Montag, November 25

Die Börse belohnt die ausserordentlich hohe Rentabilität von Medtech-Unternehmen mit einer Bewertungsprämie. Derzeit ist sie eher gering. Nicht nur Schweizer Unternehmen sind attraktiv.

Innovativ, rentabel, strukturell wachsend: Die Medizintechnikbranche gehört zu den attraktivsten Industrien. Im vergangenen Jahr entfielen über 15’900 oder 8% aller Patentanträge in Europa auf die Medizintechnik, lediglich im Bereich digitale Kommunikation (8,9%) gab es mehr Anmeldungen. Entsprechend aussichtsreich sind Engagements in Medtech-Aktien.

Doch die Branche hat einige Besonderheiten, und sie steht zurzeit vor Herausforderungen, die Investoren beachten sollten.

Eine KMU-Branche

Zum einen ist die Medtech-Branche von viele kleinen und mittelgrossen Unternehmen (KMU) geprägt. Von den mehr als 37’000 europäischen Firmen sind 90% KMU, die meisten beschäftigen weniger als fünfzig Mitarbeitende (Schweiz: 67%). Andererseits begünstigt die zunehmend strenge Regulierung (EU-Medizinprodukteregulierung MDR/IVDR) grosse Unternehmen. Nur sie haben ausreichend Mittel und Kapazitäten für die Bewältigung der gestiegenen gesetzlichen Anforderungen.

Für Sandra Dietschy, Medtech-Analystin von Octavian ist klar: «Die Grossen profitieren von einer strengeren Regulierung.» Höhere Hürden erschweren neuen Anbietern den Markteintritt. «Prinzipiell ist Regulierung indes nie gut für die Innovationskraft der Unternehmen, da sie Ressourcen bindet», ergänzt Dietschy. Und sie verursacht Kosten: «Die Bürokratie hat massiv zugenommen, die Kosten für die Firmen sind gestiegen, was die Rentabilität belastet», sagt Oliver Metzger, Medtech-Analyst von Oddo-BHF.

Weil in dieser Industrie nationale Richtlinien noch immer wichtig sind, blieb sie in vielen Ländern bedeutend. Daran hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Den grössten Einfluss hatte der Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Einige britische Medtech-Firmen verlagerten in der Folge ihren Sitz auf den Kontinent. Standorte in den Niederlanden und in Italien profitierten davon.

Übergangsjahr 2024

Europa ist hinter den USA (Anteil 47,2%) der weltweit zweitgrösste Medtech-Markt. Im vergangenen Jahr wurden rund 160 Mrd. € umgesetzt, mehr als ein Viertel des Weltmarkts. Mit einem Plus von lediglich 2,4% war der Umsatzzuwachs indes so gering wie schon lange nicht mehr. In der vergangenen zehn Jahren wuchs der europäische Markt im Schnitt 5,4%.

Die Kunden hätten während der Pandemie zu viele Produkte bestellt und Lager aufgebaut, erklärt Oddo-BHF-Analyst Metzger. Wegen der gestiegenen Finanzierungskosten sei das sehr teuer geworden. Mittlerweile habe sich der Lagerbestand nicht nur normalisiert, sondern befinde sich sogar unter dem Vor-Covid-Niveau, «weshalb 2024 ein Übergangsjahr werden könnte», sagt Metzger.

Ein ähnliches Muster zeigt sich in der Schweiz: Gemäss der vergangene Woche vorgestellten Übersicht des Branchenverbands Swiss Medtech hat der Umsatz der in der Schweiz domizilierten Medtech-Unternehmen 2023 nur 4,8% auf 23,4 Mrd. Fr. zugelegt; ein für diese Branche unüblich schwaches Wachstum. Im vergangenen Jahrzehnt lag es im Schnitt bei jährlich 6,3%.

Doch bessere Zeiten künden sich an, 2023 scheint der Tiefpunkt durchschritten worden zu sein. Für das laufende Jahr rechnen die Schweizer Medtech-Manager mit einem durchschnittlichen Umsatzwachstum von 7% und für 2025 sogar von 9,5%. Wie immer sind die Erwartungen der kleineren Unternehmen klar höher als die der grossen. Der Kater nach der Pandemie, die vielen Medtech-Unternehmen eine Sonderkonjunktur eingebracht hatte, ist überstanden. Die Chancen stehen gut, dass die Branche den Erfolg fortsetzt.

Regelmässig besser als der Gesamtmarkt

Zeichen der Stabilisierung und Erholung sind auch an der Börse auszumachen. Gesamthaft haben sich Medtech-Aktien jüngst gut geschlagen. Seit Anfang Jahr hat der EU-Healthcare-Index rund 18% zugelegt und den Vergleichsindex Europe 50 (+8%) deutlich hinter sich gelassen. Auch über einen dreijährigen Zeitraum haben die Healthcare-Valoren mit +26% den breiten Markt (+24%) knapp geschlagen.

Die überdurchschnittliche Rentabilität der Medtech-Unternehmen belohnt die Börse in der Regel mit einer Bewertungsprämie. Für Oddo-BHF-Analyst Metzger ist das mehr als gerechtfertigt. Zum einen seien die Medtech-Firmen meist in lukrativen Nischen unterwegs, in denen die Rückvergütung der Kosten eine geringere Bedeutung spielen würde. Und zum anderen führe die Überalterung der Bevölkerung zu einem strukturell wachsenden Markt, der wenig konjunkturabhängig sei, sagt er.

Trotzdem sind europäische Medtech-Aktien im historischen Vergleich nicht überbewertet, im Gegenteil. Laut Berechnungen der UBS, die den Branchenindex Stoxx Europe 600 Healthcare dem Marktindex Stoxx Europe 600 gegenüberstellt, werden sie derzeit «nur» noch mit einer Prämie von 32% gehandelt. Seit 2017 hat der Zuschlag im Mittel bei 65% gelegen.

Nur noch teuer, nicht mehr sehr teuer

Diese Bewertungsrevision lässt sich auch im inländischen Medtech-Segment beobachten. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der fünf grössten Schweizer Medtech-Unternehmen haben sich gegenüber den vor einigen Jahren markierten Höchstwerten deutlich verringert. Extrem war die Korrektur beim Basler Zahnimplantathersteller Straumann, sein KGV halbierte sie. Ähnlich erging es dem Laborausrüster Tecan. Doch auch die Aktien der anderen drei verkehren derzeit rund 50% unter dem während der Pandemie verzeichneten Höchstwert.

Doch der Pandemie allein kann die Verzerrung nicht angelastet werden. Analystin Dietschy erklärt sich die sehr hohen Bewertungen der vergangenen Jahre in erster Linie mit der Nullzinsphase, in der Wachstumswerte favorisiert wurden und die KGV in die Höhe schossen. Dietschy geht davon aus, dass die Aktien der Medtech-Unternehmen auch künftig in den Genuss einer überdurchschnittlichen Bewertung kommen, «weil es eine Branche mit starkem Umsatzwachstum sowie attraktiven Margen ist, die zudem einen hohen freien Cashflow erwirtschaftet», zählte sie die Vorteile auf.

Die für 2024 – trotz Gegenwind – in Aussicht gestellten, hohen Ebitda-Margen (vgl. Tabelle) belegen, dass Medtech-Firmen sogar in schwächeren Phasen ausserordentlich rentabel wirtschaften.

Risiko China wird zur Chance

Ausser den Auswirkungen der 2021 eingeführten, strengeren Regulierung in Europa sowie die derzeit allgemein eher schleppende Nachfrage treibt die Medtech-Firmen vor allem das Thema China um. Im Gegensatz zu anderen Industrien spielt der Markt bei Medtech mit einem Anteil von 6,5% eine eher untergeordnete Rolle. Bis vor kurzem war er für westliche Unternehmen aber ein Garant für Wachstum. Mit der konjunkturellen Schwäche in China fällt dieser Sondereffekt weg.

Am stärksten davon tangiert sind die beiden deutschen Medtech-Konzerne Siemens Healthineers (Umsatzanteil 15%) sowie Carl Zeiss Meditec, die rund ein Viertel der Einnahmen in China erwirtschaftet. Diese Abhängigkeit von China erklärt die enttäuschende Kursentwicklung der beiden Valoren.

Probleme bereiten den Firmen zwei Ereignisse: Die vor rund einem Jahr von den Behörden beschlossene Kampagne, stärker gegen die Korruption im Gesundheitswesen vorzugehen, hatte die teuren Produkte im Visier, was zwangsläufig westliche Firmen traf. Der Zugang zu chinesischen Spitälern wurde schwieriger. Dieser Effekt dürfte aber nur temporär sein.

Für grössere Aufregung unter den westlichen Firmen sorgte in China die Umstellung auf ein mengenbasiertes Beschaffungswesen. Anfänglich führte das zu grossen Preisnachlässen, die die Firmen gewähren mussten, um in China bei staatlichen Ausschreibungen weiterhin berücksichtigt zu werden. Bei Gefässstützen (Stents), Gelenkprothesen und Kathetern fielen die Preise um 80 bis 90%. Auch für Herzschrittmacher und Intraokularlinsen konnte oft nur noch halb so viel gelöst werden.

Nach Ansicht von Octavian-Analystin Dietschy hat das veränderte Einkaufsverhalten auch sein Gutes. Es habe sich sogar als «eine riesige Opportunität» entpuppt, weil tiefere Preise gewisse Produkte für neue Käufergruppen erst erschwinglich gemacht haben. Die Preisrückgänge hätten ein starkes Volumenwachstum ausgelöst, meint Dietschy. Das sieht auch Oddo-BHF-Analyst Metzger so. «Je spezialisierter das Angebot eines Unternehmens in einer Nische ist, desto geringer ist das Risiko, durch die negativen Effekte eines volumenbasierten Einkaufs betroffen zu sein», stellt er fest.

Neue Spielregeln in China

Zudem will China seine lokale Medtech-Industrie mit der Initiative «Made in China 2025» fördern. Ab nächstem Jahr sollen die Spitäler 70% der Medtech-Produkte lokal einkaufen, lautet das Ziel der Regierung. 2030 sollen es sogar 95% sein.

Ein Profiteur davon scheint Straumann 📈zu sein. «China gehört für das Unternehmen mittlerweile zu seinen Top-drei-Märkten», sagt Dietschy. Sie geht davon aus, dass der Basler Zahnimplantathersteller dort fast 15% seiner Einnahmen erwirtschaftet. Er sei der einzige Premiumhersteller in China, der die Produktionskapazitäten lokal stark ausbaut. Die Analystin ist überzeugt, dass Straumann bereit sein werde, falls in China Medtech-Produkte nur noch aus lokaler Produktion verkauft werden können.

Im Gegensatz zu Dietschy, die für Straumann eine Halteempfehlung führt, sind sie für Oddo-BHF-Analyst Metzger ein Kauf. Bei Zahnimplantaten, «einem nachhaltig wachsenden Markt», sei das Unternehmen die klare Nummer eins. Die hohe Bewertung schreckt ihn nicht ab. «Qualitätsaktien wie Straumann sind immer teuer.»

Octavian-Analystin Dietschy empfiehlt unter den Schweizer Valoren Sonova, Medartis, Kuros Biosciences und Alcon zum Kauf. Ihr Favorit ist Alcon📈. Das Unternehmen sei sehr gut positioniert und verfüge über eine attraktive Pipeline. Die ehemalige Novartis-Tochter profitiere von der veränderten Einkaufspolitik in China. «Operationen gegen den grauen Star mit Multifokallinsen werden nun auch im öffentlichen Gesundheitswesen bezahlbar», sagt Dietschy. Das eröffne Alcon einen neuen Markt.

Europäische Favoriten

In Europa gehören die Aktien von Sartorius 📈zu Metzgers Favoriten. Das deutsche Unternehmen profitiere vom Wachstum der Märkte zur Herstellung von biologischen Medikamenten, die im kommenden Jahrzehnt im Schnitt 10% wachsen würden. «Sartorius wird Marktanteile gewinnen», ist Metzger überzeugt. Im Juli schreckte das Unternehmen mit einer Warnung auf. Es senkte das Ebitda-Margenziel für 2024 von über 30 auf 27 bis 29%.

Ein weiterer Kaufkandidat von Metzger sind Gerresheimer📈. Der Hersteller vorabgefüllter Spritzen profitiert vom Boom der Abnehmpräparate. Das deutsche Unternehmen beliefert mutmasslich Novo Nordisk und Eli Lilly und hat «einen steigenden Anteil in diesem lukrativen Geschäft», meint Metzger. Davon wird auch Ypsomed📈 beflügelt, die riesige Produktionskapazitäten aufbaut. «Überkapazitäten befürchte ich nicht, eher, dass die benötigten neuen Produktionskapazitäten in der Industrie nicht rechtzeitig bereit sind», sagt Dietschy.

In Dänemark gefällt Metzger Coloplast📈. Der Hersteller von Spezialprodukten wie Kathether hat den Vorteil, dass zunehmend mehr dieser Arzneimittel von Versicherungen zurückerstattet werden. «Die Aktien sind jedoch wieder teuer geworden», fügt Metzger hinzu.

Die herausragende Qualität von Medtech-Aktien bleibt eben nicht lange unbemerkt.

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