Linke Kreise wollen die Abstimmung über das Frauenrentenalter gerichtlich anfechten. Wie falsch dürfen Prognosen im Abstimmungsbüchlein sein?
Am 26. September 2022 stellte sich Tamara Funiciello vor der Heiliggeistkirche in Bern auf ein Bänkchen und lancierte eine Kampfansage an die «alten, reichen, weissen Männer, die das entschieden haben». Die Wut der SP-Nationalrätin und ihrer Anhängerinnen, die mit «Dini Mueter isch hässig»-Plakaten herumstanden und ein Trillerpfeifenkonzert veranstalteten, richtete sich gegen das Ja zur Erhöhung des Frauenrentenalters. 50,55 Prozent der Stimmenden hatten sich am Tag zuvor für die Stabilisierung der AHV (AHV 21) ausgesprochen und damit beschlossen, dass die Frauen künftig gleich lang arbeiten sollten wie Männer, also bis 65. Ein sehr knappes Ergebnis, das für die Demonstrantinnen «undemokratisch» war.
Juristisches Nachspiel
Die Niederlage von damals ist nicht überwunden. Und wie es aussieht, wird der Urnengang vom Herbst 2022 ein juristisches Nachspiel haben. Seit das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) diese Woche zerknirscht bekanntgegeben hat, dass es sich auf falsche Rechenformeln abstützte, ist der Vorwurf des «undemokratischen» Ergebnisses wieder sehr aktuell. Laut dem BSV geht es der AHV nämlich finanziell besser als lange dargestellt, das Sozialwerk wird in den Jahren von 2027 bis 2033 gesamthaft rund 14 Milliarden Franken weniger ausgeben als projiziert. Die Grüne Partei hat bereits angekündigt, eine Beschwerde gegen die Frauenrentenalter-Abstimmung einzureichen. Man habe den Frauen ein Jahr Rente gestohlen, so die Parteichefin Lisa Mazzone.
Die grünen und linken Frauen wären nicht die Ersten, die eine eidgenössische Abstimmung wegen bundesrätlicher «Fake News» vor Bundesgericht zu Fall brächten. Der Präzedenzfall ist die Abstimmung über die CVP-Initiative gegen die Heiratsstrafe. Das Begehren war 2016 gescheitert: Eine satte Mehrheit der Stände sagte Ja, doch das Volk lehnte die Initiative mit 50,8 Prozent der Stimmen ab.
Zwei Jahre später kam der Knall: Der Bundesrat informierte die Öffentlichkeit darüber, dass man einen Fehler entdeckt und die Zahl der Doppelverdiener-Ehepaare, die von der steuerlichen Heiratsstrafe betroffen seien, falsch geschätzt habe. Es handle sich nicht bloss um 80 000 Ehepaare, sondern es könnten 454 000 sein; man habe die Paare mit Kindern nicht dazugezählt, so die lapidare Erklärung. Mehrere CVP-Politiker reichten in der Folge Abstimmungsbeschwerde ein und erhielten 2019 vom Bundesgericht recht. Die Stimmbevölkerung sei fehlerhaft informiert und damit in ihrer Abstimmungsfreiheit verletzt worden, befand das höchste Gericht und hob die eidgenössische Abstimmung auf.
Sind die Fälle vergleichbar? Kann man Parallelen ziehen? Ja und nein. Das Abstimmungsresultat war sowohl bei der AHV 21 wie der CVP-Initiative sehr knapp, wobei bei dieser verschärfend hinzukam, dass die Stände mehrheitlich Ja gesagt hatten und vom Volk überstimmt worden waren. Bei der behördlichen Information zeigen sich indes Unterschiede. Im Fall der CVP-Initiative hatte der Bundesrat die Fehlinformation der angeblich 80 000 betroffenen Ehepaare ins Abstimmungsbüchlein gesetzt und aktiv kommuniziert, ohne mitzuteilen, dass es sich um eine blosse Schätzung handelte und man gar nicht über entsprechende Statistiken verfügte. Salopp gesagt, machte der Bund Behauptungen ins Blaue hinaus, ohne über greifbare Anhaltspunkte für seine Aussagen zu verfügen.
Wie falsch dürfen Prognosen sein?
Anders bei der AHV 21: Der Bundesrat hielt im Abstimmungsbüchlein 2022 fest, dass das Sozialwerk laut Berechnungen des BSV in den nächsten zehn Jahren «einen Finanzierungsbedarf von rund 18,5 Milliarden Franken» habe. Er führte keine Phantasiezahl als vermeintlichen Fakt an wie bei der Heiratsstrafe, sondern verwies auf die Prognosen des Bundesamts. Und Prognosen – auch solchen in Abstimmungserläuterungen – haften immer erhebliche Unsicherheiten an. Das führt zur Frage, wie falsch behördliche Prognosen bei Abstimmungen sein dürfen.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen, die das Bundesgericht in Sachen Unternehmenssteuerreform II angestellt hat. Über diese war 2008 abgestimmt worden, es resultierte ein knappes Ja von 50,5 Prozent. Der Bundesrat hatte vor dem Urnengang moderate Steuerausfälle in Aussicht gestellt, die Realität sah dann erheblich anders aus. Die SP sprach vom «grössten Abstimmungsbetrug in der Geschichte der Schweiz», eine Nationalrätin reichte Beschwerde in Lausanne ein.
Das Bundesgericht hielt in seinem Urteil von 2011 fest, dass den Stimmberechtigten im Allgemeinen zugetraut werden könne, mit Prognosen richtig umzugehen. «Der Umstand allein, dass sich Prognosen im Nachhinein als unzutreffend oder falsch erweisen, stellt für sich genommen keine Irreführung der Stimmberechtigten und keine Verletzung der Abstimmungsfreiheit dar.»
Bei der Unternehmenssteuerreform II kam das Bundesgericht dennoch zum Schluss, dass es der Bundesrat allzu locker genommen und die ihm gesetzten Grenzen überschritten habe. Die Steuerausfälle seien gar nicht schätzbar gewesen, kritisierten die Richter, doch die Regierung habe es unterlassen, die Stimmberechtigten über diesen Umstand zu informieren. Doch obschon es die Abstimmungsfreiheit als verletzt ansah, hob das Bundesgericht die Abstimmung nicht auf. Denn die Steuervorlage war damals bereits in Kraft. Viele Unternehmen hatten Dispositionen getroffen, im Vertrauen auf das neue Gesetz. Die Lausanner Richter verwiesen auf die Rechtssicherheit und auf die Grundsätze von Treu und Glauben, die krass verletzt würden, wenn man die Volksabstimmung nachträglich aufheben und die Gesetzesgrundlage dahinfallen würde.
Steuererhöhung ohne Grundlage
Bei der AHV 21 ist die Ausgangslage ähnlich: Sie ist seit Anfang Jahr in Kraft. Das Rentenalter für Frauen wird zwar erst ab 2025 schrittweise erhöht, doch andere Anpassungen werden bereits umgesetzt. Auch werden viele ältere Frauen bereits Pläne zu ihrer Pensionierung gemacht und sich entsprechend eingestellt haben.
Vor allem aber ist das Frauenrentenalter 65 Teil eines Reformpakets. Der andere Teil ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Anfang Jahr von 7,7 auf 8,1 Prozent angehoben wurde. Über die beiden Vorlagen wurde getrennt abgestimmt, doch sie waren aneinandergekoppelt: Beide mussten an der Urne angenommen werden, damit beide von ihnen in Kraft treten konnten.
Würde die Abstimmung vom Herbst 2022 nun aufgehoben, wie es die Grünen anstreben, hätte dies also nicht nur Folgen für das Frauenrentenalter, sondern auch für die Steuererhöhung: Ihre verfassungsrechtliche Grundlage würde dahinfallen. Die zusätzlichen 0,4 Prozentpunkte Mehrwertsteuer, die seit Anfang Januar von den Bürgern erhoben werden, müssten wohl rückerstattet werden; die praktischen Probleme wären erheblich. Bis ein Urteil des Bundesgerichts vorliegen würde, dürfte es zudem mehrere Monate dauern, was der Rechtssicherheit nicht zuträglich ist.
Kommt hinzu, dass bei einer Aufhebung der AHV-21-Abstimmung der AHV sehr viel Geld entgehen würde. Laut dem BSV bringt die Mehrwertsteuererhöhung dem Sozialwerk bis 2032 Zusatzeinnahmen von rund 12,4 Milliarden Franken. Den linken Kritikern dürfte das alles bewusst sein. Gut möglich, dass das Beschreiten des juristischen Wegs nur ein Mittel ist, um politisch Druck zu machen und vom Bundesrat oder vom Parlament Zugeständnisse in Sachen AHV zu erhalten.