Der Kampf gegen Medikamentenfälschungen ist eine Sisyphusarbeit. Die meisten Fälle bleiben unentdeckt.
Die Viagra-Pillen könnte auch ein Arzt verschreiben. Doch vielen Männern ist der Gang zum Arzt peinlich. Wesentlich diskreter lassen sich Potenzmittel im Internet bestellen. Dasselbe gilt für Präparate, die weniger Falten oder rasche Gewichtsabnahme versprechen.
Dubiose Online-Apotheken
Absender ist meist eine dubiose Online-Apotheke. Weltweit soll es Zehntausende solcher Verkaufsstellen geben, die keinerlei Aufsicht unterstehen und in aller Regel auch kein Fachpersonal beschäftigen.
Das macht sie zu einer riskanten Bezugsquelle, denn viele Anbieter vertreiben Produkte, die nur vermeintlich echt sind. Neben angeblichen Potenz- und Schönheitsmitteln werden zunehmend auch Fälschungen bekannter Präparate gegen Krebs und andere schwere Erkrankungen von Online-Apotheken in den Handel gebracht.
Medikamentenfälschungen sind ein riesiges Geschäft. Experten aus der Pharmabranche gehen davon aus, dass kriminelle Netzwerke mit ihnen mehr Geld verdienen als mit zahlreichen anderen Untergrundaktivitäten, Menschen- und Drogenhandel eingeschlossen. Schätzungen, die wegen der grossen Dunkelziffer bei dieser Art von Delikten schwierig sind, gehen von jährlichen Erlösen zwischen 200 und über 400 Milliarden Dollar aus.
Die Zahl der gemeldeten Fälle steigt kontinuierlich. Allein für die zurückliegenden zehn Jahre zeigt die Statistik der amerikanischen Organisation Pharmaceutical Security Institute (PSI) eine Verdreifachung. PSI koordiniert im Auftrag grosser Pharmahersteller Initiativen zur Bekämpfung von Medikamentenfälschungen.
In den Zahlen sind auch Fälle im Bereich des Graumarkthandels erfasst, bei denen für ein Land bestimmte Arzneimittel unerlaubterweise in ein anderes umgeleitet werden. Auch Diebstähle originaler Produkte beispielsweise aus Lastwagen oder Lagerhäusern fliessen in die Statistik ein. Das Gros der Fälle betrifft indes Medikamentenfälschungen.
Bei Fälschern besonders beliebtes Krebsmedikament
Die Fälscher werden immer raffinierter. Das merkt die gelernte Biologielaborantin Stéphanie Beer in ihrem kleinen Labor im luzernischen Schachen täglich. Die Bündnerin, die für den amerikanischen Pharmakonzern MSD arbeitet, gehört zu den branchenweit wohl wenigen hundert Spezialisten, die den Fälschern weltweit auf die Spur zu kommen versuchen. Der Kampf gegen Medikamentenfälschungen bedarf grosser Ressourcen, die nur wenige Unternehmen bereitzustellen in der Lage sind. Dank ihrem Bachelorabschluss in chemischer Kriminalistik, den sie in Lausanne erwarb, könnte Beer auch bei der Polizei arbeiten.
Zusammen mit ihrem Vorgesetzten und einem weiteren Mitarbeiter untersucht die Expertin ausschliesslich verdächtige Produkte, die das Markenzeichen von MSD tragen. MSD bzw. Merck & Co., wie der Konzern in seiner Heimat in den USA genannt wird, ist besonders im Visier von Fälschern. Vor allem deshalb, weil er mit dem Krebsmittel Keytruda das weltweit umsatzstärkste Medikament im Angebot hat.
Im vergangenen Jahr brachte das Präparat dem Konzern 25 Milliarden Dollar ein. Zum Vergleich: Der Basler Konkurrent Novartis, der ebenfalls zu den führenden Pharmaunternehmen gehört, erwirtschaftete 2023 mit sämtlichen seiner Produkte 45 Milliarden Dollar an Umsatz.
Keytruda zählt zur Kategorie der sogenannten Immuntherapien. Das Medikament gilt als hochwirksam und breit anwendbar. In den USA wurde es bis anhin zur Behandlung von 41 verschiedenen Indikationen zugelassen. Derart vielfältig einsetzbar ist kein anderes Krebsmittel.
Drehscheibe Türkei
Gleichzeitig zählt Keytruda zu den teuersten Arzneimitteln. In der Schweiz wird der Preis des Medikaments vom Hersteller und vom Bundesamt für Gesundheit geheim gehalten. Allerdings ist bekannt, dass das Produkt für das Schweizer Gesundheitswesen von allen Präparaten am zweitmeisten Kosten pro Jahr verursacht. 2022 waren es laut dem Arzneimittelreport des Krankenversicherers Helsana 155 Millionen Franken.
Schweizer Patienten erhalten die Kosten durch ihre Krankenkasse erstattet. In vielen Ländern müssen Krebskranke und ihre Angehörigen die Behandlung aber aus der eigenen Tasche bezahlen. Sie sind damit ein leichtes Opfer undurchsichtiger Anbieter, die im Internet oder auf Strassenmärkten mit Preisnachlässen werben, zugleich aber gefälschte Produkte offerieren.
Als Drehscheibe für den Handel mit Keytruda-Fälschungen entpuppte sich in letzter Zeit in mehreren aufgedeckten Fällen die Türkei. Illegale Kopien des Produkts wurden auch in Mexiko beschlagnahmt. 2018 flog ein grosser Fall mit gefälschter Ware aus der Ukraine auf.
Kochsalzlösung statt Pharmawirkstoff
Medikamentenfälschungen sind nicht mit Generika zu verwechseln. Zwar handelt es sich bei den Fälschungen auch um Kopien, aber um schlechte, die obendrein zu kriminellen Zwecken hergestellt werden. Das Geschäft mit ihnen ist für mafiöse Organisationen auch derart lukrativ, weil ausser bei der Verpackung, die möglichst echt aussehen soll, keinerlei Qualitätsstandards eingehalten werden.
So füllen besonders skrupellose Anbieter Wasser ohne jegliche Wirkstoffe in die Fläschchen ab, die für die Injektionen benötigt werden. Auch Backpulver oder Kochsalzlösungen werden verwendet. Die Kosten dafür bewegen sich gegen null.
Lebensgefahr für geschwächte Patienten
Wie Nicolas Florin, der Geschäftsführer der Schweizerischen Gesellschaft für die Verifizierung von Arzneimitteln (SMVO), ausführt, konsumieren die Abnehmer von Fälschungen im besten Fall etwas, was bloss wirkungslos ist. Es könne aber auch schnell gefährlich werden, sagt er.
So tauchen bei Fälschungen oft Verunreinigungen beispielsweise mit Farben oder sogar Blei auf. Zudem werden die vermeintlichen Medikamente in den seltensten Fällen unter sterilen Bedingungen gefertigt. In vielen Produktionsstätten der Fälscher herrschten haarsträubende hygienische Zustände, sagt Beer, die Spezialistin von MSD. «Krebspatienten, deren Immunsystem unterdrückt ist, riskieren ihr Leben, wenn sie sich solche Produkte spritzen.»
Die Machenschaften wirken vor diesem Hintergrund besonders verwerflich. «Es ist eben nicht so, dass sie bloss etwas kopieren. Fälscher gefährden Menschenleben», sagt Beer.
Doch die Urheber solcher Straftaten haben wenig zu befürchten. Meist bleibt ihr Tun unentdeckt, weil die gefälschten Medikamente nur in kleinen Mengen via Online-Apotheken versendet werden. Dies macht es schwierig, die Anbieter ausfindig zu machen. Und viele der dubiosen Verkaufskanäle im Internet verschwinden so schnell, wie sie eröffnet wurden.
Härtere Strafen gefordert
Wer trotz allem erwischt wird, kommt meist mit einer milden Strafe davon. In der Pharmabranche ärgert man sich seit Jahren über die Nachsichtigkeit vieler Strafbehörden. Branchenvertreter fordern, dass Fälscher von Medikamenten ähnlich hart wie Produzenten und Händler von Drogen angefasst werden.
Beer erhält zur Untersuchung verdächtige Packungen mit dem MSD-Logo aus ganz Europa sowie aus Afrika und dem Nahen Osten. Als Erstes überprüft sie jeweils die Chargennummer, die bei Medikamenten verbindlich angegeben werden muss. Auch klärt sie ab, ob das Verfalldatum gültig ist. Manchmal fliegen Fälschungen bereits in diesem frühen Stadium der Abklärungen auf. Auch ein einfacher Schreibfehler wie das Fehlen eines Apostrophs oder die Verwendung nicht originaler Farbtöne auf der Verpackung kann die Fälscher verraten.
Oft sind die Fälscher aber wahre Meister in der Herstellung der Verpackungen. Mittlerweile werden solche teilweise mitsamt Sicherheitselementen kopiert, die nur unter UV-Licht sichtbar sind.
In der Pharmabranche gilt es denn auch als offenes Geheimnis, dass die Fälscher in manchen Ländern Unterstützung von hochprofessionellen Druckereien erhalten. Diese Betriebe, sagt ein Brancheninsider, würden am Morgen für seriöse Kunden und nachmittags für Fälscher arbeiten.
Medikamente von zu Hause in die Ferien mitnehmen
Um den Fälschern in solchen Fällen trotzdem auf die Schliche zu kommen, müssen Pharmakonzerne wie MSD umfangreiche Abklärungen mit komplexen technischen Geräten wie Massenspektrometern und hochauflösenden Mikroskopen vornehmen. Dabei werden auch Wirkstoffe detailliert untersucht, da kleinste Abweichungen auf illegale Kopien deuten können. Unter Medikamentenfälschern finde man wahrscheinlich das gesamte Spektrum, sagt Beer: «Vom Hinterzimmerbetrieb, der mit simplen Pressen Tabletten fertigt, bis zum hochgerüsteten Hersteller von Biotech-Produkten.»
In der Schweiz, wo das Gesundheitssystem hochentwickelt ist und laufend Massnahmen zum Schutz von Patienten getroffen werden, laufen Konsumenten kaum Gefahr, Opfer von Medikamentenfälschungen zu werden. «Wer sich seine Medikamente vom Arzt verschreiben lässt und sich im Handel an die offiziellen Absatzkanäle hält, hat wenig zu befürchten», sagt der Fachexperte Nicolas Florin. Zugleich warnt er davor, sich Produkte aus dem Ausland zusenden zu lassen. Und wer verreise, stelle seine Reiseapotheke am besten schon zu Hause zusammen.