Zum zweiten Mal innert kürzester Zeit haben die europäischen Staats- und Regierungschefs über die Ukraine gesprochen. Was kann Europa tun, um von den Grossmächten ernst genommen zu werden?
Um ein Gefühl für die Dringlichkeit der Materie zu bekommen, reicht ein Blick auf die Agenda: Nur zwei Wochen ist es her, dass der letzte EU-Gipfel stattfand. Hauptthema damals: Verteidigung und Ukraine. An diesem Donnerstag reisten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder schon wieder nach Brüssel. Hauptthema dieses Mal: Verteidigung und Ukraine.
Dabei war ursprünglich vorgesehen, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum der Diskussionen zu rücken. Doch die ungewissen Zukunftsperspektiven des Ukraine-Kriegs, die ohne europäische Beteiligung stattfindenden Gespräche zwischen Washington, Moskau und Kiew und die Sorge, dass die USA ihren Schutzschirm über Europa zuklappen könnten, machen den sicherheitspolitischen Redebedarf gross.
Kurz: Europa muss angesichts der geopolitischen Unwägbarkeiten und der stärker wahrgenommenen Bedrohung durch Russland so schnell wie möglich aufrüsten. Zum ersten Mal haben die Spitzenpolitiker der EU in der Gipfel-Abschlusserklärung dafür einen Zeithorizont genannt: fünf Jahre. Bis 2030 also will sich Europa selbst verteidigen können.
Europäische Rüstungsgüter
Wie das gehen soll, skizzierte die EU-Kommission am Mittwoch. Die Verteidigung bleibt weiterhin eine nationalstaatliche Angelegenheit – daran wird sich in absehbarer Zukunft nichts ändern. Die Europäische Union will die Mitgliedstaaten aber dabei unterstützen, ihre Streitkräfte zu modernisieren und dabei so koordiniert wie möglich vorzugehen. Bedarf besteht dabei an ziemlich allem, was eine Armee ausmacht: Artillerie, Kampfflugzeuge, Flugabwehr, Transportkapazitäten, Drohnen, Munition – nur gerade (neue) Atomwaffen stehen nicht zur Debatte.
Mit Krediten und dank fiskalpolitischen Lockerungen sollen insgesamt bis zu 800 Milliarden Euro mobilisiert werden: 150 Milliarden will die EU – zu günstigeren Konditionen, als es die meisten Mitgliedstaaten können – an den Kapitalmärkten aufnehmen und an die Regierungen weitergeben. Um die Vielfalt der Waffensysteme zu reduzieren, müssen sich bei der Beschaffung mindestens zwei Länder zusammentun.
Zudem sollen die Rüstungsgüter grösstenteils aus europäischer Produktion stammen – oder aber aus Ländern, mit denen eine Sicherheitspartnerschaft besteht. Die USA gehören nicht dazu. Mit Grossbritannien, das irritiert auf die Klausel reagierte, soll verhandelt werden: Am 19. Mai findet ein Gipfeltreffen mit britischer Beteiligung statt. Für die «Buy European»-Klausel hatte sich im Vorfeld vor allem Frankreich eingesetzt.
Eurobonds kein Thema
Um bis zu 650 weitere Milliarden sollen sich die Mitgliedstaaten selbst verschulden dürfen, ohne damit die europäischen Schuldenregeln zu verletzen. Gemäss Mitarbeitern der Kommission handelt es sich bei dem Betrag allerdings erst um eine grobe Schätzung.
Die Staats- und Regierungschefs hielten ausdrücklich fest, dass die Vorschläge der Kommission zügig umzusetzen seien. Von sogenannten Eurobonds – also gemeinsamen Schulden wie erstmals während der Covid-Pandemie aufgenommen – ist im Entwurf der Abschlusserklärung keine Rede. Bislang weibeln osteuropäische Staaten, welche die russische Gefahr direkter spüren, und südeuropäische Länder, die aufgrund ihrer hohen Haushaltsdefizite die Verteidigungsausgaben vergemeinschaften möchten, vergeblich für dieses Finanzierungsinstrument.
Der grösste Widerstand kommt von Deutschland, den Niederlanden und Österreich. Aber hat ihre Position Bestand, wenn sich die Lage in der Ukraine weiter verschlechtern sollte? Aus den Reihen der Kommission ist zu hören, dass man sich vorderhand auf die realistischen Optionen konzentrieren wolle, mittelfristig aber nichts ausgeschlossen sei.
Jedenfalls hat der EU-Gipfel schonungslos aufgezeigt, dass die Dringlichkeit zur Aufrüstung nicht überall gleich stark wahrgenommen wird. So sagte etwa der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, die Länder im Süden hätten es eben mit «ein bisschen anderen Herausforderungen» zu tun als jene an der Ostflanke. Er nannte schärfere Grenzkontrollen infolge von Migration oder den Kampf gegen den Terrorismus.
«Keine echten Verhandlungen»
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski war dieses Mal nicht nach Brüssel gereist. Er sprach mit den Staats- und Regierungschefs per Videoschaltung über die Diskussionen zwischen den USA und Russland zu einem möglichen Waffenstillstand. Gemäss EU-Diplomaten ist die Meinung weit verbreitet, dass derzeit keine echten Verhandlungen stattfinden.
Einzelne Länder brachten den Vorschlag ein, einen Sondergesandten für die Ukraine zu ernennen – doch dazu besteht keine gemeinsame Position. Aus inhaltlichen und methodischen Gründen gescheitert ist auch der Plan der EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas, der Ukraine zusätzliche Rüstungsgüter in der Höhe von 40 Milliarden Euro bereitzustellen. Die Rede ist nun noch von 5 Milliarden Euro, die allerdings noch nicht beschlossen sind.
Schliesslich sind sich die EU-Staaten uneins in der Frage, ob der Beitrittsprozess des kriegsgebeutelten Landes beschleunigt werden soll. Am vehementesten, wenn auch nicht alleine, wehrt sich Ungarn dagegen. Ohnehin stellt sich die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban systematisch gegen die Ukraine-Politik der EU: Als einziger der 27 Mitgliedstaaten unterzeichnete es die gemeinsame Erklärung nicht – genau wie vor zwei Wochen.