Anlageexperten empfehlen, beim Investieren in Europa auf ausgewählte Einzelunternehmen statt auf den Index zu setzen. Diese Titel sollten Anleger im Blick behalten.
Wer als Anleger sprudelnde Renditen in Europa finden will, muss bei der Suche in der Tiefe graben. Denn das Wirtschaftswachstum in der Region stockt: Gemäss Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IMF) dürften die Volkswirtschaften der Euro-Zone 2024 gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,9 Prozent zunehmen. Verglichen dazu wird in den Vereinigten Staaten ein Wachstum von 2,1 Prozent vorhergesagt. Der alte Kontinent wird zunehmend abgehängt.
Dieser Eindruck übertrage sich auch auf die Börse, findet Jörn Spillmann, Aktienstratege bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB): «Die Konjunkturaussichten trüben die Lust der Anleger, in europäische Aktien zu investieren.»
2023 sei zwar durchaus ein erfolgreiches Börsenjahr für Europa gewesen. Trotz Rezessionsängsten erklomm etwa der deutsche Leitindex DAX ein neues Allzeithoch und verteuerte sich im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent. «Das hat aber mehr mit einer globalen Aufbruchstimmung als mit positiven Impulsen aus Europa zu tun: Die Wachstumstreiber waren Unternehmen, die ohnehin global vernetzt sind», sagt Spillmann.
Kaum Wachstumsperlen in Europa
Über einen längeren Horizont betrachtet wird die schleppende Entwicklung der europäischen Aktienmärkte deutlich: Kumuliert hat der amerikanische S&P 500 seit der Finanzkrise rund viermal mehr Rendite abgeworfen, als es im gleichen Zeitraum der Euro-Stoxx 50 tat. Getrieben wurde diese Entwicklung von den Schwergewichten des US-Index: Grosse Tech-Unternehmen wie Apple, Microsoft oder Amazon haben dem S&P 500 zum Höhenflug verholfen.
In Europa sind solche Wachstumsperlen dagegen selten. Der niederländische Konzern ASML, der Maschinen für die Herstellung von Mikrochips produziert, ist einer der wenigen europäischen Nutzniesser des Booms um die künstliche Intelligenz (KI): Der Marktwert des Unternehmens hat sich in den letzten fünf Jahren vervierfacht.
Ein weiterer europäischer Wachstumstitel steht schon seit längerem in den Schlagzeilen: Der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk kaufte drei Fabriken der US-Firma Catalent, um die Produktion seiner Abnehmspritzen weiter voranzutreiben. Mit einer Marktkapitalisierung von umgerechnet rund 450 Milliarden Franken ist Novo Nordisk das wertvollste Unternehmen Europas.
Doch vereinzelte Erfolgsgeschichten machten aus dem Kontinent noch keine Innovationshochburg, sagt Stefan Legge, Professor für Makroökonomie an der Universität St. Gallen. In den letzten knapp 15 Jahren seien einige Dinge zusammengekommen, die das schwache Wachstum erklärten: die Euro-Krise, der Brexit, die Pandemie und der Energiepreisschock im Anschluss an den Krieg in der Ukraine.
Auch die Politik treffe eine Teilschuld: «Viele europäische Politiker haben ihren Fokus auf dem Regulieren statt auf dem Entwickeln», kritisiert Legge.
Zwar sei das Schlimmste überwunden, und auch die europäische Wirtschaft komme langsam, aber sicher wieder ins Rollen, sagt Jörn Spillmann von der ZKB. «Andere Regionen dürften sich aber rascher erholen als Europa.» Vom Investieren in einen europäischen Index würde er deswegen abraten – anderswo böten sich mit einem solchen Anlageansatz höhere Renditechancen, etwa in den USA.
Die Chancen liegen bei Einzeltiteln
Die makroökonomische Schwäche Europas lasse sich nicht kleinreden, sagt auch Markus Hansen, Portfoliomanager und Analytiker bei Vontobel. Gleichzeitig biete sich darin eine Chance: Im Vergleich zu amerikanischen Titeln sind europäische Aktien niedriger bewertet. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) einer durchschnittlichen S&P-500-Aktie liegt derzeit bei über 30. Für den Euro-Stoxx 50 liegt das Verhältnis bei knapp 13.
Beim Investieren in europäische Aktien sei eine sorgfältige Titelauswahl wichtig, sagt Hansen: «Bei genauer Betrachtung findet man im europäischen Markt durchaus Unternehmen, die attraktive Renditemöglichkeiten bieten.» Er unterstreicht etwa das Potenzial von Luxusgüteranbietern wie LVMH oder Hermès: «Solche Firmen sind nicht allzu stark an die europäische Konjunkturlage gebunden, denn ihre Wachstumsmärkte befinden sich anderswo.»
Im wachstumsstarken Technologiesektor hebt der Vontobel-Analytiker zwei Beispiele hervor, die sich für Anleger als lohnend herausstellen könnten. Beide hätten eine Nische gefunden, in welcher sie weltweit führend seien, sagt Hansen.
Erstens ist dies die britische Relx-Gruppe, ein Anbieter von Online-Datenbanken und digitalen Analysewerkzeugen mit gezieltem Fokus auf Fachgebiete wie Recht oder Wissenschaftsbetrieb. Ihre Aktie ist an der London Stock Exchange notiert und hat seit Jahresbeginn über 6 Prozent gewonnen.
Zweitens findet Hansen die Aktie von Wolters Kluwer interessant, einem Dienstleister für Softwarelösungen im Gesundheitsbereich, in der Buchhaltung und im Steuerrecht. Der Titel ist seit Jahresbeginn beinahe 9 Prozent im Plus.
Wirtschaftspolitik in der Pflicht
Ob die Euro-Zone langfristig wieder erstarkt, ist ungewiss. Der HSG-Ökonom Stefan Legge sieht erschwerte Rahmenbedingungen auf Europa zukommen, allen voran mit Blick auf die demografische Entwicklung des Kontinents: «Wenn ein zunehmender Anteil der Bevölkerung nicht mehr erwerbstätig ist, muss Wirtschaftswachstum über Produktivitätsgewinne durch Innovation erfolgen.»
Das bedeutet für Legge, dass Europa für Investoren wieder attraktiver werden müsse. «Die Politiker sind in der Pflicht, die Grundvoraussetzung für eine florierende Wirtschaft zu schaffen», sagt Legge. Europa besitze eine Wohlstandsbasis, die einen solchen Wandel ermögliche – nun gelte es, die Ressourcen für die richtigen Massnahmen einzusetzen.
Auch Markus Hansen und Jörn Spillmann betonen die entscheidende Rolle der Wirtschaftspolitik: Sie könne die Rahmenbedingungen für eine bessere Leistung des europäischen Aktienmarkts schaffen. In ihrer Zuversicht unterscheiden sich die beiden Anlageprofis allerdings.
Der Vontobel-Analytiker Hansen weist darauf hin, dass europäische Regierungen schon in der Vergangenheit Wege gefunden hätten, das Wachstum entgegen den Erwartungen mancher Kritiker wieder anzukurbeln.
In der derzeitigen Lage hofft er auf Mario Draghi: Der ehemalige Ministerpräsident Italiens arbeitet seit Herbst an einem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents im Auftrag der EU-Kommission. In dieser Funktion steht Draghi im Austausch mit Wirtschaftsvertretern – die Hoffnung, dass ihre Anliegen Gehör fänden, sei daher gross. Der Bericht soll noch vor Juni veröffentlicht werden. «Draghis Vorschläge könnten im Sommer neuen Optimismus unter den Anlegern entfachen», sagt Hansen.
Jörn Spillmann von der ZKB ist skeptischer: «Es kann sein, dass Draghi gute Ideen einbringt. Aber ob diese dann auch umgesetzt werden, ist eine andere Frage.» Die Euro-Zone ist politisch stark fragmentiert – er halte es für unwahrscheinlich, dass ein grosser Wurf gelinge.