Kaum ein Manager hat so gute Kontakte in die Führungsetage der Volksrepublik wie Jörg Wuttke. Nach mehr als dreissig Jahren verlässt er das Land – und zieht Bilanz.
Jörg Wuttke ist ein Mann der klaren Worte. Im heutigen China ist das selten, das macht die Expertise des langjährigen Präsidenten der EU-Handelskammer so gefragt. Per Anfang August hat Wuttke nach mehr als dreissig Jahren die Volksrepublik verlassen. «Ich verlasse China, aber China verlässt mich nicht», sagte er im Gespräch.
Wie gross dennoch das Bedauern über Wuttkes Abschied ist, wurde in den zahlreichen Abschiedsrunden deutlich, die der 65-Jährige in den vergangenen Wochen in seiner Wahlheimat Peking absolviert hat. Botschafter, Chinachefs ausländischer Konzerne, aber auch Vertreter chinesischer Behörden und Verbände brachte er dabei einmal mehr zusammen. Denn Wuttke sprach nicht nur für die europäische Wirtschaft, sondern auch für die liberaleren Kräfte in China. Diese haben unter dem Staats- und Parteichef Xi Jinping, der auf staatliche Kontrolle der Wirtschaft fixiert ist, an Einfluss verloren.
Herr Wuttke, kein deutscher Manager kennt das Land so gut wie Sie. Was ist das grösste Missverständnis im Hinblick auf China?
Missverständnis Nummer eins: Viele glauben, dass es in China nur eine Sprache, nur eine Denkweise, nur die eine Partei gibt. Dabei sind die Menschen und Meinungen hier extrem vielfältig. Das merkt man, wenn man hier lebt. Die zweite Fehleinschätzung ist, China zu überhöhen und zu glauben, die überrollen uns mit der Dampfwalze. Dabei übersehen viele die inneren Widersprüche und auch, wie verletzbar das Land ist. Die Kontrollwut von Chinas Führung ist ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke. Sie zeigt, wie verunsichert die Parteispitze ist.
Kaum ein Ausländer hat so gute Kontakte in die chinesische Führung wie Sie. Von wem haben Sie am meisten über das System gelernt?
Von dem leider bereits verstorbenen früheren Minister für staatseigene Betriebe, Li Rongrong. Er war für mich der klügste Berater. Von ihm habe ich gelernt, wie langfristig China plant, wie gefährlich diese bürokratischen Zukunftsträume sind und warum alles in Überkapazitäten endet. Li hat mich auch ermutigt, konstruktive Kritik zu üben, um aufzuzeigen, dass China es besser machen kann.
Warum sind die Überkapazitäten systemimmanent?
Minister Li hat das immer so erklärt: China macht Pläne, und jeder weiss, dass diese mit Geld gefüllt und mit Nachfrage unterlegt werden. Jede Stadt, jede Region, jede Provinz will an diese Futternäpfe der Subventionen. Es gibt 150 000 staatseigene Betriebe. Jeder will seinen lokalen Champion fördern und verhindern, dass Firmen aus der Region pleitegehen. Die Provinzen sind sehr stark protektionistisch. Bei Chinas grossen Plänen stehen deshalb am Ende immer Überkapazitäten.
Die Staatsführung versucht zunehmend, kritische Stimmen mundtot zu machen. Sie haben als Chef der EU-Kammer trotzdem teilweise scharfe Kritik geübt. Sie haben sich einmal mit einem Hofnarren verglichen, der Wahrheiten aussprechen kann, die andere, teilweise auch im System, sich nicht mehr zu sagen trauen.
Tatsächlich habe ich öfter in den Medien Dinge angesprochen, von denen ich wusste, dass sie meine Freunde in der Regierung oben schwer platzieren können. Das zeigt, dass es auch in der Führung unterschiedliche Meinungen gibt.
Zur Person
Jörg Wuttke – Chinakenner und Berater
Mit dem Rucksack reiste Jörg Wuttke 1982 während des Studiums zum ersten Mal nach China. 1987 ging er für den Schweizer Industriekonzern ABB als Manager in die Volksrepublik. Nach dem Tiananmen-Massaker 1989 kehrte er für kurze Zeit nach Deutschland zurück. Bereits 1993 zog es ihn erneut nach China, zunächst für ABB, später als Chefrepräsentant für den deutschen Chemiekonzern BASF. Wuttke war insgesamt mehr als dreizehn Jahre lang Präsident der Europäischen Handelskammer in China. Seine Expertise, die er gerne teilt, ist in Medien, Politik und Wirtschaft gefragt. Ab August berät er als Partner der Beratungsgesellschaft DGA Group mit Sitz in Washington Politik und Unternehmen in Chinafragen.
Hat Sie Ihre Kritik je in die Bredouille gebracht?
Ich wurde vor allem zu Beginn der Zeit als Chef der EU-Kammer ein paar Mal einbestellt. Einmal zitierte mich der damalige Aussenhandelsminister Bo Xilai herbei, der heute im Gefängnis sitzt. Er war selbst gar nicht da, er liess mir aber eine Holzkiste überreichen, die einem Sarg ähnelte. Ich liess sie vor Ort öffnen. Heraus kam eine wunderbare Lotusskulptur, aus Holz geschnitzt. Ich habe den Protokollchef gefragt, was das bedeute. Er sagte, die chinesische Wirtschaft sei manchmal wie ein Sumpf, schwarz, dunkel, schlecht riechend, aber der Lotus blühe darauf. Ich solle doch auch einmal etwas Positives sagen.
Sind Sie vorsichtiger geworden?
Bei öffentlichen Auftritten im chinesischen Fernsehen habe ich Kritik eher indirekt angesprochen. Aber gegenüber meinen Gesprächspartnern in den Ministerien war ich sehr direkt, auch bei heiklen Themen wie den Zwangslagern in Xinjiang und Parteizellen in den Firmen. Mir wurde zugehört, und ich wurde nie mit einer Propagandadusche abgefertigt. Aber das sind natürlich auch diejenigen in der Regierung, wie das Aussenhandelsministerium, die ein Interesse daran haben, dass China offen bleibt.
Wie ist zurzeit die Stimmung bei diesen liberaleren Regierungsvertretern?
Diejenigen, die ich noch treffe, sind besorgt. Über die Situation im Immobiliensektor, über die Handelskriege, die sich anbahnen, und über die Stimmung in der Bevölkerung, die wie mit Mehltau belegt ist. China kann nach dreissig Jahren Wachstum nicht mehr so kräftig aufs Gas treten. Jetzt sind tiefgreifende Reformen notwendig.
Was ist die grösste Herausforderung für das Land?
China muss es schaffen, sich aus seinen Überkapazitäten zu befreien. Nicht nur weil sie zu Konflikten mit Handelspartnern führen. Für China selbst sind sie noch viel problematischer. Denn es wird zwar viel produziert, aber niemand verdient damit Geld. Den Firmen fehlen dadurch die finanziellen Mittel, um in Forschung und Entwicklung zu investieren und innovativer zu werden. Den Lokalregierungen fehlen Steuereinnahmen, weil die Firmen keine Gewinne schreiben. Man kann die Überkapazitäten nur abbauen, indem man Firmen bankrottgehen lässt. Im Autosektor gibt es mehr als 100 Automarken und über 400 Fabriken. Da muss es eine Konsolidierung geben.
Um nicht mit E-Autos aus China überschwemmt zu werden, hat die EU vor kurzem vorläufige Strafzölle eingeführt. Ist das der richtige Umgang mit Chinas Überkapazitäten?
Natürlich will niemand in der Wirtschaft Zölle. Aber ich finde die Diskussion wichtig, die jetzt zwischen China und der EU geführt wird. Wir müssen uns in Europa Gedanken machen, wie wir unsere Wertschöpfung hier halten können. Ich kann nachvollziehen, dass in einer aktuellen Umfrage 80 Prozent der deutschen Firmen gesagt haben, sie befürworteten Zölle. Sie sehen sich gegenüber einem China im Nachteil, das jahrelang mit Subventionen seine Wirtschaft aufgebaut hat. Deshalb finde ich die niedrigen Zölle, die nun eingeführt wurden, nachvollziehbar. Nun liegt es an uns, innovative, kreative Produkte zu entwickeln, mit denen wir im Wettbewerb bestehen können.
Wie kann die Politik das Umfeld dafür schaffen?
Wir müssen uns fragen, was wir von China lernen können. Nicht von dem System, aber von den chinesischen Unternehmen. Diese Geschwindigkeit und Risikobereitschaft der privaten Firmen finde ich bewundernswert. Deswegen ist für mich absolut nachvollziehbar, dass europäische Firmen stärker hier vor Ort entwickeln. Ich nenne China immer das Fitnesscenter.
Chinas Privatwirtschaft – vor allem im Technologiebereich – ist in den vergangenen drei Jahren stark gemassregelt worden. Die Verunsicherung ist gross.
Es ist bezeichnend, dass China in den Bereichen am schnellsten gewachsen ist, in denen am wenigsten staatseigene Betriebe sind, im Tech-Sektor zum Beispiel. Aber erfolgreiche Unternehmer wie der Alibaba-Gründer Jack Ma ecken in diesem autokratischen, kommunistischen System an. Die privaten Unternehmen schaffen einen grossen Teil der Arbeitsplätze, aber sie bringen auch diese Milliardäre hervor, die unter Umständen das System infrage stellen.
Welche Rolle wird die Privatwirtschaft in China künftig spielen?
Momentan befinden wir uns in einem Schwebezustand. Man merkt, dass sich der Ministerpräsident Li Qiang um diese Privatunternehmer bemüht. Aber ich kenne etliche, die das Land verlassen. Ein Drittel der Häuser in meiner Nachbarschaft ist abends dunkel. Es wandern extrem viele Chinesen nach Singapur, Dubai und Japan aus. Das ist eine Abstimmung mit den Füssen. China sollte ein Interesse daran haben, dass diese Leute im Land bleiben.
Ein weiteres Problem ist die anhaltende Immobilienkrise, die die Wirtschaft bremst. Können die von der Staatsführung geförderten Sektoren wie grüne Industrien und andere Zukunftsbranchen den Immobiliensektor auf absehbare Zeit ersetzen?
Nein, der Immobiliensektor trägt direkt und indirekt 25 Prozent zur chinesischen Wirtschaft bei, das kann man nicht ersetzen. Momentan lindert China seine Wachstumsprobleme durch Exporte. Die Welt kann aber nicht alles aufnehmen, was China produziert. Jedes dritte Produkt weltweit kommt aus China, aber die Volksrepublik steht nur für 14 Prozent des globalen Konsums. Das kann nicht gutgehen.
Immer wieder gibt es Warnungen, dass die Staatsführung von den wirtschaftlichen Problemen ablenken will und deshalb den militärischen Druck auf Taiwan erhöht. Wie schätzen Sie die Gefahr ein?
Meines Erachtens ist die Staatsführung sich sehr bewusst, dass sie einen Krieg gegen Taiwan nicht gewinnen kann. Schon eine Blockade würde zu weltwirtschaftlichen Verwerfungen führen. Das träfe die Arbeitnehmer in der Volksrepublik am meisten, denn ein Drittel aller Container weltweit kommt aus China. Das heisst, eine Unterbrechung der Schifffahrtswege führt zuerst einmal zu einem Zusammenbruch der lokalen Wirtschaft hier.
Trotzdem übertritt Peking zunehmend Grenzen, die bislang von beiden Seiten stillschweigend respektiert wurden.
Trotz der Drohkulisse sehe ich in Peking momentan kein Bedürfnis, durch Blockade und Krieg den Status quo zu ändern. Status quo heisst aber auch, dass man in Europa und in den USA auf die Sensibilitäten Pekings Rücksicht nimmt und an der Ein-China-Politik festhält. Das gilt gerade im Hinblick auf einen möglichen amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Ein sehr viel grösseres Gefahrenpotenzial als in Taiwan sehe ich momentan im Konflikt zwischen China und den Philippinen. Anders als Taiwan haben die Philippinen einen eisernen Verteidigungspakt mit den USA. Das robuste Auftreten des chinesischen Militärs kann ich deshalb nicht nachvollziehen.

