Die alte Weltordnung zerfällt, der Konflikt zwischen Ost und West hat begonnen. Aber auf neue Art. Warum gibt es wieder Krieg?, fragt Andreas Rödder in seinem neuen Buch. Und wie soll der Westen sich positionieren?
Hamlet hat Hochkonjunktur. Denn einmal mehr gerät die Zeit aus den Fugen. Von der vielbeschworenen Ära des Friedens ist mehr als drei Dekaden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kaum etwas übrig geblieben. Im Gegenteil, das Motto des grossen Siegels der Vereinigten Staaten von Amerika «Novus ordo seclorum» hat eine ganz neue Bedeutung bekommen – ob als Tragödie oder als Farce, werden die nächsten Monate zeigen.
Dabei sah es 1989/90 noch ganz anders aus. Ein neues Zeitalter schien angebrochen zu sein, in dem die Staatenwelt zur Weltgesellschaft wird. Die USA schickten sich an, von der Führungsmacht des Westens zur Führungsmacht der Welt aufzusteigen und die internationale Ordnung dauerhaft zu prägen.
Warum der Frieden verloren wurde und die Ordnung von 1990 gescheitert ist, steht im Mittelpunkt des jüngsten Buches von Andreas Rödder. Der Ordinarius für neueste Geschichte an der Universität Mainz lässt die letzten Jahrzehnte Revue passieren: vom Optimismus der 1990er Jahre über die nuller Jahre bis ins letzte Jahrzehnt, in dem strategische Überdehnung, neoimperiale Begehrlichkeiten und eine Kaskade von Krisen zum Signum einer neuen Epoche geworden sind. Eingerahmt ist die verdichtete Analyse durch grundsätzliche Überlegungen zur internationalen Ordnung.
Imperiale Vorstellungen
Die Politik der USA, so Rödders Fazit, «animierte Ambitionen zur Revision der internationalen Ordnung», aber sie «erzeugte sie nicht». Denn die «entscheidende Ursache ihres Scheiterns lag in einem Ordnungskonflikt zwischen liberalen und imperialen Vorstellungen, der bereits zu Beginn angelegt war».
Gestützt auf eine Mischung aus Destruktion und klassischer Gegenmachtbildung, ging Wladimir Putins Russland seit 2007 zu einer Politik der Systemänderung über, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der Annexion der Krim im März 2014 und schliesslich im Angriffskrieg gegen die Ukraine fand. Verankert in dem Anspruch, Grossmacht unter Grossmächten zu sein, wurde das russische Streben nach Einfluss zur rücksichtslosen Herrschaftssicherung.
Und doch ist Putins Unsicherheit als Faktor im Umgang mit dem Westen nicht zu übersehen. Gerade deshalb ist Andreas Rödders Hinweis wichtig, dass der Westen auf ein moderierendes Ordnungsmanagement verzichtet habe. Eine Regelung, welche «die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung zwischen den Staaten betrieb[en], aber auf die Verbreitung der liberalen Ordnung in anderen Ländern verzichtet» hätte. Der grundlegende Konflikt, das räumt Rödder ein, hätte damit nicht ausgeräumt werden können.
Ein neues bipolares Zeitalter?
Heute dreht sich die Eskalationsspirale immer weiter. Das erratische Verhalten, die ungezügelte Rhetorik und eine gegenüber Freund und Feind auf Einschüchterung und Fügsamkeit abzielende Politik des US-Präsidenten ziehen für Rödder den Verlust von Autorität und Glaubwürdigkeit nach sich, was Einfluss und Machtstellung der USA langfristig unterminieren wird.
Aber was heisst das für die Ordnung der Welt? Für das weltpolitische Machtspiel ohne Schiedsrichter hat Carlo Masala den Begriff «Weltunordnung» geprägt. Die liberalen Fundamente erodieren, disruptive Tendenzen nehmen zu, konträre Ordnungsprinzipien ringen miteinander. Anders als Herfried Münkler, der ein neues System regionaler Einflusszonen heraufziehen sieht, spricht Andreas Rödder von einem neuen «Konflikt zwischen einem herausgeforderten globalen Westen und einem neu formierten, revisionistischen globalen Osten».
Ist die Zukunft also Geschichte, wie die Journalistin Masha Gessen einmal festgestellt hat? Mit den Herausforderungen der Weltpolitik im 21. Jahrhundert hat die wirkmächtige Analogie kaum etwas gemein. Kein einziges Strukturmerkmal des Ost-West-Konflikts hat heute noch Bestand. Das heisst freilich nicht, dass das Vergangene tot ist. Denn Mentalitäten erweisen sich auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs als Gefängnisse von langer Dauer und historische Analogien als Zufluchtsort von zweifelhafter Reputation.
Weltpolitische Abenteuer
Zum einen bröselt das Fundament des «normativen Projekts des Westens». Und das nicht erst seit gestern. In ihrem unberechenbaren, wenig vertrauensfördernden Verhalten werden die USA für Rödder zur revisionistischen Macht, die sich von den Grundlagen der liberalen Weltordnung verabschiedet. Das sollten, so Rödder, auch die erkennen, die ihren «Glauben an die Zukunft des Westens» wie eine Monstranz vor sich hertragen, ohne die Veränderungen des internationalen Systems zur Kenntnis zu nehmen.
Zum anderen eint Russland und China zwar die Ablehnung der liberalen internationalen Ordnung. Ritualisierte Bekenntnisse kaschieren indes ihre historisch verwurzelte Rivalität. Die Ablehnung der amerikanisch dominierten Ordnung überdeckt den Mangel an Gemeinsamkeiten. Gerade deshalb, findet Rödder, sollte sich das aufgescheuchte Europa nicht am Rockzipfel der USA in ein weltpolitisches Abenteuer gegen eine vermeintliche «Achse der Autokraten» stürzen.
Wenn es richtig ist, dass strategische Zurückhaltung Legitimität und Legitimität Autorität schafft, dann ist Andreas Rödders abschliessendes Plädoyer für eine wertebasierte Realpolitik in einer sich neu formierenden Weltordnung ein kluger gedanklicher Ausgangspunkt, auf den sich auch eine «aussenpolitisch unerzogene Nation» wie Deutschland (Max Weber) einlassen sollte.
Andreas Rödder: Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 250 S., Fr. 39.90.