Polen hat als einziges Land in Europa dem amerikanischen Wunsch entsprochen, deutlich mehr in die Verteidigung zu investieren. Nun hofft Warschau auf die Wirkung der besonderen Beziehung – auch weil man auf keinen Fall Schutztruppen in die Ukraine schicken will.
Bevor er am Mittwoch nach Kiew reist, hat Keith Kellogg Brüssel und Warschau besucht. Dass der amerikanische Sondergesandte für die Ukraine in Polen einen Zwischenstopp einlegt, hat nicht nur geografische Gründe. Polen ist das einzige EU-Land, das bisher von Vertretern der Trump-Administration für bilaterale Gespräche besucht worden ist. Kellogg unterhielt sich am Dienstag mit Präsident Andrzej Duda. Dieser hatte im Vorfeld mitgeteilt, er wolle dem Amerikaner Polens Position in Erinnerung rufen: Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen und auch nicht das Gefühl bekommen, dass es sich gelohnt habe, einen unabhängigen Staat grundlos anzugreifen.
Erst am Freitag hatte Duda den amerikanischen Verteidigungsminister Pete Hegseth zu Gast gehabt. In Warschau sieht man in dem Besucherreigen ein Zeichen dafür, dass Polen und insbesondere Duda im Umfeld von Donald Trump einen hohen Stellenwert geniessen. Duda, der sein zehntes Jahr im Präsidentenpalast bald beendet, kennt Trump aus dessen erster Amtszeit und hat viel in die Beziehungspflege investiert. Noch im Dezember sagte er im Interview mit der NZZ, Trumps Drohungen, seine Soldaten aus Europa abzuziehen, seien vermutlich eine Strategie, die Europäer zu grösseren Investitionen in die Verteidigung zu bewegen.
Nun plötzlich die grösste Armee Europas
Polen ist der Musterschüler des Kontinents, wenn es um die von den USA geforderte Aufrüstung geht. Gemessen an seiner Wirtschaftsleistung gibt das Land in Europa am meisten für seine Verteidigung aus: 4,1 Prozent waren es im vergangenen Jahr, 4,7 Prozent sollen es 2025 werden. Zudem gehören der polnischen Armee inzwischen mehr Soldaten an als der französischen, die bisher als grösste auf dem Kontinent galt.
Doch Trumps Entscheidung, vorerst ohne die Europäer und ohne die Ukrainer mit Russland zu verhandeln, bringt Duda und sein Land in eine schwierige Lage. Auch der angedeutete Rückzug der Amerikaner aus Europa ist für Warschau ein Horrorszenario. Derzeit sind rund 10 000 amerikanische Soldaten in Polen stationiert, ihre Zahl hat sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine fast verdoppelt. Die Nato ist seit dem Ende des Kalten Krieges zu einem immer wichtigeren Pfeiler der Verteidigungsstrategie des Landes geworden. Doch weder Hegseth noch Kellogg konnten den Polen Garantien geben, dass sich daran künftig nichts ändern wird.
Als grösstes Land der Ostflanke ist Polen wie kein anderes EU-Mitglied von dem Konflikt betroffen: sei es durch verirrte russische Raketen, die auf seinem Gebiet einschlagen, oder durch die vielen Flüchtlinge, die das Land in den vergangenen Jahren aufgenommen hat. Das Land hat schnell auf die neue Lage reagiert: Es hat der Ukraine zu Beginn des Krieges einen grossen Teil seiner Panzer und Kampfflugzeuge aus sozialistischer Zeit überlassen. Gleichzeitig beschloss die Regierung, die Armee bis 2035 auf 300 000 Mann zu verdoppeln.
In diesem Licht sind die hohen Rüstungsausgaben zu sehen, die sich seit 2014 verdreifacht haben. Sie haben mitunter dazu geführt, dass die EU-Kommission auch gegen Polen ein Defizitverfahren eröffnet hat – trotz prosperierender Wirtschaft übernimmt sich das Land, dessen Militärausgaben im vergangenen Jahr 35 Milliarden Dollar betrugen. Für Warschau geht es dabei um ein Signal über den Atlantik: Man habe getan, was Trump erwarte, sagte der Verteidigungsminister neulich gegenüber dem «Economist».
Die grosse Loyalität und die «special relationship» zu den Amerikanern gehören zu den wenigen Bereichen, in denen die verfeindeten Lager um den konservativen Präsidenten Duda und den liberalen Regierungschef Donald Tusk auf einer Linie sind. Vor seiner Abreise an den informellen Krisengipfel von Paris am Montag hatte Tusk vor Journalisten gesagt, dass es kein Entweder-oder zwischen der EU und den USA geben dürfe. Polen sei bereit, mit seinem «besonderen Ruf» eine positive Rolle in den transatlantischen Beziehungen zu spielen.
Polens Haltung führt auch dazu, dass der eigentlich proeuropäische Tusk den Initiativen für mehr europäische Autonomie skeptisch begegnet. Warschau rüstet sich vor allem im Ausland – in den USA und in Südkorea – aus. Das geht auf Kosten von grossen staatlichen Investitionen in die eigene Rüstungsindustrie oder von Aufträgen an europäische Hersteller. Als Argument heisst es in Warschau, dass die Zeit zu sehr dränge, als dass man auf den Aufbau einer eigenen Industrie setzen könne.
Die Polen wollen nicht an die Front
Skeptisch ist man in Warschau auch gegenüber der Idee einer europäischen Schutztruppe. Tusk hatte seine Ablehnung bereits im Dezember kundgetan und am Montag bei dem informellen Krisengipfel in Paris bekräftigt. Die Position ist vermutlich vor allem innenpolitisch motiviert. Tusk hat die Präsidentschaftswahl im Mai im Blick, die seine liberale Koalition unbedingt gewinnen will. Die Aussicht, dass polnische Soldaten womöglich bald zum Schutz der Ukraine den Russen gegenüberstehen könnten, ist in der Bevölkerung nicht populär.
Denn trotz noch immer grosser Solidarität ist das Verhältnis zwischen der Ukraine und Polen nicht spannungsfrei. So wächst in der Bevölkerung der Unmut gegenüber den Flüchtlingen, und die Bauern haben ihren Protest gegen die günstigen Getreideimporte nicht aufgegeben. Zudem steht die ungenügend aufgearbeitete Ermordung von rund 100 000 polnischen Zivilisten durch ukrainische Partisanen während des Zweiten Weltkrieges nach wie vor einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen Warschau und Kiew im Weg. Diese Einsicht haben auch Tusks politische Gegner. Der Chef der konservativen Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, sagte am Dienstag zu einer möglichen Beteiligung an der Schutztruppe ausdrücklich: «Die Polen wollen eine solche Expedition nicht.»
Polen befindet sich also in einem Dilemma. Einerseits wäre es so gut wie kaum ein anderes Land auf eine grössere Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten vorbereitet und durchaus in der Position, in Europa eine Führungsrolle zu übernehmen. Andererseits sind die Nato und im Besonderen die Amerikaner das Rückgrat der Abschreckung gegenüber dem historischen Feind in Moskau. Deren Rückzug würde das Selbstverständnis des Landes erschüttern. Donald Tusk hat am Montag in Paris vor allem seine Forderung wiederholt, die europäischen Partner sollten massiv mehr in die Verteidigung investieren.