Donnerstag, Oktober 3

Die gegenwärtigen Marktbedingungen erinnern an die weiche Landung, die auf den «Fed Pivot» von Alan Greenspan folgte. Eine Vielzahl von Gründen stimmt derzeit optimistisch.

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Im vergangenen Jahr überraschten die europäischen Aktienmärkte viele Beobachter. Sie hatten sich von den Makroindikatoren abgekoppelt und stiegen auf breiter Front weiter, obwohl die Erwartungen an Zinssenkungen der Zentralbanken deutlich zurückgeschraubt wurden. Die Konjunkturzyklen haben jüngst kein vergleichbares Muster geboten, aber wenn wir fast drei Jahrzehnte zurückblicken, finden wir einen Zyklus, der frappierende Ähnlichkeiten mit der aktuellen Situation aufweist.

Im Jahr 1995, nach einer Phase steigender Zinssätze, leitete der damalige Fed-Vorsitzende Alan Greenspan eine geldpolitische Wende ein, indem er verkündete, «das Fed wird wahrscheinlich in der Lage sein, den Preisanstieg ohne grosse Schwierigkeiten einzudämmen». Monate nach diesem «Fed Pivot» stieg auch die Deutsche Bundesbank, damals Trendsetter unter den europäischen Zentralbanken, von Zinserhöhungen auf künftige Zinssenkungen um. Die europäischen Aktien befanden sich bereits im Aufwind und folgten den US-Aktien nach oben. Die nachfolgende Periode sollte später auch aus akademischer Sicht als «perfekte weiche Landung» bezeichnet werden, wie sie nicht vorhergesehen worden war.

Wichtiger Wegweiser

Das Drehbuch von 1995 mit dem Fed Pivot und der weichen Landung kann heute als wichtiger Wegweiser für steigende europäische Aktienmärkte dienen. Sicher, das Wirtschaftswachstum in Europa ist im Vergleich zu den USA schwach, aber das war auch Mitte der 1990er Jahre der Fall. Deutschland und Italien verzeichneten kurz nach dem Pivot ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts nahe Null.

Ähnlich waren damals auch andere Aspekte, wie die technologische Innovation, relativ angespannte Arbeitsmärkte und eine US-Inflation auf vergleichbarem Niveau wie heute, sowie gemischte, aber insgesamt positive Wirtschaftsdaten. Da die Arbeitsmarkt- und Inflationsdaten Mitte der 1990er Jahre durchwegs besser ausfielen als erwartet, senkte das Fed die Zinsen später und langsamer als von den Anlegern ursprünglich vorhergesehen.

Wie wir in einem kürzlich erschienenen Bericht argumentiert haben, werden die Bewertungen europäischer Aktien derzeit in ähnlicher Weise wie 1995 in die Höhe getrieben. Die Hoffnung auf künftige Zinssenkungen, sich verbessernde Wirtschaftsdaten und eine allgemeine Verbesserung Stimmung bei den Unternehmen beflügeln die Märkte.

Das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis des MSCI Europe ist von knapp 12 beim Tief im Oktober 2023 auf heute etwa 13,5 gestiegen. Ende 1995 hatten sich die Aktienbewertungen des MSCI Europe verfünfzehnfacht und stiegen danach weiter, obwohl das Fed in jenem ersten Jahr nach dem Pivot nur zwei Zinssenkungen vornahm. Ähnlich wie 1995 ist auch das Gesamtvolumen der Fusionen und Übernahmen in Europa im Jahresvergleich gegenüber den Zyklustiefs stark gestiegen. Selbst der derzeitige taktische Pull-back bei europäischen Aktien fällt fast genau mit einer Delle zusammen, die 1995 in dieser Phase der Rally zu beobachten war.

Gewinnrevisionen starten Erholung

Derweil stehen die europäischen Gewinnrevisionen am Anfang einer Erholung von den Tiefstständen. Unser Modell mit makroökonomischen Frühindikatorren und Bottom-up-Indikatoren deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklung in der laufenden Berichtssaison und im Verlauf von 2024 fortsetzen wird. Unsere Frühindikatoren deuten auf ein Gewinnwachstum von 8% bis zum Jahresende hin, was doppelt so hoch ist wie die Konsenserwartung der Analysten. Dies ist eine positive Abweichung gegenüber dem Drehbuch des Jahres 1995, als die europäischen Aktienindizes inmitten negativer Gewinnrevisionen ein ganzes Jahr lang weiter stiegen.

Es gibt noch weitere Gründe, die für europäische Aktien optimistisch stimmen, sogar über die Hausse von 1995 hinaus. Unsere Analyse der Gewinndaten und Ergebnispräsentationen aus den vergangenen zwanzig Jahren zeigt, dass europäische Unternehmen von einer Reihe positiver Themen profitieren. Dazu gehören Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz, Kapitalausschüttungen, einschliesslich Aktienrückkäufe und Dividenden, sowie Margendisziplin, wobei viele Unternehmen in der Lage sind, Margen- und Preisgewinne, die sie während der Covid-Phase erzielt haben, weitgehend zu halten, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch Fusionen und Übernahmen werden in europäischen Führungsetagen immer häufiger diskutiert.

Erwähnungen, dass es erste Anzeichen einer Erholung gibt, nehmen derzeit in einem Ausmass zu, das vergleichbar ist mit dem rasanten Tempo im Jahr 2009. Dagegen fallen in unseren Gesprächen mit Unternehmen Begriffe wie «wirtschaftliche Unsicherheit» und «Energiekosten» viel seltener. Dabei ist zu beachten, dass europäische Aktien nicht mit der europäischen Wirtschaft gleichzusetzen sind.

Globale Champions geben Ton an

Mehr als 60% der nach Marktkapitalisierung gewichteten Erträge des MSCI Europe Index stammen aus Regionen ausserhalb Europas, insbesondere aus den USA (25%). Viel von Europas jüngster Stärke geht auf die globalen Champions mit hoher Marktkapitalisierung zurück, und wir erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt. So haben beispielsweise Novo Nordisk, ASML und SAP in Dollar gerechnet rund 60% zum diesjährigen Anstieg des MSCI Europe beigetragen.

Was also könnte in diesem «Goldilocks»-Szenario schief gehen? Ein Bereich, den wir vor kurzem analysiert haben, ist die Anfälligkeit Europas für mögliche politische Veränderungen in den USA im Falle eines Wahlsiegs der Republikaner. Wir haben jedoch festgestellt, dass damit sehr spezifische Risiken verbunden sind, die sich auf ausgewählte Aktien beschränken und nicht breit gestreut sind.

Der Vergleich mit 1995 war bisher ein guter Anhaltspunkt, allerdings gab es in den Jahren 1995 und 1996 keine bedeutenden exogenen Schocks. Sollte ein unerwartetes, wesentliches Risikoereignis eintreten, oder sollten mehrere Risiken eskalieren, könnte dies den Kurs des Bullenmarktes verändern. Vorerst erwarten wir jedoch, dass europäische Aktien ihren Höhenflug fortsetzen werden, als wäre es 1995.

Dieser Artikel wurde zuerst in der «Financial Times» veröffentlicht.

Marina Zavolock

Marina Zavolock ist Managing Director im Bereich Equity Research und Chief European Equity Strategist bei Morgan Stanley. Sie und ihr Team haben Anfang 2024 einen neuen Ansatz für die europäische Aktienstrategie eingeführt. Davor leitete Marina Zavolock bei Morgan Stanley den Bereich Equity Strategy and Research für Emerging Europe, Middle East and Africa, wobei sie und ihr Team im Ranking von Institutional Investor auf dem ersten Platz figurierten. Sie stiess 2007 zu Morgan Stanley und hat in einer Kombination aus Research- und Sales-Rollen in London, New York und Moskau gearbeitet. Sie hat einen BA der University of Notre Dame in Indiana absolviert und stammt ursprünglich aus der Ukraine.

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