Dienstag, November 26

Die Alterung der Bevölkerung in Europa beschleunigt sich – mit negativen Folgen für das Wirtschaftswachstum. Gegenrezepte gibt es, doch sie haben einen Preis.

In Europa wird der demografische Wandel immer stärker spürbar. Laut der EU-Statistikbehörde Eurostat ist der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung in der Europäischen Union im Zeitraum 2002 bis 2022 um 5 Prozentpunkte auf 21 Prozent gewachsen. Gleichzeitig gab es bei den unter 20-Jährigen im selben Zeitraum einen Rückgang um 3 Prozentpunkte, sie kamen noch auf einen Anteil von 20 Prozent. Insgesamt lebten Anfang 2022 rund 447 Millionen Menschen in der Europäischen Union.

Weniger Erwerbstätige, weniger Wachstum

Die Entwicklung lässt Ökonomen und Finanzmarktakteure aufhorchen, denn die erwerbstätige Bevölkerung schrumpft zunehmend – und dies dürfte negative Folgen für das Wirtschaftswachstum haben. Die Bank Morgan Stanley etwa rechnet mit einem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen in der Euro-Zone um 6,4 Prozent von heute bis zum Jahr 2040.

Dies dürfte das Wirtschaftswachstum in der Euro-Zone im Zeitraum 2024 bis 2040 pro Jahr um 0,25 Prozentpunkte pro Jahr schmälern, heisst es in der im Oktober dieses Jahres publizierten Studie dazu. Die Auswirkungen auf die einzelnen Länder dürften unterschiedlich gross sein.

«Der Zusammenhang zwischen der demografischen Entwicklung in Europa und dem Wirtschaftswachstum ist in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren klar negativ», sagt Manuel Buchmann, Projektleiter und Berater bei Demografik, einem unabhängigen Kompetenzzentrum für Demografie in Basel. «Europa wird immer mehr zu einem alternden und schrumpfenden Kontinent.»

Babyboomer gehen in Rente

Der Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung in Europa hat sich mit der derzeit laufenden Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer verstärkt. Diese Generation umfasst in den Jahren 1946 bis 1964 geborene Personen.

Niedrige Geburtenraten und ein Anstieg bei der Lebenserwartung haben in den vergangenen Jahrzehnten dafür gesorgt, dass das Medianalter der Bevölkerung in der EU bis zum Jahr 2022 auf 43,4 Jahre gestiegen ist. Darauf weist eine Studie der Grossbank UBS vom Juli dieses Jahres zu diesem Thema hin. Damit liegt es um fünf bis sechs Jahre höher als in den USA oder Australien und um drei Jahre höher als in Kanada. Bis 2050 dürfte dieser Wert laut Uno-Prognosen in der EU noch weiter zulegen, und zwar bis auf 48,9 Jahre. Der Abstand zu den genannten Ländern dürfte grob bestehen bleiben.

Demografischer Gegenwind statt demografische Dividende

Ist die Bevölkerung jung und gibt es viele Personen im erwerbsfähigen Alter, bringt dies für ein Land wirtschaftliche Vorteile mit sich – zumindest wenn die Bevölkerung gut ausgebildet ist und es genug Arbeitsplätze gibt. Dann spricht man von einer «demografischen Dividende».

Die demografische Entwicklung ist gut vorhersehbar, und für Europa sieht es in diesem Zusammenhang nicht gut aus. «In den vergangenen Jahrzehnten hatte die demografische Entwicklung in Europa einen positiven Einfluss, in den kommenden zwanzig Jahren wird dieser aber negativ werden», sagt Buchmann. Die demografische Dividende werde sich in demografischen Gegenwind umkehren.

Morgan Stanley hat dazu die Entwicklung in den grössten vier Ländern der Euro-Zone untersucht: Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Besonders stark dürfte der demografische Wandel demzufolge Italien treffen, hier dürfte das Wirtschaftswachstum als Folge bis 2040 um 0,4 Prozentpunkte pro Jahr niedriger ausfallen. Weniger gross sollten die Auswirkungen laut der Bank in Frankreich sein, hier sei ein Minus von 0,1 Prozentpunkten pro Jahr zu erwarten. Deutschland und Spanien dürften sich laut der Studie grob am Durchschnitt der Euro-Zone bewegen, also bei einem Minus von rund 0,25 Prozentpunkten pro Jahr.

Südliche EU-Länder mit schwieriger Demografie

Laut der UBS-Studie haben südeuropäische Länder wie Italien, Portugal und Griechenland besonders ungünstige Voraussetzungen in Bezug auf den demografischen Wandel. In den kommenden Jahrzehnten dürfte sich die Situation dort noch verschlechtern.

Die erwerbstätige Bevölkerung in Italien könnte im Zeitraum 2022 bis 2050 folglich um 10 Millionen Personen auf 27 Millionen zurückgehen. Auch in Spanien sieht es in dieser Beziehung nicht gut aus, hier wird in derselben Periode ein Rückgang um 8 Millionen erwerbstätige Personen auf 23 Millionen erwartet.

In Frankreich ist die Situation etwas besser. Hier soll die Erwerbsbevölkerung laut den Prognosen bis 2050 um 2,6 Millionen auf 37 Millionen Personen sinken. Dabei kommt unter anderem die höhere Geburtenrate in Frankreich zum Tragen. Laut Buchmann dürften das grosszügig ausgebaute staatliche System der Kinderbetreuung sowie politische Anreize eine Rolle spielen.

In Deutschland könnte die erwerbstätige Bevölkerung indessen laut der UBS-Studie ebenfalls um 8 Millionen auf 45 Millionen Menschen sinken.

Höheres Rentenalter und Zuwanderung

Um den wirtschaftlichen Herausforderungen durch den demografischen Wandel zu begegnen, empfiehlt Morgan Stanley insbesondere Frankreich und Spanien, das gesetzliche Rentenalter anzuheben. Diese Länder hätten hier vergleichsweise grossen Spielraum und könnten dadurch die Zahl ihrer Erwerbstätigen erhöhen.

In Italien gebe es Potenzial für eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote, heisst es weiter. Der Durchschnitt liege in der Euro-Zone bei 75 Prozent, und Italien komme lediglich auf 70 Prozent. Einer der Gründe hierfür liege in der vergleichsweise niedrigen Erwerbsbeteiligung von Frauen.

Auch verstärkte Zuwanderung wäre eine Möglichkeit, um die negativen Folgen des demografischen Wandels abzumildern. Laut der amerikanischen Bank haben die starken Migrationsströme nach Deutschland in den Jahren nach der Pandemie das deutsche Wirtschaftswachstum unterstützt. Dabei hätten das Wachstum der Erwerbsbevölkerung, eine höhere Erwerbstätigenquote sowie eine höhere Beschäftigungsquote eine wichtige Rolle gespielt.

In Deutschland ist der Anteil von Ausländern an der Arbeitnehmerschaft laut der Studie von 8,5 Prozent im Jahr 2000 auf 15 Prozent im Jahr 2023 gestiegen. Nach der Finanzkrise kamen viele ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland. Im Jahr 2023 lag die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte bei 6,5 Millionen. Zuwanderung sei für das deutsche Wirtschaftswachstum entscheidend gewesen, teilt die Bank mit.

«Trotzdem kann Zuwanderung das demografische Problem nicht lösen, sie kann es höchstens etwas kompensieren», sagt Buchmann. Politisch würden Gesellschaften hier ab einem gewissen Punkt an Grenzen stossen. Die UBS-Ökonomen sehen dies ähnlich: Bei der Integration der Zuwanderer in die Arbeitnehmerschaft gebe es oftmals grosse Herausforderungen. Zudem hätten weniger als 30 Prozent der im Ausland geborenen Bevölkerung in der EU und der Euro-Zone ein höheres Ausbildungsniveau. Sie würden Wirtschaftssektoren, die auf Fachkräfte angewiesen sind, also zunächst weniger helfen.

Ein Blick nach Japan könnte beim Umgang mit der demografischen Entwicklung hilfreich sein, sagt Buchmann. Dort sei die ältere Bevölkerung sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert, und viele Menschen arbeiteten bis ins hohe Alter. Auch bei der Automatisierung sei Japan Europa weit voraus, beispielsweise im Bereich Pflege.

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