Samstag, September 28

Hat sich der Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel mit seiner Forderung nach einem Bahnausbau-Moratorium verrannt? In einem Gastbeitrag erklärt Weibel, wie die Idee entstand und warum es eine Denkpause braucht.

Angefangen hat es am Anlass «50 Jahre Gesamtverkehrskonzept Schweiz» im März 2022. In meinem Vortrag präsentierte ich die Kernthesen meines eben erschienenen Buches über Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr.

Wir verfügen über ein hervorragendes Bahnnetz. Im Durchschnitt ist dieses Netz mässig ausgelastet. Grosse Ausbauvorhaben brauchen von der Idee bis zur Inbetriebnahme mindestens 25 Jahre – Tendenz steigend. Meine Folgerung: Als griffige Massnahmen gegen den Klimawandel kommen sie zu spät.

In der Pause sprach mich ein junger Mobilitätsplaner an. Er teile meine Meinung, wie auch viele seiner Kollegen. Im Januar 2023 trafen sich elf Personen zu einem Brainstorming. Gemeinsamer Nenner: Leidenschaft für die Eisenbahn und Eisenbahn-Know-how.

Höherer Marktanteil für die Bahn

Heute weiss ich, dass einige von ihnen zu den besten Mobilitätsplanern des Landes gehören. Nach intensiver Diskussion beschlossen wir, ein Projekt zu starten, dem wir den Namen «Prometheus» gaben. Auf der Basis bestehender Ressourcen sollten drei Ziele erfüllt werden: Erhöhung des Marktanteils der Bahn; mehr Tempo, häufigere Züge und direktere Verbindungen im Personen- und Güterverkehr; rasche Umsetzbarkeit.

Mitte April 2023 stand das Konzept. Die Ausgangshypothese, dass wesentlich mehr aus dem Bestehenden herausgeholt werden kann, sahen wir bestätigt.

Für das weitere Vorgehen wählten wir eine Metapher aus dem Fussball: Wir spielen den Ball in die Tiefe des Raums, in der Hoffnung, dass die Träger des öffentlichen Verkehrs ihn annehmen und aufs Tor schiessen wie diese Woche Shaqiri im Spiel gegen Schottland.

Ich stellte das Konzept den Spitzen von Bundesamt für Verkehr (BAV), Verband öffentlicher Verkehr und SBB in Einzelgesprächen persönlich vor. Ich erläuterte, dass es sich bei «Prometheus» um eine Betaversion handle, die formbar sei. Als Verfahren schlugen wir eine Testplanung gemäss SIA-Norm vor. In allen Gesprächen wies ich darauf hin, dass ich mich nach der Projektübergabe zurückziehen werde.

In meinem kleinen schwarzen Büchlein habe ich diese Gespräche protokolliert. Alle haben positiv reagiert, alle fanden den Ansatz gut, alle signalisierten ein Interesse an einem Verfahren mit einer Testplanung. Vom Direktor des BAV hörte ich seither – bis zu seinem Interview in der «NZZ am Sonntag» vom letzten Wochenende – nie mehr etwas. Mit den SBB gingen die Gespräche bis Ende 2023 weiter. Seit diesem Jahr herrscht komplette Funkstille.

Wir warteten lange, bis wir beschlossen, mit unseren Ideen an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir sind hocherfreut über das Echo. Missverständnisse müssen wir auf die eigene Kappe nehmen, weil wir offenbar zu wenig präzise waren.

In meinem Referat, das ich am 5. Juni im Verkehrshaus Luzern gehalten habe, stehen zwei wichtige Sätze: «Das heisst nicht, dass auf jeglichen Ausbau verzichtet wird. Aber zurück zu den alten Tugenden: Die Kunst ist, mit möglichst geringen Investitionen eine möglichst grosse Netzwirkung zu erzielen.» Wir haben nie von einem Baustopp gesprochen. «Moratorium» bedeutet, dass Projekte, die noch kein Plangenehmigungsverfahren hinter sich haben, bezüglich der Notwendigkeit und des Verhältnisses von Kosten und Nutzen überprüft werden.

Das Beispiel Ausbau Bahnhof Lausanne zeigt, weshalb es keinen Sinn ergibt, jetzt noch neue Grossprojekte in Angriff zu nehmen: Beginn der Planung 2010; budgetierte Kosten 1,05 Milliarden Franken; geschätzte Kosten heute 1,7 Milliarden Franken; geplante Fertigstellung 2037. Das Projekt ist so weit fortgeschritten, dass es nicht mehr abgebrochen werden kann. Während der langen Bauphase wird der Bahnverkehr in der Westschweiz beeinträchtigt.

Projekt beeinträchtigt Betrieb massiv

Bis zum Ziel der Klimaneutralität bleiben uns noch etwas mehr als 25 Jahre. Bis dahin wird, wie der Fall Lausanne zeigt, kein neues Grossprojekt Wirkung erzielen. Im Gegenteil: Der Betrieb wird massiv beeinträchtigt und das grosse Potenzial, mehr aus dem Bestehenden herauszuholen, geht verloren.

Stattdessen haben wir vorgeschlagen, eine Vision für die Angebots- und Netzentwicklung nach 2050 zu entwickeln, die sich vom Bestehenden löst. Dazu haben wir eine erste, noch wenig reflektierte Idee entwickelt. Wir hoffen, dass damit ein Wettbewerb der Ideen ausgelöst wird und wir von der Polemik zu den Fakten zurückkehren.

Benedikt Weibel studierte Betriebswirtschaft an der Universität Bern. 1978 wechselte er zu den SBB. 1983 wurde er zum Generalsekretär ernannt, 1993 zum Bahnchef. Nach 14 Jahren als CEO trat Weibel auf Ende 2006 zurück. Von 2008 bis 2022 war er Aufsichtsratsvorsitzender der österreichischen Westbahn. Heute arbeitet er unter anderem als Publizist und im Mandatsverhältnis für die französische Staatsbahn SNCF.

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