Marathon war gestern, heute muss es mindestens ein Ironman sein. Christoph Negri glaubt, dass in uns allen ein Extremsportler schlummert. Und er erklärt, was Chirurgen und Basejumper vereint.
Christoph Negri, was ist der extremste Sport, den Sie ausüben?
Ich war jahrelang Orientierungsläufer, rannte durch scheinbar endlose Wälder in Skandinavien und Russland. Ich war mitten im Niemandsland, durfte mich nicht verlaufen – ein mulmiges Gefühl. Einmal nahm ich am Swiss Alpine Marathon in Davos teil. Die 79 Kilometer Distanz und 2300 Höhenmeter waren körperlich und mental herausfordernd. Aber extrem wäre das heute nicht mehr. Kürzlich habe ich von einem Sportler gelesen, der über Wochen hinweg jeden Tag einen Triathlon absolvieren will.
Sie meinen den deutschen Triathleten Jonas Deichmann, der momentan daran ist, 120 Ironmen am Stück zu bewältigen. Warum wird Sport immer extremer?
Ich behaupte, Extremsport ist einfacher geworden. Das Material hat sich verbessert, die Ski beim Freeriden zum Beispiel sind leichter geworden. Wir wissen mehr über die Trainingsmethoden, das Angebot für Personal Training wächst. Dazu kommt: Extremsport ist heute öffentlicher, die Sportlerinnen und Sportler posten ihre Erfolge auf Social Media, stellen sich selbst dar, sehnen sich nach Anerkennung. Sie bauen eine Community auf, und andere wollen es ihnen gleichtun. Extremsportler wollen einzigartig sein. Letztlich sind sie aber total im Mainstream.
Ist der Boom des Extremsports auch eine Folge der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft?
Das kann man so sehen. Während klassische Sportvereine Mitglieder verlieren, wächst der Abenteuersport. Extremsportler wollen dem Alltag entfliehen, sich selbst verwirklichen, Grenzen erfahren. Sie bestimmen selbst, was sie machen, erfahren in der Natur Freiheit.
Extremsportler erreichen ein sehr grosses Publikum, in den klassischen Medien, aber auch auf Social Media. Woher kommt diese Faszination?
Es ist ein Spannungsfeld. Wir bewundern einerseits die Sportlerinnen und Sportler für ihre extremen Leistungen. Andererseits fragen wir uns auch, wieso sie sich das antun und sich derart in Gefahr begeben. Ein Fussballmatch ist in dieser Hinsicht wohl fast zu normal. Ich kenne die Begeisterung für Extremsport von mir selbst. Wir haben ein Ferienhaus im Maggiatal, ich schaue dort gerne den Klippenspringern zu, die sich bei Ponte Brolla in die Tiefe stürzen. Mich fasziniert die Leistung, aber auch die Akribie, wie diese Sportler sich verhalten und sich vorbereiten.
Extremsportler laufen einen Ultramarathon, klettern ohne Sicherung, tauchen ohne Atemgerät. Wieso lehnt der Mensch sich nicht zurück und geniesst das Leben?
Unsere Vorfahren sassen kaum fünf Minuten still, sie waren ständig auf der Hut, überall lauerte Gefahr. Der Mensch will sich bewegen, es ist ein Teil, der in uns steckt. Für die einen ist es schon ein Abenteuer, am Waldrand ein Feuer zu machen, einen Cervelat zu bräteln und ein paar Bier zu trinken. Andere wiederum suchen das Extreme. Wie extrem wir es mögen, hängt davon ab, wie getrieben wir sind. Athletinnen und Athleten, die Extremsport als Lebensinhalt sehen, suchen dort die absolute Erfüllung.
Was sind Extremsportler für Menschen?
Beim Extremsport ist die Selbstkontrolle zentral, jeder ist der Meister über sich. Extremsportler wollen die Grenzen des Möglichen ausloten. Das spornt sie an. Aus psychologischer Perspektive gibt es das Grundbedürfnis nach Entwicklung, nach Selbstbestimmung: Wie viel kann ich? Im Berufsalltag gibt es viele Tätigkeiten, bei denen die Selbstbestimmung eingeschränkt ist. Gut möglich, dass einige versuchen, sie anderswo zu leben. Und am Schluss hinterlässt eine bewältigte Herausforderung ein gutes Gefühl. Die Selbstwirksamkeit steigt, wenn man weiss, wozu man fähig ist.
Viele Sportler, die extreme Ausdauerleistungen vollbringen, sind beruflich erfolgreich. Gibt es einen Zusammenhang?
Es gibt nicht den einen Typus Extremsportler – die Motive sind vielfältig. Auffallend ist aber schon, dass viele dieser Athletinnen und Athleten im Beruf erfolgreich sind. Wir finden sehr selten einen Bauarbeiter, der sich für einen Ironman anmeldet. Es ist verständlich, dass er nach einem harten Tag auf der Baustelle nicht mehr trainieren will. Verrichten wir hingegen über Jahre die ganze Zeit nur Kopfarbeit, kann das Kennenlernen körperlicher Grenzen ein Gegenpol sein.
Extremsportler riskieren ihr Leben. Sind sie noch selbstbestimmt oder schlicht fahrlässig?
Im Extremsport und im Alpinismus gibt es immer wieder Todesfälle, das stimmt. Mich stört es aber, wenn die Sportler als fahrlässig bezeichnet werden. Extremsportler sind sehr risikobewusste Personen, sie bereiten sich akribisch vor. Nehmen wir das Beispiel der Klippenspringer: Sie befassen sich mit der Situation, kennen jedes Detail des Felsens, sind trainiert. Sie kreieren die Situation so, dass sie deren Meister sind. Sie machen alles, was ich Sportlerinnen und Sportlern als Sportpsychologe mitzugeben versuche.
Man kann sich noch so gut vorbereiten, ein Restrisiko besteht immer. Haben Extremsportler Angst?
Extremsportler sind sich des Risikos sehr bewusst, setzen sich vorher mit den Ängsten auseinander. Im Moment, in dem sie den Extremsport ausüben, ist die Angst aber weg. Das muss auch so sein, sonst wäre alles vorbei. Die Sportler befinden sich in einem Flow-Zustand, in dem sie sich voll in der Situation befinden, glauben, alles bewältigen zu können, das Gefühl von Raum und Zeit verlieren. Diesen Zustand kennen auch Chirurgen, die stundenlang operieren, ohne dabei zu essen oder zu trinken.
Warum erreichen gerade Chirurgen und Basejumper den Flow-Zustand?
Der Flow-Zustand tritt ein, wenn Fähigkeiten und Anforderungen aufeinander abgestimmt sind. In der Psychologie sprechen wir von den Es-Zuständen, also «es gelingt», «es läuft», «es geht». Wir kommen in diesen Zustand, wenn es uns gelingt, den perfekten Spannungsgrad zu finden, sowohl körperlich als auch mental. Es ist eine feine Balance, so fein, dass wir es nicht immer schaffen, sie zu finden. Extremsportler müssen sie hervorragend beherrschen.
Wie schaffen Extremsportler das?
Entspannungs- und Visualisierungstechniken können dabei helfen. Ein Extremkletterer zum Beispiel kann mit Atemübungen zur Ruhe kommen, sich im Vorhinein vorstellen, wie er die Route klettert. Das Ziel ist stets, dass alles im Unterbewusstsein geschieht. Der Kopf ist immer langsamer als alles andere. Sobald wir zu denken anfangen, hinken wir hinterher.
Wieso genügt jemandem eine lockere Jogging-Runde, um den Flow-Zustand zu erreichen, während andere dafür ohne Sicherung überhängend klettern müssen?
Wer lange eine Sportart betreibt, wird oft ambitionierter, braucht eine grössere Herausforderung, damit ein Flow-Zustand eintritt. Denn die Schwierigkeit der Aufgabe sollte in einem optimalen Bereich liegen. Ist sie zu einfach, führt dies zu Langeweile, wenn sie zu schwierig ist, zu Angst oder Frustration.
Viele Extremsportler müssen die Leistung während Tagen aufrechterhalten, zum Beispiel am Race Across America. Wie gelingt das?
Der Flow-Zustand funktioniert in kürzeren Phasen gut, zum Beispiel beim Klettern oder für einen Skifahrer beim Freeriden. Bei langen und harten Leistungen ist der Wille ein wichtiger Faktor. Diesen Athletinnen und Athleten ist bewusst, dass ein Rennen wie das Race Across America knallhart wird. Sie wissen, dass sie Krisen erleben werden. Darauf können sie sich vorbereiten.
Wie ertragen die Athleten diese Strapazen?
Es gibt verschiedene Techniken, um den Kopf zu überlisten. Manche Sportler arbeiten mit Bildern, andere führen Selbstgespräche. Solche Athleten reden sich Sätze ein wie: «Jetzt noch fünf Kilometer, dann kommt die Trinkpause.» Die Voraussetzung dafür ist aber eine akribische Vorbereitung. Man muss sich mit dem Rennen und der Strecke auseinandersetzen und sich eine Strategie zurechtlegen für den Fall, dass es zur Krise kommt.
Wie oft kommen Extremsportler zu Ihnen in die Beratung?
Ich betreue immer wieder ambitionierte Breitensportler. Sie sind oft krasser unterwegs als Profisportler. Morgens gehen sie im Hallenbad schwimmen, dann arbeiten sie, am Mittag fahren sie Velo, abends joggen sie. Danach fallen sie todmüde ins Bett, am nächsten Tag beginnt alles wieder von vorne. Das ist für mich eine Extremsituation im Alltag. Bei vielen dieser Breitensportler treten irgendwann die klassischen Stresssymptome auf, sie können nicht mehr schlafen, fühlen sich erschöpft. Ich rate ihnen jeweils, einen Gang herunterzuschalten.
Haben Sie auch schon einen Basejumper oder eine Freeriderin beraten?
Mit Kletterern habe ich bereits zusammengearbeitet, bei ihnen ging es darum, die Situation in den Griff zu bekommen. Insgesamt aber habe ich bisher kaum Extremsportler begleitet. Ich weiss nicht, wo sie sich Rat holen, vielleicht innerhalb ihrer Community. Extremsport ist wenig erforscht, wir wissen jedoch ziemlich viel über die mentalen Aspekte im Sport, wie wir die Leistung steuern, die Emotionen beeinflussen können. Das ist auch für den Extremsport relevant.
Inwiefern unterscheidet sich Extremsport vom klassischen Spitzensport?
Extremsportler sind aufgabenorientiert. Sie haben Freude am Erlebnis, es geht ihnen nicht darum, zu gewinnen, sondern ein persönliches Ziel zu erreichen. Der klassische Spitzensportler ist meistens ergebnisorientiert. Wenn er gewinnt, ist alles gut, auch wenn die Leistung mittelmässig war. Im Spitzensport braucht es das. Wenn das fehlt, dann fehlen auch der Antrieb und der Ehrgeiz, bis zum Schluss zu gehen. Ist ein Sportler aber zu ergebnisorientiert, kann er unter Umständen seine Leistung nicht mehr einschätzen, und eine Blockade entsteht. Wenn er sich eine Leistung aber zu sehr zuschreibt, wird er überheblich.
Die Schweizer Velofahrerin Marlen Reusser hat im vergangenen Jahr das WM-Zeitfahren trotz Favoritenrolle aufgegeben, der Mehrkämpfer Simon Ehammer brach den Zehnkampf in Götzis ab. Was ist da passiert?
Ich behaupte jetzt einfach, dass die beiden Schmerzen, Erschöpfung oder Blockaden ignoriert haben, was völlig verständlich ist. Doch irgendwann wird der Leidensdruck zu gross, und dann ist fertig.
Im Extremsport ist die richtige Selbsteinschätzung noch wichtiger als im klassischen Spitzensport. Ueli Steck zum Beispiel war einer der weltbesten Alpinisten, ist aber trotzdem am Nuptse ums Leben gekommen.
Steck hat alle Voraussetzungen mitgebracht für den Erfolg. Ich weiss nicht genau, was passiert ist, als er verunglückte. Ich kann nur die Hypothese aufstellen, dass er sich vielleicht in diesem Moment ein kleines bisschen überschätzt hat. Das können Nuancen sein, die dann plötzlich entscheidend werden, eine kleine Schwächephase zum Beispiel, von der ein Athlet denkt, dass er sie schon überwinden würde. Extremsportler müssen radikal ehrlich mit sich sein. Bei ihnen geht es oft nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um Leben oder Tod.
Christoph Negri: Der Sportpsychologe war einst Orientierungsläufer
krp. Der 61-jährige Christoph Negri ist der Leiter des Instituts für Angewandte Psychologie (IAP) an der ZHAW in Zürich. Er beschäftigt sich mit Arbeits- und Organisations- sowie Sportpsychologie. Negri war früher ein ambitionierter Orientierungsläufer.