Dienstag, Oktober 8

Weihbischof Alain de Raemy steht seit zwei Jahren als Apostolischer Administrator der Diözese Lugano vor – und könnte noch länger bleiben. Das Bistum wird gerade durch einen neuen Missbrauchsfall erschüttert.

Zuvorkommend, zugänglich, präsent: Es mangelt in der Diözese Lugano nicht an lobenden Worten über Alain de Raemy, der seit genau zwei Jahren dem Bistum als Apostolischer Administrator vorsteht. Der mittlerweile 65-jährige Geistliche war am 10. Oktober 2022 in die Fussstapfen von Valerio Lazzeri getreten, der müde und erschöpft nach neunjährigem Episkopat beim Papst seinen Rücktritt eingereicht hatte. Unter Lazzeri war die Diözese in mehrere Skandale verwickelt.

Offiziell Bischof werden konnte de Raemy als Westschweizer nicht, da im Falle des Bistums Lugano die Wahl nur Personen aus dem Tessiner Priesterstand vorbehalten ist. So will es ein Abkommen aus dem Jahr 1968 zwischen dem Bundesrat und dem Vatikan, das mit der offiziellen Loslösung der Apostolischen Administratur des Kantons Tessin vom Bistum Basel einherging.

Eine entsprechende Nominierung ist bis anhin nicht in Sicht. Der Apostolische Nuntius in Bern, Martin Krebs, der dem Papst einen Vorschlag in Form einer «Terna» vorlegen müsste, äussert sich auf Anfrage nicht zu möglichen Kandidaten. Er erneuert aber seine Aussage vom Vorjahr, dass es keine Amtszeitbeschränkung für einen Apostolischen Administrator gebe. Dieser habe mit Ausnahmen fast alle Befugnisse eines ordentlichen Bischofs. Ausgeschlossen ist beispielsweise die Ernennung eines Generalvikars.

Heimatrecht für de Raemy?

Alain de Raemy könnte demnach noch eine Weile im Amt bleiben, was etwa Lara Allegri, Präsidentin von Azione Cattolica, begrüssen würde: «Wir sind sehr zufrieden, er hat immer ein offenes Ohr und hat auch einen frischen Aussenblick ins Bistum gebracht.» Insider wollen indes wissen, dass die Stadt Lugano ihrem Interimsbischof nach drei Jahren das Heimatrecht gewähren dürfte. Mit dieser «attinenza» wäre er Tessiner Bürger, und einer offiziellen Nominierung stünde nichts mehr im Wege.

Im April 2023 wurde in Bern zudem eine von 2350 Personen unterschriebene Petition eingereicht mit der Forderung, die alte Klausel abzuschaffen und Wahlfreiheit für den Bischofssitz einzuführen. Die Initianten überreichten das Begehren Aussenminister Ignazio Cassis und dem Apostolischen Nuntius Krebs.

Alain de Raemy erklärt gegenüber der NZZ, dass er sich in seiner Rolle ausgesprochen wohlfühle und sehr dankbar sei. Die Tatsache, dass er im Moment einzig als Administrator wirke, sei nicht belastend: «Ich erlebe alles im Leben als nicht zwingend dauerhaft.» Von einem Moment auf den anderen könne sich alles ändern.

De Raemys Interregnum war in den vergangenen Monaten überschattet von einem gravierenden Missbrauchsfall. Am 7. August nahm die Staatsanwaltschaft einen Priester fest. Er sitzt seither in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe sind massiv: sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, sexuelle Handlungen mit urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Personen sowie Pornografie.

Der 55-jährige Geistliche war eine schillernde und beliebte Figur. Er war nicht nur im katholischen Collegio Papio von Ascona als Lehrer tätig, sondern auch am Kantonalgymnasium in Lugano-Savosa, ausserdem in der pastoralen Jugendseelsorge, darunter bei Azione Cattolica. «Diese Verhaftung hat uns konsterniert und verstört – wir konnten es nicht glauben», so Lara Allegri.

Ein mutmassliches Opfer hatte sich im Februar dieses Jahres direkt an Alain de Raemy gewandet. Nach sorgfältiger Prüfung und Begleitung durch die Expertenkommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche kam es im April zu einer Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft. Dass danach weitere vier Monate bis zur Verhaftung verstrichen, in welchen der Kaplan auch mit Jugendlichen auf Pilgerreise unterwegs war, hat eine heftige Diskussion ausgelöst.

Die Diözese Lugano hat den inhaftierten Priester vorsorglich seiner Ämter enthoben, auch wenn die Unschuldsvermutung gilt. Der Kanton zog nach, denn er war Mitglied der kantonalen Migrationskommission und verantwortlich für den katholischen Unterricht in der Kommission für Religionspädagogik.

Kritik wegen zu wenig Transparenz

Jüngst überraschte die Tageszeitung «La Regione» mit der Meldung, dass schon Bischof Valerio Lazzeri vor drei Jahren über die Missbrauchsvorwürfe gegen diesen Geistlichen informiert gewesen sei, aber nicht reagiert habe. Andere Quellen bestätigten das. Sollte das zutreffen, wäre es eine schwere Hypothek für Lazzeri.

Dies bestätigte auch Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur und Sekretär der Kommission «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz, vor kurzem in der RSI-Sendung «Modem»: «Der Papst ist in dieser Hinsicht klar: Wenn ein Bischof solche Dinge nicht zur Anzeige bei den vorgesehenen Instanzen bringt, muss er aus seinem Amt entfernt werden.»

Auch Alain de Raemy war kritisiert worden, weil die Diözese in der Aufarbeitung dieser Geschichte zu wenig Transparenz zeige. Der Apostolische Administrator verweist in diesem Zusammenhang darauf, «dass sich nun eine religiös neutrale und unabhängige Gruppe zur Anhörung von Missbrauchsopfern im kirchlichen Bereich (‹Gruppo di ascolto per le vittime di abusi in ambito religioso›) gebildet hat». Sie wird just am 10. Oktober, seinem Zwei-Jahres-Jubiläum an der Spitze der Diözese, der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Gruppe besteht aus Personen, die selber einen Missbrauch erlebt haben oder sich kompetent damit befassen. «Eine solche unabhängige Anlaufstelle hat im Tessin gefehlt», meint de Raemy. Die Notwendigkeit besteht mit Sicherheit. Denn viele Missbrauchsopfer wollen sich nicht einer Kommission anvertrauen, die in irgendeiner Weise mit der katholischen Kirche verbandelt ist.

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