Eine Attacke von Studenten auf einen Wissenschafter wühlt Frankreich auf. Der Fall offenbart die Feigheit und die extremistischen Tendenzen an Universitäten.
Maskiert, den Kopf mit Kapuzen und Mützen bedeckt, dringen sie in den Vorlesungssaal ein. «Rassisten, Zionisten, ihr seid die Terroristen», skandieren sie. Eine Palästinenserflagge schwenkend, umringen sie den Dozenten wie einen Angeklagten, der seine Verbrechen gestehen soll. «Dieser Herr ist für Asad», sagt eine männliche Stimme, «steh dazu!»
Kurz darauf ist zu sehen, wie Fabrice Balanche seine Tasche packt und unter Buh- und Schmährufen den Saal verlässt. Die Szene ist am 1. April gefilmt worden, in einem Vorlesungssaal an der staatlichen Universität Lyon 2. Seither wird Fabrice Balanche im Netz beschimpft und verleumdet. «Diese Studenten terrorisieren die Universität», sagt er der NZZ. Im Moment ziehe er es vor, zu Hause zu arbeiten. Auf dem Campus riskiere er, beschimpft und angegriffen zu werden.
Bürgerliche fordern Strafen, Staatsanwälte ermitteln
Balanche ist Geograf, spricht Arabisch und hat lange in Libanon und in Syrien gelebt. Im Bürgerkrieg recherchierte er vor Ort. Er gilt in Frankreich als einer der besten Kenner der Region, gab auch schon Interviews im «Spiegel», in der NZZ und in Westschweizer Medien. Für sein neustes Buch «Les leçons de la crise syrienne» hat er einen Preis erhalten. Was dem 55-Jährigen widerfahren ist, hat in Frankreich einen Skandal ausgelöst.
Medien berichten über eine «islamistische Blockade» der Universität, von hasserfüllten Parolen gegen Israel und rechtsfreien Räumen. Staatsanwälte ermitteln wegen «Behinderung der Lehrtätigkeit», Minister schalten sich ein, bürgerliche und rechte Politiker überbieten sich mit Forderungen nach exemplarischen Strafen und Voten, wonach manche Universitäten zu «Zitadellen von Linksextremen» und Islamisten geworden seien.
Andere, vornehmlich linke Stimmen wiegeln ab und versuchen, Fabrice Balanche als Opfer einer bedauerlichen Bagatelle oder eines eingebildeten Problems darzustellen. Denn eigentlich gehe es nur um ein paar unreife Jugendliche.
Auf den ersten Blick wirken die Vorfälle in Lyon tatsächlich weniger dramatisch, als es manche Schlagzeilen vermuten lassen. Aber sie offenbaren tiefer liegende Probleme, die nicht nur Frankreich betreffen: Radikalismus von vermeintlich antirassistischen Aktivisten, die Terrorismus als Widerstand verklären, dazu eine wachsende Intoleranz und Universitäten, die diese Tendenzen dulden oder gar fördern.
Linke fordern Muslime zum Beten und Fastenbrechen auf
Die Affäre beginnt, als linke Aktivisten im Februar mit viel Widerstandspathos einen Saal der Universität besetzen, um Okkupations-Karaoke zu singen und über Themen wie «Krieg und Revolution» oder die Geschichte der Lyoner Hausbesetzerszene zu sprechen. Ende März kommt es zu einer Eskalation. Die Aktivisten richten nicht nur eine Gebetsecke für Muslime ein – sie rufen diese auch zum gemeinsamen Fastenbrechen an der Universität auf, mit Bildern von verhüllten Frauen und bärtigen Männern.
Da der französische Staat und damit die Bildungsinstitutionen streng laizistisch sind, lässt Universitätspräsidentin Isabelle von Bueltzingsloewen den Saal schliessen. Die Linksradikalen reagieren auf ihre Weise: Sie blockieren am 28. März die Universität und beschimpfen die Präsidentin als islamophobe Rassistin, die Muslime daran hindern wolle, ihren Glauben zu leben. Unterstützt wird die Kampagne von linken Studentengewerkschaften wie Solidaires und Unef oder Gruppen wie Intifada France, die sich im Namen Allahs solidarisiert.
Vier Tage später kommt es zu jenem Vorfall mit den Maskierten, der Fabrice Balanche berühmt macht. In den sozialen Netzwerken rühmt sich eine linksextreme Gruppe namens Lyon 2 Autonome, die Vorlesung gestürmt zu haben. Der Wissenschafter, so erklären sie, sei ein Rechtsextremer, er vertrete inakzeptable Positionen zu Syrien und Gaza. Um seine rassistischen und genozidalen Diskurse zu unterbinden, müsse er entlassen werden.
Das Treffen mit Bashar al-Asad verfolgt ihn bis heute
Dass er als Feind markiert wird, hat Fabrice Balanche nicht überrascht. «Ich war schon länger im Visier dieser Linksextremen», sagt er. Ausserdem sei er auch bei manchen Wissenschaftern unbeliebt, weil er mit seinen Analysen zu Syrien recht behalten habe. Tatsächlich braucht es viel Phantasie, um in Fabrice Balanche gleichzeitig einen Rechtsextremen, einen Zionisten und einen Anhänger des gestürzten syrischen Diktators Bashar al-Asad zu sehen.
Dies nicht nur, weil al-Asads Regime «Zionisten» hasste und alten SS-Verbrechern Exil bot. In jungen Jahren war Balanche Kommunist, 1988 reiste er mit einer Delegation der französischen KP in die Sowjetunion. Eine Erfahrung, die ihn, wie er sagt, lebenslang gegen Ideologien geimpft habe. Dieser nüchterne Blick prägt auch seine Arbeiten, in denen kaum Sympathien für Asads Regime zu erkennen sind. Aber da er den Diktator 2016 getroffen hat und weil er im Gegensatz zu anderen Forschern nie geglaubt hat, in Syrien werde nach Asads Sturz eine Demokratie entstehen, wird er bis heute als Pro-Asad-Forscher verleumdet, etwa bei Wikipedia.
Balanches Ruf als islamophober Zionist und Genozid-Befürworter rührt unter anderem von einer Vorlesung, in der er einen Zusammenhang zwischen Kopftüchern, Halal-Speisen und Islamismus herstellte. Hinzu kamen Auftritte beim rechten Fernsehsender CNews. Dort begrüsste er kurz vor dem Überfall auf seine Vorlesung den Entscheid der Universität, das links-islamische Fastenbrechen zu verhindern. 2023, nach dem Massaker des 7. Oktober, erklärte er bei CNews, die Evakuierung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen sei für Israel wohl ein «Szenario» und «ein Mittel, die Hamas zu eliminieren».
Der Vizepräsident der Uni preist den Terroristen Nasrallah
Als Meinungsäusserung will er das jedoch nicht verstanden haben. «Ich habe doch bloss ein Szenario skizziert», sagt er. Obwohl die Vorwürfe absurd seien, habe ihn die Universität im Stich gelassen. Sie habe die linksextremen Aktivisten geduldet, Teile der Professorenschaft seien gar geistige Komplizen. Sie neigten jenem Islamogauchismus zu, der Muslime als neues Proletariat und Kritik an Islamisten als Rassismus betrachte.
Die Reaktionen der Universitätsleitung haben einiges dazu beigetragen, dass die «Affaire Balanche» zum Skandal wurde. So sprach Uni-Präsidentin Isabelle von Bueltzingsloewen in einem Interview von intolerablen Vorfällen, warf ihrem Untergebenen Balanche jedoch vor, er habe der Universität mit verschwörungstheoretischem Geraune geschadet. Angesichts seiner Positionen zu Gaza wundere es sie nicht, dass es ihn getroffen habe. Auch er müsse «seinen Platz finden».
Der Vizepräsident der Universität, Willy Beauvallet-Haddad, verbreitete einen Artikel eines Linksaussen-Portals, in dem sich die Täter rechtfertigen dürfen und Fabrice Balanche als Stichwortgeber der extremen Rechten dargestellt wird. Der Verband der französischen Universitäten behauptete am 14. April in einer Mitteilung, der von Balanche kritisierte Islamogauchismus sei ein reines Fantasma.
Wenige Tage später zeigte sich dank Recherchen von Medien, dass dieses angebliche Gespenst sehr wohl existiert. Auch in Lyon, wo Vizepräsident Willy Beauvallet-Haddad in sozialen Netzwerken immer wieder Sympathien für die radikal-islamische Hizbullah bekundete. Über deren im Herbst 2024 getöteten Anführer Hassan Nasrallah schrieb er: «Er ist in das Pantheon unserer Herzen und der grossen Persönlichkeiten der Geschichte eingegangen.» Der wahre Führer Libanons sei Nasrallah gewesen, brüderlich, moralisch rechtschaffen. Aber im Westen, der den arabischen Orient stets verachtet habe – eine klassische Verschwörungstheorie –, werde man das nie verstehen.
Offiziell geht es um Fortschritt und Diversität
Gleichzeitig organisierte Beauvallet-Haddad Seminare, in denen Israel als Kolonial- und Apartheidstaat dargestellt wurde. Zusammen mit einem Forscher, der in Medien gerne erzählt, die Aufregung über islamistische Aktivitäten sei Ausdruck einer islamophoben Stimmung. Beworben wurden diese Seminare von der linksradikalen Gewerkschaft Solidaires, die auch im Verwaltungsrat der Universität vertreten ist.
Wegen seiner Äusserungen über den Terroristen Nasrallah ist Willy Beauvallet-Haddad mit einer Untersuchung der Justiz konfrontiert, die wegen «Apologie des Terrorismus» ermittelt. Von seinem Amt als Vizepräsident ist er zurückgetreten, in einem Schreiben kündigte er jedoch an, sein Engagement als Dozent fortzusetzen, für die Palästinenser und eine «diverse» und «progressive» Universität.
Die Identität der Aktivisten, die am 1. April die Vorlesung von Fabrice Balanche überfallen haben, ist bis heute unbekannt. Universitätspräsidentin Isabelle van Bueltzingsloewen hat nach ihren Äusserungen zum Fall Balanche Morddrohungen erhalten. Von wem, ist nicht bekannt. Der israelisch-palästinensische Konflikt hysterisiere die gesellschaftliche Debatte, sagte Hochschulminister Philippe Baptiste Ende April. Das zeige sich auch an den Hochschulen.
Explosiv war die Stimmung in der französischen Gesellschaft allerdings schon vor dem 7. Oktober. Rechte und linke Extremisten sind auf dem Vormarsch. Letztere biedern sich an Massendemonstrationen und bei Wahlen an Islamisten an, gemeinsam kämpft man gegen den Westen und die «Zionisten». In Schulen werden jüdische Kinder gemobbt, zwei Lehrer sind in den letzten Jahren von religiösen Fanatikern getötet worden.
An Universitäten gehen Studenten im Stil von Schnellrichtern gegen unliebsame Forscher vor. In Grenoble stellten Linksextreme schon 2021 zwei liberale Dozenten als Rassisten an den Pranger, weil diese den allzu oft von Islamisten missbrauchten Begriff «Islamophobie» kritisiert hatten. Die beiden mussten unter Polizeischutz gestellt werden.
So weit ist es bei Fabrice Balanche nicht gekommen. Aufhören will er jedenfalls nicht. «Wissen Sie, ich habe den Krieg 2006 in Beirut erlebt, da gab es einen Monat lang Bombardierungen», sagt er. «Da hält man einiges aus.»