Worum geht es im Fall der «Schaffhauser Prügelattacke»? Eine Frau wurde von mehreren Männern schwer misshandelt. Sie trifft daran keinerlei Schuld. Doch die Medien berichteten mehrheitlich an dieser Tatsache vorbei und lassen Empathie vermissen.

Fabienne W. hat sich irgendwann entschieden, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht hat ihr die Anwältin dazu geraten, vielleicht war ihr der Gedanke unerträglich, dass ihre Peiniger unbehelligt blieben und ihr jederzeit über den Weg laufen könnten.

Jedenfalls berichtete die «Rundschau» Ende Mai über ihren Fall und nannte ihn die «Schaffhauser Prügelattacke». Im Beitrag zu sehen ist unter anderem das Video einer Überwachungskamera, auf dem zu erkennen ist, wie Fabienne W. von mehreren Männern schwer körperlich misshandelt wird: Sie wird geschubst, geschlagen, gewürgt und Kopf voran auf den Boden geschmettert. Im Bericht wird den Schaffhauser Strafverfolgungsbehörden vorgeworfen, sie hätten die Ermittlung im Fall Fabienne W. fehlerhaft geführt und das Verfahren verschleppt.

«Alles war ganz anders!»

Gut eine Woche nach dem Bericht der SRF-«Rundschau» veröffentlichte die «Schaffhauser AZ» einen langen Gegenbericht – eine Rekonstruktion der Nacht mit der Frage, welche Ereignisse der Gewalttat vorangingen. «Der ‹AZ› liegen Akten und Videoaufnahmen vor, die ein anderes Licht auf die Geschehnisse werfen», stand in der Überschrift.

Die Zeitung widerlegte die Erzählung des SRF, wonach der Anwalt und Gastgeber Fabienne W. unter einem Vorwand in die Wohnung gelockt hat, um sie dann dort davon abzubringen, Anzeige wegen Vergewaltigung gegen einen seiner Freunde zu erstatten. Der Autor legte dar, dass der Gastgeber nach einer langen Partynacht Fabienne W. schlicht habe loshaben wollen, doch diese habe zu randalieren begonnen, worauf die Gewaltspirale in Gang gesetzt worden sei.

Die «AZ» hat sich dazu entschieden, die Ereignisse fast Minute für Minute wiederzugeben – ein langer, spürbar um Objektivität bemühter Bericht mit wenigen Einordnungen. Das Versprechen «Alles war ganz anders!», wie es die Überschrift erwarten liess, löste der Text nicht ein, denn im Zentrum jener Nacht stand immer noch die Sinnlosigkeit und Grausamkeit einer Gewalttat dreier Männer gegen eine körperlich weit unterlegene Frau. Die Klarstellung der Tatsache, dass Fabienne W. keinerlei Schuld traf an dem, was ihr von der Männerrunde angetan wurde, fand auf vier Seiten Text offenbar keinen Platz.

Fehlgeleitete Objektivität

Als der Autor später vom Alternativ-Medium Radio Rasa gefragt wurde, ob sein Artikel nicht den Eindruck vermittle, dass Fabienne W. «ein bisschen mitschuldig» sei an dem, was ihr passiert sei, sagte er: «100 Prozent Opfer und 100 Prozent Täter – das gibt es auf dieser Welt nicht.» Damit bediente er die in Täterkreisen der häuslichen Gewalt verbreitete Erzählung, dass die Frau die Prügel provoziert habe und darum zumindest mitverantwortlich sei.

Nach Protesten von Leserinnen wegen des Artikels der «AZ» druckte die Redaktion eine längliche Entschuldigung ab, in der sie von «fehlgeleiteter Objektivität» sprach. Der Autor sagt, der Kommentar im Radio sei falsch gewesen. Er habe ihn allgemein gemeint, nicht auf diesen Fall bezogen.

Seit dem ersten «Rundschau»-Bericht vor mehr als zwei Wochen ist kein Tag vergangen, an dem nicht über die «Schaffhauser Prügelattacke» berichtet wurde – 150 Artikel listet die Schweizer Mediendatenbank unter dem Stichwort «Fabienne W.» auf. Innerhalb von wenigen Tagen gerieten Fabienne W. und ihre Leidensgeschichte in den Hintergrund der Berichterstattung. Die Medien fokussierten lieber auf das Handwerk der «Rundschau»-Redaktion. Man findet stets genug Freiwillige auf Redaktionen, die Fehler in der Arbeit des beneideten Investigativ-Formats suchen. Und weil der erwähnte Rundschau-Beitrag handwerklich schwach war – gespickt mit Auslassungen, Anspielungen und einer nicht stringenten Erzählweise, fanden die Journalisten genug Stoff für kritische Artikel.

Wie aus dem Textbuch

Weniger beliebt war es im Fall Schaffhausen, herauszufinden, warum die Ermittlungen über ein gut dokumentiertes Gewaltverbrechen gegen eine Frau zweidreiviertel Jahre dauern. Oder zum Beispiel nach Antworten zu suchen auf die Frage, warum drei Männer es für opportun halten, eine Frau bewusstlos zu prügeln, bloss weil sie angeblich nicht nach Hause wollte. Stattdessen schwenkte die Berichterstattung reflexartig weg vom Opfer und von dem, was ihm widerfahren war.

Dabei findet sich ein Motiv für die Gewalttat unübersehbar im Transkript des Videos, das die «AZ» publiziert hat. Der Nachbar des Anwalts, ist dort zu lesen, macht Fabienne W. mehrmals Avancen. Er versucht immer wieder, ihr eine Goldkette zu schenken. Sie zeigt sich nicht interessiert. Später, als die Gewaltspirale im vollen Gang ist und der Anwalt verlangt, Fabienne W. nochmals zu schlagen, schreit der Nachbar die Frau an: «Ich bin ein Mann, und du bist eine Muschi. Du hast vier Chancen gehabt, um alles richtig zu machen!»

Der Satz könnte als Praxisbeispiel in einem Fachbuch über geschlechtsspezifische Gewalt stehen. Dass die Frau vielleicht auch verprügelt wurde, weil sie eine Frau ist, wird von den meisten Journalisten immer noch angezweifelt oder ausgeblendet. Und zwar, obwohl das Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt gut belegt ist. Zugegeben, die Vorstellung, dass einer so hart zuschlägt und würgt, weil er bei einer Frau nicht landen könnte, ist deprimierend. Aber man muss sich zumindest mit diesem Tatmotiv befassen.

Täter-Opfer-Frage eindeutig

Im Journalismus geht es darum, sich der Wahrheit anzunähern, um den Versuch einer objektiven Darstellung. Zur Berufsethik von Journalisten gehört allerdings auch, Empathie aufzubringen für die Menschen, die ihnen ihre persönliche Geschichte anvertrauen. Es bedeutet, verantwortungsvoll mit sensiblen Informationen umzugehen; es kann im Zweifel auch bedeuten, Einzelheiten wegzulassen, um eine Informantin und ihr Umfeld zu schützen.

Dieser Grundsatz sollte nicht nur, aber ganz besonders für Opfer von Gewalt gelten. Auch für Fabienne W. Egal, mit welchen Demontagen des «Rundschau»-Beitrags die Medien noch aufwarten – die Vorgänge, die auf dem Video zu sehen sind, beantworten die Täter-Opfer-Frage eindeutig.

Fabienne W. will heute nicht mehr mit den Medien sprechen. Mit welchen Erwartungen sie ihren Fall publik gemacht hat, können wir sie nicht fragen. Vielleicht hat sie darauf gehofft, dass die Medien das schwere Unrecht anerkennen würden, das ihr geschehen war.

Diese Hoffnung wurde enttäuscht.

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