen.

Von der Abwehr der Zuwanderung zum Erfolgsfaktor

Während die Diskussion in der Schweiz vor allem unter dem Vorzeichen geführt wird, wie sich die Zuwanderung begrenzen lässt, geht es in anderen Ländern zunehmend darum, Migration zu ermöglichen, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. In Deutschland beispielsweise scheiden bereits jetzt mehr Baby-Boomer aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere Arbeitskräfte nachrücken.

Deutschland diskutierte deshalb diesen Sommer darüber, einen Steuerrabatt für Ausländer einzuführen. Zudem versucht das Land aktiv, Fachkräfte aus Indien zu gewinnen, um den deutschen Technologiestandort zu stärken. Noch vielversprechender wäre es, wenn Deutschland die Rahmenbedingungen so verbessern würde, dass nicht die eigenen Leute abwandern – zum Beispiel in die Schweiz.

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