Der deutsche Auslandsdienst gehört zu den am stärksten regulierten Nachrichtendiensten der Welt. Doch immer wieder sind es ausländische Dienste, die vor Anschlägen in Deutschland warnen. Ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt befürchten, dass das so bleibt.
Vor vier Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die ganze Welt, salopp gesagt, unter dem Schutz des deutschen Grundgesetzes steht. Für Ausländer im Ausland, so hatte Deutschlands höchstes Gericht damals geurteilt, gelten bei der Kommunikationsüberwachung im Wesentlichen die gleichen Rechte wie für Personen in der Bundesrepublik. Der deutsche Auslandsnachrichtendienst (BND) dürfe sie daher nicht ohne weiteres abhören oder ihre Internetkommunikation mitlesen, egal, in welchem Land sie lebten.
Der frühere BND-Chef Gerhard Schindler schrieb daraufhin, er hätte sich nicht vorstellen können, dass die Kommunikation der Taliban einmal «durch unser Grundgesetz geschützt sein würde». Auch Terroristen im Ausland müssten sich nun weniger sorgen, vom deutschen Nachrichtendienst gestört zu werden, kritisierte er damals. Das war noch weit vor dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Nun sind die Befugnisse des BND ein weiteres Mal eingeschränkt worden. Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, entschied vor kurzem, dass die Überwachung der Internetkommunikation von Personen, bei denen sich die eine im Inland und die andere im Ausland befindet, durch den BND teilweise verfassungswidrig sei. Der Bundestag muss das Gesetz für den Bundesnachrichtendienst nun erneut ändern. Dafür hat er bis Dezember 2026 Zeit.
Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und Sicherheit
Die Aufgabe des BND besteht darin, Informationen über das Ausland «zu gewinnen, die für die Aussen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung sind». Doch seitdem Menschen im Internet kommunizieren, tut sich der Auslandsdienst immer schwerer, dieser Aufgabe nachzukommen. Der Austausch findet heute oft verschlüsselt statt. Das sorgt dafür, dass nicht jeder mitlesen kann. Es erschwert den Sicherheitsbehörden und Diensten im In- und Ausland aber auch die Gefahrenabwehr.
Wie der Staat im Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und Sicherheitsinteresse im Internet agieren darf, ist in Deutschland weitgehend definiert. Wenn die Polizei im Inland einen Verdächtigen überwachen will, muss ein Richter zustimmen. Eine ähnliche Regelung gibt es seit dem BGH-Urteil vor vier Jahren auch für den BND im Ausland. In diesem Fall entscheidet allerdings nicht ein einzelner Richter, sondern ein Gremium mit sechs Bundesrichtern (Unabhängiger Kontrollrat).
Der Kontrollrat existiert seit Januar 2022 und hat den Status einer obersten Bundesbehörde. Sein höchster Vertreter wird vom Bundespräsidenten berufen. Der Ex-BND-Chef Schindler sagte einmal, die Amerikaner seien in Anbetracht ihres riesigen Überwachungsapparates der NSA «mit dem Schleppnetz unterwegs», während der BND nur die Harpune nehmen könne. Der Einsatz dieser Harpune muss nun seit gut zwei Jahren jedes Mal gesondert genehmigt werden.
Der BND als Sündenbock?
Als Mitte Oktober dieses Jahres die Anhörung der Chefs der deutschen Nachrichtendienste im Bundestag stattfand, sagte der BND-Chef Bruno Kahl, es müsse endlich auch im Bereich der Dienste eine «Zeitenwende» geben. Kahl hatte in der Vergangenheit mehrfach auf die Folgen einer noch strikteren politischen Kontrolle und Beschränkung des BND hingewiesen. Der Dienst könne immer weniger seinen Aufgaben nachkommen, weil er durch immer neue Regelungen bürokratisiert werde. Das könne nicht im Interesse der Sicherheit Deutschlands sein.
Zugleich macht die Politik Kahl und seinen Dienst immer wieder dafür verantwortlich, nicht rechtzeitig vor einschneidenden Entwicklungen gewarnt zu haben. Der Münchner BND-Fachmann Wolfgang Krieger berichtete Ende vorigen Jahres in einem Beitrag für eine französische Fachzeitschrift («Études françaises de renseignement et de cyber»), nach dem Putschversuch der Wagner-Gruppe in Russland sei in Berlin diskutiert worden, ob Kahl noch tragbar sei.
Für Berlin, schrieb Krieger, sei es damals undenkbar gewesen, an der Stabilität des Regimes von Wladimir Putin zu zweifeln. Doch nach den Ereignissen des 24. Juni 2023, als Teile der von Jewgeni Prigoschin geführten Wagner-Gruppe nach Moskau marschierten, seien Fragen aufgekommen, warum der BND die Ereignisse nicht vorhergesehen habe. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte damals gesagt, der Bundesnachrichtendienst habe vom Aufstand der Wagner-Söldner «natürlich nicht vorher gewusst».
Ein «zahnloser Tiger»
Es ist unklar, ob er damit den BND schützen wollte oder ob die Aussage ironisch gemeint war. Andere Politiker übten jedoch deutliche Kritik. «Wir sind jetzt langsam zu oft von den Ereignissen überrascht worden», sagte Ralf Stegner von der SPD, Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium, dem Ausschuss des Bundestages, der die Nachrichtendienste kontrolliert. Ulrich Lechte, aussenpolitischer Sprecher der FDP, klagte damals, die Informationslage des BND zum Innenleben Russlands sei offensichtlich dünn gewesen.
Die Sicherheitsexpertin der Grünen, Sara Nanni, wollte die Fehler allerdings nicht beim BND suchen. Das sei viel zu leicht, sagte sie damals. Sie sprach vielmehr von «einer Frage der Ressourcen». Geld kann sie damit eher nicht gemeint haben. Der Etat des BND ist von 612 Millionen Euro im Jahr 2016 auf 1,03 Milliarden im Jahr 2023 angewachsen.
Gemäss Fachleuten fehlt dem BND etwas anderes. Der frühere BND-Präsident August Hanning sagte vor einiger Zeit, der Dienst leide unter zu viel Aufsicht und zu wenigen Befugnissen, da er von der deutschen Politik als Sicherheitsrisiko angesehen werde. Sein Nachnachfolger Schindler ergänzte, der BND sei durch unverständlich komplizierte Aufsichtsverfahren und den allmählichen Verlust von Kompetenzen zu einem «zahnlosen Tiger» gemacht worden.
«Weiterer Meilenstein zur Bürokratisierung des BND»
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht Schindler nun als «weiteren Meilenstein zur Bürokratisierung des BND». Karlsruhe hätte den BND entfesseln können, habe aber das genaue Gegenteil getan. «Um uns herum brennt die Welt glühend heiss, doch wir in Deutschland stricken Wollsocken», sagte Schindler der NZZ. Auch das höchste deutsche Gericht habe nicht verstanden, was in der Welt «um uns herum» gerade vor sich gehe.
Doch in dem Verfahren vor dem Verfassungsgericht ging es nicht um Kleinigkeiten. So darf der BND etwa Internetdaten abgreifen und analysieren. Dabei fallen ihm auch Daten ausschliesslich inländischer Kommunikation in die Hände. Die Beschwerdeführer, unter anderem ein deutscher Rechtsanwalt und Amnesty International, bemängeln, dass die «Aussonderung» dieser Daten nur unzureichend sichergestellt sei. Anders gesagt: Es muss strikter gesetzlich geregelt werden, dass der BND keinerlei Daten untersuchen darf, die aus einer innerdeutschen Kommunikation stammen.
In Zeiten, in denen man auch mit deutschen Handynummern aus dem Ausland telefonieren kann, wirkt der Begriff «innerdeutsche Kommunikation» allerdings unscharf. Ein Beispiel: Wenn jemand in Syrien ein Mobiltelefon mit deutscher Auslandsvorwahl oder eine deutsche IP-Adresse benutzt, um mit jemandem in Deutschland einen Terroranschlag zu planen, darf der BND diese Kommunikation, so die Kritiker, nicht überwachen. Für Gerhard Schindler ist das eine Sicherheitslücke, für die Beschwerdeführer in Karlsruhe aber eine Kompetenzüberschreitung.
Ehrenamtliche kontrollieren den BND
Ein weiterer Klagepunkt war die Art und Weise, wie dem BND das Abgreifen und Analysieren von Daten erlaubt wird. Bei der Inland-Ausland-Aufklärung müssen diese Massnahmen bis anhin von der sogenannten G-10-Kommission genehmigt werden. Dieses Gremium nennt sich so, weil es kontrolliert, ob die Nachrichtendienste ihre Befugnisse bei der Kommunikationsüberwachung einhalten. Im deutschen Grundgesetz ist das unter Artikel 10 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) geregelt.
Diese Kommission ist kein Gericht, sondern besteht in der Regel aus meist ehemaligen Politikern. Das Verfassungsgericht entschied jetzt, dass es in Anbetracht der Tragweite der Entscheidungen nicht sein könne, dass dieses Gremium überwiegend ehrenamtlich besetzt sei.
Stattdessen fordert das Gericht eine «fachlich kompetente professionalisierte gerichtsähnliche Kontrolle». Das bedeutet, dass sich der BND künftig nicht nur die Überwachung von Ausländern im Ausland von einem mit Richtern besetzten Ausschuss genehmigen lassen muss, sondern auch die Überwachung von Verdächtigen, die sich teilweise im Inland und teilweise im Ausland befinden. Blaupause hierfür könnte der «Unabhängige Kontrollrat» sein.
Diese «weitere Bürokratisierung und Fesselung des BND» habe zur Folge, dass der deutsche Auslandsdienst noch weniger seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen könne, sagt Gerhard Schindler. Das zeigte sich gerade erst wieder in Schleswig-Holstein. In Elmshorn wurde vorige Woche ein 17-Jähriger festgenommen, weil er einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt geplant haben soll. Wie schon oft in der Vergangenheit soll der Hinweis von einem ausländischen Dienst gekommen sein.