Montag, Dezember 30

Die Behörden fürchten sich vor ihm, doch er erzählt eine ganz andere Version. Die Geschichte eines kriminell gewordenen Kriminologen, dessen Flucht in Zürich endet.

Flor Bressers sitzt in einem stickigen Verhörraum des grössten Gefängnisses der Schweiz, der Pöschwies in Zürich. Er blickt durch eine Trennscheibe den Polizisten an, der ihn befragen wird.

Ihn, den mutmasslich mächtigsten Drogenboss, den die Schweiz je gesehen hat. Ein Hüne von fast zwei Metern, trainiert, mit weichen Gesichtszügen und dunkelbraunem, halblangem Haar.

Es ist Ende August 2022, kurz nach 9 Uhr, als der Polizist gemäss Einvernahmeprotokoll das Wort ergreift: «Wie geht es Ihnen?»

«Nicht so gut. Ich fühlte mich verschiedene Male erniedrigt und eingeschüchtert.»

Der Belgier spricht über seine Verhaftung: wie die Polizei ihn mitten in der Nacht aus dem Schlafzimmer geholt hat, wie er nur in Boxershorts im Wohnzimmer auf einem Stuhl verharren musste, im 22. Stockwerk eines Hochhauses im Zürcher Kreis 5.

«Mir wurde ein Video gezeigt, das in den belgischen Medien erschienen ist», beklagt sich Bressers, «vom Parkplatz aus wird auf die 22. Etage gezoomt.»

Er fragt sich: «Woher wussten die belgischen Medien, dass ich in diesem Moment auf dem Stuhl sitzen würde?»

Gut sechs Monate zuvor hat ein Sonderkommando der Kantonspolizei die Türe zu seiner Wohnung im Mobimo Tower aufgebrochen und diese gestürmt. Kurz vor Mitternacht nahmen die Einsatzkräfte den 35-jährigen Belgier und seine 28-jährige niederländische Lebenspartnerin fest. Der Sohn des Paares, ein Säugling, schlief nebenan in seinem Kinderbett.

In diesem Moment endete das frühere Leben von Flor Bressers. Ein Leben mit Concierge, Luxusferien, Massanzügen und teurem Wein. Aber auch ein Leben auf der Flucht: mit falschen Pässen, erschwindelten Aufenthaltsbewilligungen und dubiosen Helfern.

Denn bis zu dieser Nacht, als das Sonderkommando seine Wohnung stürmt, steht Bressers’ Name samt Bild auf der Liste der meistgesuchten Kriminellen Europas. Im Visier der Behörden wegen Kidnapping, bewaffneten Raubüberfalls und Verwicklung in den globalen Drogenhandel.

Wenn es stimmt, was die Ermittler Flor Bressers vorwerfen, dann haben er und seine Helfer tonnenweise Kokain aus Südamerika nach Europa geschleust. Mit dem Handy habe er Flugzeuge, Schiffe und Handlanger orchestriert. Im Oktober ist in Belgien der Prozess gestartet. Bis zu einer allfälligen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.

Die Festnahme des mutmasslichen belgischen Kokainkönigs hat die Schweizer Behörden aufgeschreckt. Bisher galt das Land vor allem als Drehscheibe für die Geldwäsche des globalen Drogenhandels.

Aber dass von hier aus ein mutmasslicher Topkader des internationalen Kokainhandels operiert – und dafür ein Netzwerk in der Schweiz aufbaut? Das konnten sich nur die wenigsten vorstellen.

Die NZZ ist den Spuren des Belgiers gefolgt. Die Recherche stützt sich auf Anklageschriften, Justizdokumente, belgische Medienberichte und Gespräche mit Insidern und Vertrauten, in der Schweiz wie auch in Belgien. Bressers selbst befindet sich in Isolationshaft in einem belgischen Gefängnis. Über seinen Anwalt nahm er zu einigen Fragen Stellung. Zu den Vorwürfen rund um den Drogenhandel schweigt er aber.

Wie landete ein junger Mann aus bürgerlichem Haus innert weniger Jahre auf Europas Fahndungslisten – neben Terroristen und Menschenhändlern? Und wie gelang es ihm, fast zwei Jahre in der Schweiz unterzutauchen?


Der Aufstieg

Die Geschichte von Flor Bressers beginnt in Lommel, einer Kleinstadt mit knapp 35 000 Einwohnern im Norden Belgiens. Der Ort liegt an der Grenze zu den Niederlanden. Es ist eine Provinzstadt, ruhig und naturnah. Die Kriminalitätsrate ist tief, die Problemquartiere der belgischen Grossstädte Antwerpen und Brüssel sind weit weg.

Bressers wächst mit einem jüngeren Bruder in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Der Vater arbeitet in der Radiologie eines Spitals, die Mutter ist die Direktorin dreier Schulen für behinderte Kinder.

Im Sommer 2003 lässt sich die Familie Bressers für einen Artikel in einer Regionalausgabe der belgischen Zeitung «HLN» porträtieren. Lommel sei eine Oase der Stille und Ruhe, sagen die Eltern. «Wer einen anstrengenden Job hat und viel Verantwortung trägt, braucht so einen Ort», erzählt die Mutter. «Wir sind hier verankert. Niemand wird uns von hier wegbringen.» Stolz posiert die Familie für ein Bild in der Zeitung. Mittendrin: der 17-jährige Flor.

Flor spielt als Jugendlicher im lokalen Fussballteam. Er ist hager und grossgewachsen. Kameraden und Mitschüler nennen ihn deshalb «de Lange». Es ist der erste von vielen Spitznamen, die Bressers im Laufe der Jahre erhalten wird.

In der Schule läuft es gut für ihn. Bressers schliesst das Gymnasium ab – Vertiefung Mathematik und Latein – und geht nach Brüssel. Dort studiert er an der Freien Universität Kriminologie. Seine Ausbildung verhilft ihm später zum zweiten Spitznamen: «de Universitair» – der Akademiker.

Doch irgendwann gerät der junge Mann aus gutem Haus auf die schiefe Bahn. Warum, ist bis heute unklar.

Es ist das Jahr 2009, als Bressers, mittlerweile diplomierter Kriminologe, kriminell wird. In seiner Heimatstadt Lommel begeht er zusammen mit zwei Komplizen einen Überfall auf eine Brasserie.

Laut damaligen Medienberichten geben die Räuber einen Schuss ab. Sie zwingen die Gäste, die sich unter den Tischen verkriechen, ihre Portemonnaies herauszugeben. Sie schlagen einen der Kellner und plündern die Kasse. Doch sie erbeuten bloss 6000 Euro.

Das Geld sind sie schon bald wieder los. Ein Kellner merkt sich das Nummernschild des Fluchtautos.

Vor Gericht zeigt sich Bressers reumütig: «Ich schäme mich dafür», sagt er laut belgischen Medien während des Prozesses. «Jedes Mal, wenn ich an der Brasserie vorbeifahre, werde ich daran erinnert.» Der junge Mann beteuert, er sei jetzt auf dem richtigen Weg. «Ich habe seit einiger Zeit einen Job und lasse mich nicht mehr auf das kriminelle Milieu ein.»

Doch etwas ist merkwürdig an diesem Prozess. Bressers’ Verteidiger ist nicht nur einer der bekanntesten und teuersten des Landes, er hat auch illustre Kontakte in die Unterwelt.

Und noch etwas weist darauf hin, dass der junge Mann tiefer ins kriminelle Milieu verstrickt ist, als er glauben machen will. Bressers soll eine Weile eine Beziehung zur Tochter von Peter «Peerke» S. gehabt haben, einem bekannten Kriminellen in den Niederlanden. Spitzname: der Pillenkönig.

Auch die Polizei vermutet, dass dieser Mann etwas mit Bressers’ Aufstieg zu tun gehabt hat. Die Bekanntschaft mit dem Pillenkönig hat ihm möglicherweise erlaubt, hochkarätige Kontakte ins Drogenmilieu zu knüpfen.

Durch eine Gewalttat im August 2010 sehen sich die Ermittler in dieser Annahme bestätigt.

In einem Nachbardorf von Lommel geht ein Mann mit seinem Hund spazieren, als plötzlich ein Volkswagen neben ihm anhält. Zwei vermummte Männer mit Karnevalsmasken steigen aus, packen ihn und zerren ihn ins Auto. Im VW fahren sie ihr Opfer in einen nahe gelegenen Wald, gleich hinter der niederländischen Grenze.

Dort traktieren sie den Mann mit Schlägen. Schliesslich setzt sich einer der Entführer auf das Opfer, zückt eine Gartenschere und schneidet ihm den kleinen Finger der linken Hand ab. Dann lassen die Täter ihr Opfer im Wald zurück.

Die Staatsanwaltschaft spricht von einer Bestrafungsaktion im Drogenmilieu. Der angebliche Auftraggeber: Flor Bressers. Der Grund: Das Opfer habe ihn bei der Polizei verpfiffen. Bressers selbst beteuert, er habe nichts mit dem Vorfall zu tun. Und das Gericht wird ihn später freisprechen – aus Mangel an Beweisen.

Wenige Jahre später wird es anders sein: Im Februar 2016 misshandeln mehrere Männer einen niederländischen Blumenhändler, der in Drogengeschäfte verwickelt ist. Sie halten ihm eine Pistole an den Kopf und bedrohen ihn mit dem Tod. Dann verletzen sie ihn mit einem Rasiermesser. Einer der Täter ist Flor Bressers.

Die Richter verurteilen ihn 2020 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Sie sind überzeugt, dass es Bressers war, der den Blumenhändler mit dem Rasiermesser verletzt hat.

Der Schweizer Anwalt des Belgiers sagt hingegen, der Blumenhändler habe in der Untersuchung mehrfach die Aussage geändert. Zudem habe sein Mandant nie die Gelegenheit gehabt, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Der Fall liegt inzwischen beim Menschenrechtsrat der Uno.

Bressers geht nicht ins Gefängnis, er taucht ab.

Am 4. Mai 2021 setzt ihn Europol auf die «Most wanted»-Liste. Am gleichen Abend tritt der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne vor die Medien. In diesem Moment holen Bressers die Vorwürfe mit der Gartenschere wieder ein. Van Quickenborne sagt: «Er hat einmal jemandem den Finger abgeschnitten, weshalb er manchmal ‹de Vingerknipper› genannt wird.»

«Vingerknipper» – der Fingerabschneider. Es ist ein Spitzname, der bis heute an Bressers kleben bleibt. In Belgien heisst es, der Vorwurf habe ihn nachhaltig verärgert.

Bressers selbst wehrt sich gegen das Bild, ein brutaler Krimineller zu sein. Gewalt sei nicht sein Stil, lässt er über seinen Anwalt ausrichten. Die Vorwürfe gegen ihn beruhten auf blossen Spekulationen. Damit hätten sich Politiker profilieren wollen. Der Spitzname «Vingerknipper» irritiere ihn, und er missbillige ihn. Der Verteidiger sagt: «Mein Mandant ist von diesen Vorwürfen schon vor zehn Jahren freigesprochen worden, in zweiter Instanz sogar auf Antrag der Staatsanwaltschaft.»

Gleichwohl habe Van Quickenborne seinen Mandanten mit diesen Vorwürfen in der Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. «Der zuständige Minister fütterte damit bewusst und wider besseres Wissen das Narrativ eines gewaltbereiten und skrupellosen Gangsters.»

Sicher ist: Nach Van Quickenbornes Auftritt beginnt die weltweite Jagd nach Bressers. Denn für die Behörden ist er weit mächtiger, als es die Taten erahnen lassen. Sie vermuten ihn in Südafrika. Sie suchen ihn in Dubai, wo sich viele Drogenbosse verstecken. Oder in den Seychellen.

Aber keiner denkt an die Schweiz. Keiner denkt an Zürich, an ein Luxusapartment im 22. Stockwerk eines schicken Neubaus. Monatsmiete: rund 26 000 Franken.

Ausgerechnet Zürich – jene Stadt, in der so viel Kokain konsumiert wird wie kaum an einem anderen Ort in Europa. Die Stadt, in der dank dem grossen Angebot eine Line Koks weniger als ein Cocktail kostet.


Das Luxusleben

Es ist Frühling 2020, als Bressers vor der Gefängnisstrafe flüchtet. Europa ist wegen der Corona-Pandemie im kollektiven Lockdown, Regierungen verhängen rigorose Ausgangssperren. Dass Bressers ausgerechnet in die Schweiz reist, könnte damit zu tun haben, dass hier im Vergleich zu anderen Ländern die Einreisebestimmungen früher gelockert werden. Sein Anwalt sagt, dass der Belgier zuvor keine Verbindungen in die Schweiz gehabt habe.

Vielleicht fiel die Wahl aber auch auf das Land mitten in Europa, weil hier kaum Fragen gestellt werden, wenn sich reiche Ausländer niederlassen.

Was auch immer für die Schweiz sprach, klar ist: Bressers und seine Partnerin treten hier als elegantes Paar auf, das Luxus gewohnt ist. Er nennt sich einmal Artur Gitta, dann Georgios Kandylidis, sie Simone Jung oder Alexandra Sapranova. Er trägt Massanzüge eines Schweizer Designers, sie Kleider des italienischen Luxuslabels Loro Piana.

Personen, die in der Schweiz mit Bressers Kontakt hatten, beschreiben ihn als Mann mit Stil. Er und seine Partnerin seien beide sehr höflich, intelligent und belesen aufgetreten. Manchmal habe sich die junge Frau einsam gefühlt, weil ihr Mann so viel gearbeitet habe.

Das Luxusleben mit kostspieligen Weinen, teuren Uhren und einem edlen Holzboot auf dem Zürichsee soll Bressers hier mit seiner vermeintlichen Tätigkeit im Ölbusiness erklärt haben.

Was er wirklich macht, weiss mutmasslich nur ein sehr kleiner Kreis aus seinem Umfeld. Sein Finanzchef Bastiaan K. etwa, der auch in Zürich wohnt und später am Flughafen in Basel verhaftet wird. Und einige seiner Kontakte aus dem Drogenmilieu.

Bressers’ Arbeitsgerät sei das Handy gewesen, heisst es. Damit habe er von Zürich aus Flugzeuge, Schiffe, Transportfirmen, Lagerhallen, Geldwäscher oder die Handlanger am Antwerpener Hafen kontrolliert.

Anfangs logiert er zusammen mit seiner Partnerin in Zürcher Luxushotels. Im Juni 2020 etwa im Fünfsternehaus Dolder. Später ziehen sie ins Nobelhotel Baur au Lac. Bressers’ Partnerin weist sich dabei mit einem gefälschten deutschen Reisepass aus. Als Simone Jung. Das geht aus einem Urteil des Bezirksgerichts Zürich gegen die Frau vom Sommer 2023 hervor, in welchem sie zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird.

Simone Jung, diese Identität benutzt die junge Frau auch, als sie im August 2020 in der Gemeinde Rüschlikon am Zürichsee eine Aufenthaltsbewilligung beantragt.

Die Frau braucht dafür aber einen Arbeitsvertrag. Da sie keinen hat, erhält sie einen gefälschten – und gibt sich als Geschäftsführerin einer Consultingfirma aus.

Mit Erfolg. Zwei Tage nach der Anmeldung übermittelt die Gemeinde Rüschlikon das Gesuch an das Zürcher Migrationsamt. Dieses stellt schliesslich eine Aufenthaltsbewilligung B für die Frau aus. Nun kann sie längerfristig in der Schweiz bleiben.

Damit endet die Phase der Luxushotels, das Paar zieht in eine Villa in Rüschlikon. Monatliche Miete: über 18 000 Franken – bezahlt von einer Firma in Dubai, die angeblich im IT-Sektor tätig ist. Ein Zürcher Immobilienmakler hat ihnen das Haus vermittelt. Er lässt sich dafür eine Provision von 100 000 Franken auszahlen.

Die Villa mit ausladender Treppe in den grossen Garten liegt direkt am Zürichsee. Bressers und seine Frau lassen das Anwesen von einem teuren Innenarchitekturbüro neu einrichten. Fünf Monate lang arbeitet der Luxusausstatter in der Villa.

Passenderweise kauft sich das Paar in jener Zeit auch das teure Motorboot eines Zürcher Herstellers – mit Mahagoniholz-Ausstattung, ideal für Wasserskifahrer und Wakeboarder, heisst es im Prospekt.

Immer an der Seite des Paares ist auch ein Concierge, der zuvor Karriere in der internationalen Welt der Luxushotels gemacht hat – in London, in München, in Abu Dhabi. Er begleitet das Paar, wenn es im französischen Edel-Skiort Courchevel Ferien macht. Er ist behilflich, wenn grosse Bargeldsummen eingezahlt werden müssen, er löst einen Luxuswagen auf seinen Namen ein – und er räumt Luxusmöbel in ihrem Auftrag in Lagerräume. Kurz: Er hilft, das luxuriöse Leben in Zürich zu organisieren.

Wie dieses Leben ausgesehen haben muss, lässt sich erahnen, wenn man sich die Ausgabenliste anschaut, aufgelistet von der Staatsanwaltschaft Zürich. Ein Auszug:

  • Hi-Fi-/TV-Geräte: 134 083 Franken
  • Schmuck/Uhren (Schätzwert): 666 870 Franken
  • Handtaschen (Schätzwert): 76 930 Franken
  • 131 Weinflaschen: 400 216 Franken

Nach einem Jahr in Rüschlikon zieht die Familie weiter in die Luxuswohnung im Zürcher Stadtkreis 5, wo man sie später festnehmen wird. Das Paar ändert erneut seine Identität. Und wieder schöpfen die Behörden keinen Verdacht.

Auf der Fassade des Hochhauses steht in grossen Buchstaben der Name des Hotels, das die unteren 15 Geschosse einnimmt: «Renaissance» – Wiedergeburt.

In dieser Zeit kommt auch der Sohn des Paares auf die Welt. Bressers wird sich später einmal als Familienmensch bezeichnen. Die Familie sei das Wichtigste für ihn.

Acht Monate lang lebt die Familie hier in der 22. Etage. Anwohner berichten gegenüber Tele Züri, Bressers sei in der Bäckerei nebenan häufiger Gast gewesen – und habe im Fitnessstudio in der Nähe trainiert.

Die meiste Zeit aber ist er wohl damit beschäftigt, hier ein Netzwerk aufzubauen. Dies gelingt ihm erstaunlich gut. In einem Land, in dem Korruption laut Studien kaum vorkommt, findet er rund zwanzig Helferinnen und Helfer, die keine Fragen stellen. Schweizerinnen und Schweizer, die nicht nachfragen, wenn hohe Beträge in bar bezahlt werden.

Eine von ihnen ist eine Treuhänderin, eine 36-jährige Frau aus der Ostschweiz. Sie macht aus dem europaweit gesuchten Belgier einen rechtschaffenen Bürger – indem sie dafür sorgt, dass er sich in der Schweiz niederlassen kann.

Sie stellt dem Belgier unter dem Tarnnamen Artur Gitta einen Scheinarbeitsvertrag aus, überweist ihm fingierte Lohnzahlungen (4500 Franken pro Monat), um die vorgetäuschte Anstellung zu tarnen. Und sie verschafft ihm einen falschen Wohnort, an einer wenig mondänen Adresse in einer Thurgauer Kleinstadt.

Das reicht für eine Aufenthaltsbewilligung B in der Schweiz.

Die Treuhänderin ist auch in finanziellen Dingen behilflich. Sie nimmt Zehntausende von Euro in bar entgegen, zahlt sie auf ihr Privatkonto bei der Migros Bank ein und überweist sie weiter auf das Konto ihres Treuhandbüros. So wäscht sie einen Teil von Bressers’ mutmasslichem Drogengeld. Sie nimmt auch 190 000 Franken in zwei Schuhschachteln entgegen – um eine Firma zu kaufen, die wohl als Geldwäsche-Vehikel hätte dienen sollen.

Als die Frau im April dieses Jahres vor dem Richter steht, fragt dieser: «Warum haben Sie das gemacht?»

«Ich nahm an, dass das Geld aus normalen Geschäften stammt.»

«All das Bargeld, ist Ihnen das nicht verdächtig vorgekommen?»

Die Treuhänderin zögert lange: «Man hätte es wissen müssen.»

«Was wollten Sie eigentlich damit erreichen?»

«Ich wollte den Kundenstamm erweitern. Er hat uns viele Neukunden versprochen.»

So wie die Treuhänderin ignorieren viele andere die offensichtlichen Alarmzeichen. Warum? Eine gut informierte Person sagt es so: «Diese Leute waren wohl fasziniert von ihm, von seinen grossen Geschäften, von den Leuten, die er kennt – und vor allem von dem vielen Geld.»

Bressers sei grosszügig gewesen, spendabel. «Wenn einer hohe Geldbeträge investiert und teure Sachen kauft, sagt niemand Nein.»

Der Belgier selbst erklärt, sein Umfeld in der Schweiz habe nichts über seine Situation gewusst. Sein Anwalt sagt: «Mein Mandant bedauert, dass in der Schweiz Personen seinetwegen in Schwierigkeiten geraten sind.»


Der Absturz

Die Nachricht von Bressers’ Festnahme in Zürich geht sofort um die Welt: «‹Finger cutter› drug lord arrested in Switzerland», schreibt etwa der «Guardian». Bereits kurz nach der Razzia im Luxusappartement gibt jemand die Information an die belgischen Medien weiter. Zu dem Zeitpunkt haben die Behörden in Zürich die Festnahme noch nicht einmal bestätigt.

Bressers selbst sei erstaunt gewesen, als die Polizei an seine Tür geklopft habe, sagen Leute aus seinem Umfeld. Er habe sich an die Annehmlichkeiten in der grössten Stadt der Schweiz gewöhnt. Die Angst aufzufliegen sei in den Hintergrund gerückt.

Bressers lässt über seinen Anwalt ausrichten, er bekomme jedes Mal Schweissausbrüche, wenn er an diesen Moment zurückdenke. Er sei sofort von seiner Frau und seinem Kind getrennt worden. Die Schreie des Babys seien ihm durch Mark und Bein gegangen. Es sei das Schlimmste, was seiner Familie je geschehen sei.

Seine Partnerin kommt nach der Festnahme ins Frauengefängnis Dielsdorf – zusammen mit dem Baby. Nach achteinhalb Monaten wird die junge Frau an Belgien ausgeliefert und sitzt dort nochmals im Gefängnis, bevor sie unter Hausarrest gestellt wird.

Bressers selbst kommt in der Schweiz in Einzelhaft. Seinen Sohn darf er nicht sehen. Sein Antrag, mit der Partnerin zu telefonieren, wird abgelehnt. Umstände, für die das Bundesgericht die Staatsanwaltschaft später rügen wird. Die Ermittlungsbehörde habe den Anspruch Bressers’ auf ein faires Verfahren und seinen Anspruch auf Familienleben verletzt.

Nach einem Monat besuchen ihn die Eltern ein erstes Mal. Bressers sagt in der Einvernahme vom August 2022, seine Mutter habe geweint, als man ihr gedroht habe, sie könnte selbst ins Gefängnis kommen, sollte sie mit ihrem Sohn über den Fall sprechen.

Die Schweizer Behörden sind nervös. Mit einem Verbrecher dieses Kalibers haben es die Ermittler hier zum ersten Mal zu tun. Sie befürchten, Bressers’ Komplizen könnten eine Befreiungsaktion planen. Der Belgier wird deshalb isoliert. Die Aufseher dürfen sich nur zu zweit zum Häftling begeben. Niemand soll auf die Idee kommen, sich von ihm bestechen zu lassen.

Nur ein einziges Mal darf der Belgier mit einem Aufseher Tischtennis spielen, sonst treibt er alleine Sport. Und als ihm einmal ein Mitinsasse die Haare schneidet, stehen die Sicherheitskräfte im Hintergrund bereit.

Das setzt Bressers zu. In einer E-Mail vom 28. April 2022 an die Staatsanwaltschaft hält das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung fest, der Insasse habe Suizidgedanken und sei «teilweise etwas dysphorisch und gereizt».

Bressers selbst sagt bei seiner Einvernahme im Gefängnis Pöschwies: «Ich fühle mich als psychisch gebrochener Mann.» Dieses Gefühl habe die Staatsanwaltschaft genutzt, um die Besuche seines Sohnes zu untersagen – weil er eine potenzielle Gefahr für sein Kind sei. Er selbst sagt: «Ich würde ihm nie etwas antun.»

Bressers glaubt, dass Gespräche zwischen ihm und seinem Anwalt abgehört wurden. In einer Unterhaltung habe er einmal gesagt, dass er ein gutes Band zu Angestellten im Gefängnis Pfäffikon habe. «Am gleichen Tag wurde ich in die Pöschwies gebracht.»

Die Kommunikation am neuen Ort sei gleich null gewesen, sagt Bressers. «Wenn sie mich in die Zelle brachten, gingen sie hinter mir, nicht neben mir.»


Die Kokainelite

Die Vorsicht der Schweizer Behörden gegenüber Flor Bressers hat einen Grund: 2021 knackten Ermittler mehrerer Länder die verschlüsselten Messengerdienste Encrochat und SkyECC. Beide sind eine Art Whatsapp für Verbrecher. Kriminelle kommunizierten dort verschlüsselt miteinander, gaben Bestrafungsaktionen und manchmal auch Morde in Auftrag.

Und vor allem organisierten sie Drogenlieferungen. Lieferungen von gigantischem Ausmass: Die Kartelle sollen 3000 Tonnen Kokain aus Südamerika nach Europa schleusen – und das jedes Jahr. Dies ist Umsatz im dreistelligen Milliardenbereich.

Die Zahlen beruhen auf Schätzungen, hochgerechnet aus den abgefangenen Lieferungen, welche jährlich zwischen 10 und 20 Prozent der gesamten Menge ausmachen. 321 Tonnen waren es 2022, im letzten Jahr dürfte es noch mehr gewesen sein.

Bressers selbst soll sich ebenfalls über die verschlüsselten Messengerdienste ausgetauscht haben. In den Chats entdecken die Ermittler endlich Hinweise darauf, dass dieser Mann in der Topliga des Kokainhandels mitspielen könnte.

Die Ermittler glauben, dass sich Bressers dort «Bongoking» nennt. Und «Bongoking» denkt gross. Mit Komplizen chattet er über Pläne für einen Flughafen im afrikanischen Guinea. Laut Recherchen der belgischen Zeitung «HLN» lässt der Kriminelle hinter «Bongoking» dort für 1,3 Millionen Euro eine drei Kilometer lange Landebahn bauen, um ungestört Drogen aus Südamerika einfliegen zu lassen. In einem Haus mit Swimmingpool neben der Landebahn seien Söldner untergebracht, die das geschmuggelte Kokain bewachen.

Danach wird die Droge nach Europa weitertransportiert. Der Trick: Der belgische Zoll untersucht afrikanische Fracht weniger genau als Container aus Südamerika.

Das System scheint lange bestens zu funktionieren, jedenfalls werfen die Behörden Bressers vor, er habe 16 Tonnen Kokain nach Europa importiert – insgesamt. Auch Verluste kalkulieren «Bongoking» und die anderen Bosse ein. Als die Polizei im Rotterdamer Hafen einmal einen Container mit 3,2 Tonnen Kokain abfängt, schreibt «Bongoking» einem Komplizen: «Früher oder später musste das passieren. Aber wir haben trotzdem eine schöne Serie gemacht.»

Durch den Hack der beiden Messengerdienste erfährt Europa, wie sehr sich das organisierte Verbrechen bereits auf dem Kontinent ausgebreitet hat. Und dass die Drogenbosse zusammenarbeiten. Ein Insider drückt es so aus: «Man schliesst sich zusammen, bestellt gemeinsam in Südamerika eine Tonne Kokain und teilt die Ware in Europa untereinander auf. Das ist günstiger, als wenn jeder selbst einkauft.»

Mengenrabatt, das kennt man auch im Drogenhandel.

Einer von Bressers’ wichtigsten Partnern aus Südamerika soll ein ebenso berüchtigter wie einfallsreicher Krimineller aus Brasilien gewesen sein. Der Name: Sergio Roberto De Carvalho. Der Spitzname: «der brasilianische Pablo Escobar».

Die internationale Polizeibehörde Interpol bezeichnet den ehemaligen ranghohen Militär des südamerikanischen Landes als einen der grössten Drogenhändler der Welt und macht ihn für Drogenschmuggel, Geldwäsche und Mord verantwortlich.

Jahrelang sollen «Bongoking» und Carvalho zusammengearbeitet haben. Im Juni 2022 gelingt es Einsatzkräften schliesslich, den Brasilianer auf einer Terrasse in Budapest festzunehmen. Seither sitzt er in Belgien in Haft und wartet auf den Prozess.


Die Angst

Dasselbe gilt für Flor Bressers. Acht Monate lang hat er sich in der Schweiz dagegen gewehrt, an sein Heimatland ausgeliefert zu werden. Die Gefängnisse in Belgien seien überfüllt, hielt sein Anwalt in einer Beschwerde fest. Es herrschten menschenunwürdige Zustände. Doch ein Gericht weist seine Beschwerde ab.

An einem Freitagmorgen im Oktober 2022 landet schliesslich ein Falcon-Jet der belgischen Luftwaffe in Zürich. Normalerweise führt man Kriminelle auf Linienflügen zurück in ihr Heimatland. Bei Flor Bressers aber gelten strengste Sicherheitsvorkehrungen. So streng, wie sie angeblich nicht einmal beim Besuch des damaligen US-Präsidenten Donald Trump in den Jahren 2018 und 2020 gewesen seien, heisst es aus Sicherheitskreisen.

Der Belgier wird eilig an Bord gebracht, und die Falcon-Maschine hebt gleich wieder ab, in Richtung Melsbroek, einer Militärbasis am Flughafen in Brüssel. Aus Angst vor einer Befreiungsaktion wird Bressers von dort in einem Konvoi mit gepanzerten Wagen nach Brügge gebracht, dem Ermittlungsrichter vorgeführt und dann ins Hochsicherheitsgefängnis im nahe gelegenen Beveren überstellt.

Bressers’ Verteidiger stellt seine Auslieferung anders dar: Man habe mit dem Abflug aus Zürich zugewartet, damit man in Belgien genau um 13 Uhr landen könne. Auf diese Weise habe über seine Ankunft live in den 13-Uhr-Nachrichten berichtet werden können. Die gesamte belgische Presse sei am Flughafen anwesend gewesen.

Der Schweizer Anwalt sagt: «Es war ein grosses Spektakel, um politisch zu punkten.» Bressers habe sich wie eine Trophäe gefühlt.

Die Sicherheitsvorkehrungen sind auch deshalb so rigide, weil kurz vor seiner Auslieferung Entführungspläne für Aufsehen sorgen. Im Visier: der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne. Der Politiker musste sich mit seiner Familie an einen geheimen Ort in ein Safe House begeben.

Das sei eine neue Phase des Narco-Terrorismus, wird der Minister später in einem Interview mit der «Brussels Times» sagen. «Die Drogenwelt bedroht die Öffentlichkeit und ihre Entscheidungsträger.»

Die belgischen Medien rätseln. Ist das eine Racheaktion für die früheren Aussagen von Vincent Van Quickenborne? Für den Auftritt von damals, als er im Fernsehen Flor Bressers «Vingerknipper» genannt hat? Bressers selbst dementiert dies bereits kurz nach dem Vorfall vehement. Über seinen Anwalt lässt er ausrichten, er habe sich seit seiner Inhaftierung immer in Isolationshaft befunden.

Nach dem Vorfall konnte die Polizei mehrere Tatverdächtige verhaften. Diese befinden sich laut belgischen Medien inzwischen wieder auf freiem Fuss. Bressers’ Anwalt sagt, aufgrund dieser Berichte frage sich sein Klient, ob es überhaupt zu einem Entführungsversuch gekommen sei. Das Haus des Justizministers sei von der Polizei auch nicht überwacht worden.

Der Verteidiger schreibt: «Bressers’ Kontakte wurden streng überwacht. Soweit meinem Mandanten bekannt, wird in dieser Sache kein Strafverfahren gegen ihn geführt. Er wurde zu diesem Sachverhalt bis heute jedenfalls nicht befragt.»

Die Sache bleibt nicht der einzige Vorfall, seit Bressers nach Belgien ausgeliefert wurde. Im Hochsicherheitsgefängnis, wo er untergebracht ist, kam es im September 2023 zu einer bizarren Verhaftungsaktion. Ein Sonderkommando stürmte den Besprechungsraum, in dem Bressers gerade seinen Verteidiger traf. Die Polizisten nahmen den Anwalt fest. Der Verdacht: Die beiden sollen Ausbruchspläne geschmiedet haben.

Bressers’ Verteidiger wurde am gleichen Tag unter Auflagen wieder freigelassen. Er selbst lässt ausrichten, ein Ausbruchsversuch sei nie diskutiert, geschweige denn geplant worden. Auffällig sei zudem, dass die Festnahme erfolgt sei, als ihn sein Anwalt über brisante Beweismittel habe informieren wollen. Mittlerweile sind die Auflagen gegen den belgischen Anwalt aufgehoben worden. Dieser ist auch wieder als Vertreter von Bressers zugelassen.

Die Behörden halten den Häftling jedoch weiterhin für extrem gefährlich. Das zeigte sich Mitte September, als der Prozess gegen ihn und rund vierzig Mitbeschuldigte in Brügge hätte starten sollen. Der Präsident des Gerichts entschied kurzfristig, die Verhandlung zu verschieben und nach Brüssel zu verlegen – ins alte Nato-Hauptquartier.

Der Grund: Im Gerichtsgebäude von Brügge könne die Sicherheit nicht ausreichend garantiert werden. Das Risiko für Personal, Verdächtige, die Öffentlichkeit und die Polizei sei zu gross. Die Bundesanwaltschaft betont derweil gegenüber der «Gazet van Antwerpen», es habe keine konkrete Bedrohung vorgelegen.

Schon einmal wurde der ehemalige Nato-Stützpunkt als Gericht benutzt – für die Prozesse nach den Terroranschlägen des Islamischen Staats in Brüssel 2016. Das Land wird das Gebäude auch in Zukunft noch brauchen.

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