Sonntag, Oktober 6

Torschüsse, gewonnene Zweikämpfe und Passgenauigkeit sind passé. Die statistische Grösse Expected Goals beschäftigt längst nicht mehr nur Fussball-Nerds. Eine Erklärung für Einsteiger.

Torschüsse, Ballbesitz, gewonnene Zweikämpfe: Mit diesen Statistiken wurden jahrelang Fussballspiele beschrieben. So weit, so unbefriedigend. Diese Zahlen können irreführend sein beim Bemühen, den Charakter eines Spiels zu verstehen. In den vergangenen Jahren ist eine neue Metrik entstanden: Expected Goals (abgekürzt: xG), oder auf Deutsch: erwartete Tore. Zunächst begeisterte sich nur eine Nische dafür, inzwischen wird sie auch in TV-Übertragungen und Fussball-Apps eingeblendet. Was hat es damit auf sich?

Der EM-Vorrundenmatch zwischen Portugal und der Türkei wird wahrscheinlich nur wegen des spektakulären Eigentors von Samet Akaydin in Erinnerung bleiben. Sonst war er eher langweilig. Portugal führte nach knapp einer Stunde 3:0 und kontrollierte das Geschehen.

Der Match eignet sich aber gut, um den Wert der xG-Metrik zu zeigen. Mit klassischen Statistiken ist es schwer zu erklären, warum Portugal mit drei Toren Unterschied gewonnen hat. Beide Teams haben gleich viele Schüsse abgegeben, bei den Cornern hatte die Türkei sogar einen deutlichen Vorteil. War Portugal einfach im Glück?

Hier kommen die Expected Goals ins Spiel. Hinter dem Konzept steckt der Versuch, die Quantität und Qualität von Torschüssen in einer Zahl zu messen. Ein Schuss kann aus 30 Metern oder 5 Metern abgegeben werden. Nur ist die Trefferquote aus 5 Metern meistens deutlich höher. Mithilfe von xG kann quantifiziert werden, was eine gute Chance ist, ohne das tatsächliche Ergebnis – Tor oder kein Tor – zu berücksichtigen.

Portugals xG-Wert lag mehr als doppelt so hoch wie jener der Türkei. Portugal erspielte sich die deutlich besseren Chancen und gewann folgerichtig.


Schauen wir dafür das Schweizer Auftaktspiel an der EM an. Beim 3:1-Erfolg über Ungarn gaben die Schweizer 15 Schüsse ab.

Jedem dieser Schüsse wird ein xG-Wert zugeordnet, der die Qualität des Abschlusses beschreibt. Das ist eine Zahl zwischen 0 und 1. Je höher, desto besser die Torgelegenheit.

Die Qualität der Chance wird gemessen, indem die Wahrscheinlichkeit eines Treffers berechnet wird. Diese Bewertung basiert auf Informationen über ähnliche Schüsse aus der Vergangenheit.

Verschiedene Faktoren werden berücksichtigt: erstens die Entfernung zum Tor. Der Mechanismus ist intuitiv klar. Je weiter entfernt vom Tor ein Spieler einen Schuss abgibt, desto geringer ist im Durchschnitt die Erfolgsquote. Dazu kommen Informationen wie der Winkel zum Tor, der Körperteil, mit dem der Schuss abgegeben wird (Kopfbälle sind schwieriger), Schusstyp (zum Beispiel Volley) oder Art der Vorlage (eine hohe Flanke ist meistens schwerer zu verwerten als ein kurzer, flacher Pass). Manche Modelle beinhalten noch Informationen zur Position des Goalies und der Verteidiger. Je mehr Spieler zwischen Ball und Torlinie stehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Schuss abgeblockt wird.

Die entscheidende Frage ist nun: Wie viele der Schüsse mit denselben oder zumindest sehr ähnlichen Merkmalen führten in der Vergangenheit zum Torerfolg?

Findet man 1000 ähnliche Schüsse, von denen 50 ins Tor gingen, ergibt sich der xG-Wert so: 50/1000=0,05. Es ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Versuch zu einem Tor führt. In dem Rechenbeispiel also 5 Prozent.

Damit zu den 15 Schweizer Schüssen gegen Ungarn:

Folgendes fällt auf: Die Schweiz hatte drei sehr gute Torgelegenheiten mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit. Davon führten aber nur zwei zu Torerfolgen. Ruben Vargas scheiterte mit einer guten Chance am Ungarn-Goalie Peter Gulacsi. Der dritte Schweizer Treffer entstand nach einem Schuss mit sehr geringer Trefferwahrscheinlichkeit.

Ein Blick auf den Moment des Torschusses hilft dabei, das Zustandekommen des xG-Werts zu verstehen.

Schuss Duah | xG: 0,51 | Tor

Kwadwo Duah kam in der 12. Minute freistehend aus elf Metern zum Schuss. Gute Positionierung, der Ball auf dem starken rechten Fuss, freie Schussbahn. Das zeigt sich im xG-Wert: Historisch geht jeder zweite Schuss mit diesen Merkmalen ins Tor.

Schuss Vargas | xG: 0,54 | gehalten

Nahezu identisch war die Torgelegenheit von Ruben Vargas in der 20. Minute. Es ist einleuchtend, dass der Schuss einen ähnlichen xG-Wert bekam wie der von Duah. Nur dass Gulacsi diesen Schuss abwehren konnte.

Schuss Aebischer | xG: 0,06 | Tor

Ganz anders die dritte Szene: Michel Aebischer zog aus 26 Metern mit dem rechten Fuss ab. Zwischen ihm und dem Torerfolg stand nicht nur Gulacsi, sondern ein halbes Dutzend ungarischer Verteidiger. Ein Torerfolg ist in solchen Fällen sehr unrealistisch. Von 100 solcher Schüsse führen normalerweise nur 6 zum Torerfolg. Aebischers Treffer war die Ausnahme, nicht die Regel.

Die einzelnen xG-Werte werden addiert, um die Summe für das ganze Spiel zu erhalten. Für die Schweiz ergab das gegen Ungarn einen Wert von 2,3. So viele Tore werden aus diesen Chancen in einem Spiel im Schnitt erzielt, die Schweiz hat ihre Möglichkeiten also überdurchschnittlich gut genutzt.

Ein xG-Wert von 2,3 für einen Match kann auf unterschiedliche Weise zustande kommen. Wie im Beispiel der Schweiz als Summe von 15 Schüssen. Möglich wäre auch, dass eine Mannschaft nur fünfmal aufs Tor schiesst. Wenn jeder dieser Versuche aber eine sehr hohe Erfolgsaussicht hat, kann in der Summe ebenso 2,3 herauskommen. xG ist immer eine Kombination aus Quantität und Qualität.

Zwei Besonderheiten:

  • Penaltys bekommen immer den gleichen xG-Wert. Der liegt je nach Modell zwischen 0,7 und 0,8 – was der durchschnittlichen Erfolgsquote eines Penaltys entspricht.
  • Eigentore zählen nicht dazu.
Match analysieren

Als Erstes kann man – wie oben schon begonnen – die xG-Spielwerte vergleichen und beurteilen, welches Team die besseren Torchancen herausgespielt hat. Daran lässt sich grob ablesen, ob eine Mannschaft einen Match nur glücklich gewonnen hat.

An xG-Werten lässt sich auch der Spielverlauf ablesen. Zum Beispiel, in welchen Matchphasen welche Mannschaft sich bessere Chancen herausgespielt hat. Betrachten wir noch einmal den Match zwischen der Schweiz und Ungarn:

Spieler analysieren

Viele Anwendungen von xG-Werten gehen über ein einzelnes Spiel hinaus. Mit ihnen lassen sich die Leistungen von Spielern über eine ganze Saison einordnen und bewerten. Addiert man die xG-Werte aller Schüsse eines Spielers in einer Saison, ergibt sich die Zahl der Tore, die er statistisch hätte erzielen sollen.

Dieser Wert lässt sich dann mit der Zahl tatsächlich erzielter Tore vergleichen. Zum Beispiel bei den Top-Torschützen der vergangenen Bundesliga-Saison.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Grafik zu interpretieren: Erstens lässt sich analysieren, welche Spieler effektiver waren, als es die Qualität ihrer Chancen vermuten lässt. Zweitens zeigt sie, welche Spieler sich überhaupt gute Torgelegenheiten erarbeiten. Schon das ist eine wichtige Qualität für Stürmer.

Mannschaften analysieren

Neben Spielern lassen sich auch die xG-Werte aller Schüsse eines Teams in einer Saison addieren. So lassen sich etwa Mannschaften finden, die gut gespielt und sich viele Chancen erarbeitet haben, im Abschluss aber vom Pech verfolgt waren.

Basierend auf dem Konzept der Expected Goals gibt es inzwischen eine Erweiterung, mit der die Leistungen von Mannschaften matchübergreifend besser einzuordnen sind: Expected Points (xP) soll beschreiben, wie viele Punkte eine Mannschaft auf Basis der xG-Werte im Durchschnitt bekommen hätte, wenn dasselbe Spiel hundert- oder sogar tausendfach gespielt worden wäre.

Eine häufig genannte Kritik bezieht sich auf den Kern der Metrik: den Bezug zum Durchschnitt. Herausragende Spieler machten konsequent mehr aus ihren Chancen als ein durchschnittlicher Stürmer, so die Behauptung. Diese Vermutung liegt nahe, wird aber von Zahlen kaum gestützt. Sogar Cristiano Ronaldo, Robert Lewandowski oder Mohamed Salah hatten in ihrer Karriere mehrere Spielzeiten, in denen sie weniger Tore erzielt haben, als sie aufgrund ihrer Chancen hätten schiessen müssen.

Eine grundsätzliche Limitation besteht darin, dass ein xG-Wert einen Torabschluss voraussetzt. Torgefahr kann aber auch ohne Torschuss entstehen. Zum Beispiel durch eine Hereingabe von aussen, die schon am Goalie vorbeigeflogen ist, vom Stürmer vor dem Tor aber um Zentimeter verpasst wird. Oder in einer Situation, wo der Goalie einem allein auf ihn zulaufenden Stürmer den Ball noch abnimmt. Diese Szenen fehlen im xG-Wert komplett, obwohl sie in vielen ähnlichen Fällen zum Torerfolg führen würden.

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