Der frühere Swiss-Triathlon-Präsident Werner Bhend kennt die Passage, wo der tragische Sturz passierte, auch als Veranstalter bestens. Er fordert die Einführung von Tempolimiten im Radsport.
Werner Bhend war von 2003 bis 2007 Präsident von Swiss Triathlon, er hat an Radrennen teilgenommen und ist Ironman-Hawaii-Finisher. In seiner Funktion als Verbandspräsident hatte er quasi die Oberaufsicht über den Ironman Switzerland, der teilweise auf der gleichen Strecke wie die Wettkämpfe der Rad-Weltmeisterschaften in Zürich stattfand. Er findet, dass man im Radsport Geschwindigkeitsbegrenzungen einführen müsste.
Werner Bhend, Sie kennen die Strecke, auf der sich der tödliche Unfall von Muriel Furrer an den Rad-WM ereignete, aus eigener Anschauung.
Ja, ich habe diesen Streckenteil mehrmals im Rahmen des Ironman Switzerland als Athlet passiert, die Passage ist teilweise identisch mit jener der vergangenen Rad-WM. Dort erreichte ich jeweils eine Spitzengeschwindigkeit von rund 80 km/h, die Profis natürlich noch mehr – und das auf einer Strecke, die nicht vollständig abgesperrt war. Als Veranstalter hatten wir diese Passage früh im Blick, erkannten sie als heikel, und schauten sie entsprechend mit der Polizei an. Nicht weit weg von der fraglichen Stelle stürzte dann zu jener Zeit ein Triathlet schwer, zum Glück überlebte er. Als ich vom Sturz Muriel Furrers hörte, kamen sofort wieder die Erinnerungen an damals auf.
War es aus Ihrer Sicht verantwortlich, den Rad-Teil des Ironman über diese Strecke zu führen?
Aus heutiger Sicht, erst recht nach dem jüngsten Todesfall, würde ich diese Streckenführung nicht mehr so abnehmen. Ich weiss allerdings, wie viele Parteien in diesem Prozess involviert sind: Polizei, Gemeinde, usw. An den Triathlon-Weltmeisterschaften in Lausanne beispielsweise dauerte es Monate oder gar Jahre, bis die Strecke stand. Man muss solch heikle Strecken aber ganz klar entschärfen. Im Radsport ist das noch viel dringlicher, weil die Tempi höher sind als im Triathlon.
War auch die Unfall-Strecke der Rad-WM zu gefährlich?
Die genauen Umstände des Sturzes von Muriel Furrer kennen wir ja noch nicht, vielleicht werden wir sie auch nie erfahren. Aber wenn man in der fraglichen Passage eine Neutralisierung des Rennens mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung angeordnet hätte, wäre dieser Unfall höchstwahrscheinlich nicht passiert.
Eine Geschwindigkeitsbegrenzung?
Ja, zum Beispiel auf 50 km/h in steilen Passagen. Ein Rennen gewinnt man schliesslich nicht in einer Abfahrt, sondern in Aufstiegen oder in der Fläche. Und ich erinnere an die Formel 1, auch wenn sie kaum mit Radsport zu vergleichen ist: Nach dem Unfalltod Ayrton Sennas 1994 fand ein Paradigmenwechsel statt – die Sicherheit hatte plötzlich oberste Priorität. Das muss jetzt auch im Radsport passieren, sonst steigen irgendwann die Sponsoren und Zuschauer aus. Seit dem Tod Sennas hat es in der Formel 1 nur noch einen tödlichen Unfall gegeben (Jules Bianchi, 2014 in Suzuka, die Red.), im Radsport aber weit über ein Dutzend.
Wie soll eine Neutralisierung im Radsport umsetzbar sein?
Die Athletinnen und Athleten tragen heute in den Rennen GPS-Tracker zur Positionsbestimmung, doch diese werden viel zu wenig genutzt. In den Rennen könnte man sogenannt rote Zonen einführen, in denen nur mit Tempolimit gefahren werden darf – und falls eine Rennfahrerin oder ein Rennfahrer diesen Grenzwert überschreitet, leuchtet es auf dem Display rot auf. Die Fehlbaren werden sofort mit einer Zeitstrafe belegt, dafür gibt es eine Jury. Technisch wäre diese Massnahme sofort umsetzbar, und teuer ist sie nicht. Ähnliche Massnahmen kennen wir im Triathlon schon lange.
Welche zum Beispiel?
In heiklen Passagen gibt es ein Verbot, diese in der windschnittigen Aeroposition zu absolvieren. Wer sich nicht daran hält, muss in einer sogenannten Penaltybox eine Zeitstrafe absitzen. Der Triathlonsport war bezüglich Sicherheit dem Radsport ohnehin stets voraus – so gab es bei uns das Helmobligatorium schon lange vorher. Nun hat der Radsport letztes Jahr nach dem tödlichen Unfall von Gino Mäder ebenfalls ein Sanktionssystem zur Erhöhung der Sicherheit eingeführt: Wenn Fahrer sich im Rennen zu unvorsichtig gebärden, erhalten sie eine gelbe Karte, die zur Disqualifikation oder gar Sperren führen kann.
Wer soll die Mehrkosten für die zusätzlichen Aufwände bezahlen?
Im Profi-Radsport ist sicher genügend Geld, um noch etwas zusätzlich für die Sicherheit abzuzweigen. Ich weiss, welche Löhne Radstars wie Tadej Pogacar oder Jonas Vingegaard bekommen.
Weiter unten mangelt es allerdings an Geld.
Dort müsste man Abstufungen machen. Bei den Profis müssten die höchsten Sicherheitsstandards zur Anwendung kommen, jene Rennen sind schliesslich am gefährlichsten. Bei Junioren-Rennen liefe die Erhöhung der Sicherheit über eine andere, weniger heikle Streckenführung. Und wenn beispielsweise starker Regen fällt, müsste man eben eine rote Zone der Neutralisation bestimmen. Das ginge sogar spontan, während eines Rennens.
Was halten Sie vom Vorschlag, Airbags in Helme zu integrieren?
Unbedingt machen, falls es technisch umsetzbar ist. Aber ein solcher Helm muss bequem sein, denn die Athleten sind damit stundenlang unterwegs, das ist nicht wie bei Skirennfahrern, die innert zweieinhalb Minuten im Ziel sind.
Man könnte doch vor dem Start eines Rennens auch einfach an die Vernunft der Teilnehmer appellieren.
Das bringt überhaupt nichts. Denn die Fahrer machen, was sie wollen – und das heisst: gewinnen, auf Teufel komm raus. Erst recht vor einem Millionenpublikum vor dem Fernseher.
Dort geschieht auch die Heroisierung der besonders wagemutigen Profis in Abfahrten.
Mir kommt da der britische Radprofi Tom Pidcock in den Sinn, der in einer Netflix-Serie über die Tour de France gezeigt wird, wie er mit rund 100 km/h den Galibier-Pass hinunterrast. Schliesslich gewinnt er so die Etappe auf L’Alpe-d’Huez. Analysiert man seine rasante Downhill-Fahrt, lautet das Resultat: Wäre er langsamer runtergefahren, wäre er nicht als Sieger angekommen. Das Beispiel Tom Pidcock ist verheerend, denn da hat einer sein Leben riskiert und wurde dafür belohnt. Er ist aber die grosse Ausnahme: 99 Prozent der Radrennen werden nicht wegen halsbrecherischer Abfahrten gewonnen.