Dienstag, April 22

Schweden hat 2022 nach mehr als zwei Jahrhunderten seine bewaffnete Neutralität aufgegeben. Die russische Bedrohung habe zu einer grossen Einigkeit im Land geführt, sagt Schwedens Botschafter in der Schweiz, Carl Magnus Nesser.

Die Schweiz und Schweden teilten lange ein Prinzip: die bewaffnete Neutralität. Doch im Mai 2022 änderte sich das. Schweden reichte seinen Antrag auf Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis Nato ein. So ein Bündnisbeitritt wäre in der Schweiz nicht mehrheitsfähig, auch wenn hierzulande immer wieder hitzig über die Zukunft der Neutralität debattiert wird. Was hat Schweden zum Kurswechsel bewogen? Wie gelingt die militärische Auf- bzw. Nachrüstung – wirtschaftlich wie politisch? Die NZZ trifft den schwedischen Botschafter in Bern zum Gespräch über Sicherheit, Solidarität und Selbstbehauptung im Jahr 2025.

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Herr Botschafter, als Schweden 2024 der Nato beitrat, galt das Bündnis als schlagkräftige Verteidigungsmacht. Seit der Wahl von US-Präsident Donald Trump ist aber alles andere als klar, ob alle Nato-Mitglieder im Kriegsfall zusammenhalten würden. Wie gross ist die Ernüchterung in Ihrem Land?

Schweden ist keinesfalls ernüchtert. Die USA sind ein sehr wichtiger Teil der Nato. Es ist jedoch offensichtlich: Europa muss mehr zur Sicherheit seines eigenen Kontinents beitragen. Diese war seit über siebzig Jahren nicht mehr so bedroht wie heute. Schweden hat mit dem Nato-Beitritt einen grossen Schritt gemacht.

Es ist bemerkenswert, wie schnell Schweden die Neutralität aufgegeben hat. Die öffentliche Debatte dauerte lediglich drei Monate. In der Schweiz wäre das nicht denkbar. Woher diese Entschlossenheit?

Hätten Sie mich 2021 gefragt, wie wahrscheinlich ein schwedischer Beitritt ist, hätte ich gesagt: sehr unwahrscheinlich. Nur gerade ein Drittel der Bevölkerung hat einen Beitritt damals befürwortet. Die Neutralität wurde jedoch offiziell schon 1994 aufgegeben, als Schweden in die EU eintrat. Einem militärischen Bündnis gehörten wir allerdings nie an.

Dann griff Russland im Februar 2022 die Ukraine an.

Der brutale, völkerrechtswidrige Angriff hat die Schweden schockiert. Wir fühlten uns akut bedroht. Bereits 2020 hatten wir verstärkte Aktivitäten der russischen Marine in der Ostsee registriert. Und im Dezember 2021 verschlechterte sich die Situation weiter. Russland stellte verschiedene Forderungen an die Nato und die USA. Unter anderem sollten keine weiteren Mitglieder in das Verteidigungsbündnis aufgenommen werden – auch Schweden und Finnland nicht.

Trotz den Drohungen aus Russland: Schweden ist seit einem Jahr offizielles Nato-Mitglied.

Genau. Für uns ist die erhöhte Bedrohungslage offensichtlich. Russland hat die Ukraine angegriffen. Ausserdem halten wir es für möglich, dass Putin ein weiteres europäisches Land angreifen wird. Der russische Imperialismus wird nicht einfach so verschwinden. Wir sprechen hier von einem Langzeitkonflikt.

Wäre dann die bewaffnete Neutralität nicht der bessere Schutz? Schweden hätte Moskau signalisiert: Wir halten uns raus.

Jetzt muss ich etwas ausholen.

Bitte.

Die schwedische Neutralität war eine 200-jährige Tradition. Sie diente vor allem dem Zweck, Aussenstehenden zu zeigen, dass das Land keinem «Block» angehört. Diese isolationistische Grundhaltung sollte Schweden vor Krieg bewahren.

Hat sie das nicht? In der Schweiz möchte die SVP die «bewaffnete und immerwährende» Neutralität genau zu diesem Zweck in die Verfassung schreiben.

Die schwedische Neutralität wurde nie in der Verfassung verbrieft. Sie war Mittel zum Zweck und wurde über die Jahrzehnte immer wieder angepasst. Dies sollte vor allem mehr internationale Zusammenarbeit ermöglichen, zum Beispiel die Teilnahme an Friedenssicherungseinsätzen der Nato. Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stand vor allem eine Frage im Raum: Wie verteidigen wir uns, wenn auch wir angegriffen werden? Als bündnisfreies Land hatten wir zwar diverse Abkommen – aber keine Sicherheitsgarantien. Niemand war verpflichtet, uns im Ernstfall zu helfen. Der Ukraine-Krieg hat die Grenzen nationaler Abschreckung offengelegt. Wir erkannten: Wir brauchen Partner mit einer Beistandspflicht. In Europa bietet das nur die Nato.

Im Mai 2022, also nur drei Monate später, reichte Schweden zusammen mit Finnland das Beitrittsgesuch ein.

Der gemeinsame Weg war uns wichtig. Seit dem 12. Jahrhundert bildeten Schweden und Finnland zusammen ein Reich – bis Russland im Jahr 1809 den östlichen Teil dieses Reichs, also Finnland, besetzte. Seit unser Nachbar 1917 die Unabhängigkeit erlangt hat, pflegen wir eine enge sicherheitspolitische Partnerschaft. Gemeinsam stärken wir nun die Nordflanke der Nato.

Doch auch die schwedische Armee wurde, wie viele andere in Europa, in den letzten Jahrzehnten verkleinert.

Das ist so. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir bei der Verteidigung massiv gespart. Während des Kalten Krieges gaben wir über 4 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) für die bewaffnete Neutralität aus – heute sind es 2,4 Prozent. Nun will die Regierung diesen Wert bis 2030 auf 3,5 Prozent steigern. Auch die Nato dürfte im Juni den Zielwert, der heute bei 2 Prozent liegt, erhöhen.

Wie finanziert der schwedische Staat diese Ausgaben?

Wir haben eine der niedrigsten Staatsverschuldungen in der Europäischen Union: rund 36 Prozent des BIP. Deswegen können wir das verkraften.

Die Schuldenquote in der Schweiz liegt sogar noch tiefer, bei 17 Prozent des BIP. Dennoch streiten sich Regierung und Parlament bis heute darüber, wie die Nachrüstung finanziert werden soll. Was ist Schwedens Lösung?

Wir planen, bis 2035 zusätzlich rund 26,4 Milliarden Franken in die Armee zu investieren. Gleichzeitig möchten wir unsere gesellschaftspolitischen Verantwortlichkeiten weiterhin wahrnehmen, um den hohen Lebensstandard in Schweden nicht zu gefährden. Aus diesem Grund finanzieren wir die Nachrüstung über Staatsanleihen, statt in anderen Bereichen zu sparen. Aus schwedischer Sicht wäre die Bündnisfreiheit allerdings langfristig teurer geworden als die Ausgaben, die wir nun als Mitglied der Nato tätigen.

Das Schweizer Parlament hat beschlossen, 1 Prozent des BIP in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren. Also prozentual weniger als ein Drittel von dem, was Schweden investieren möchte. Mit diesem Plan wird die Schweizer Armee voraussichtlich 2050 verteidigungsfähig. Reicht das?

Ich bin nicht hier, um über die Schweiz zu urteilen. Schweden und die Schweiz pflegen eine lange Freundschaft im Bereich der Sicherheitspolitik. Wir überwachen beispielsweise gemeinsam seit über siebzig Jahren den Waffenstillstand zwischen Süd- und Nordkorea. Jedes Land muss für sich die geopolitische Lage analysieren und seine eigenen Schlüsse ziehen. Aber ich glaube, der Weg Schwedens könnte auch für die Schweiz aufschlussreich sein.
Gegenwärtig habe ich den Eindruck, dass die Mehrheit des Schweizer Parlamentes deutlich aktiver im Bereich der Sicherheitspolitik sein möchte.

Wie kommen Sie darauf?

Anfang März hatte der Nationalrat beispielsweise einer Erklärung zugestimmt, die mehr sicherheitspolitische Kooperation mit der EU fordert. Der Bundesrat wurde beauftragt, weitere Möglichkeiten zu prüfen und konkrete Schritte vorzulegen. Das fand ich sehr interessant.

Das mag sein, aber die Schweiz hält offiziell an der bewaffneten Neutralität fest.

Jeder Staat ist frei, selbst zu entscheiden, wie er auf den russischen Angriff reagiert. Die Schweiz hat einen Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 verfasst. Darin werden zwei Schwerpunkte genannt, die wir auch in Schweden intensiv diskutiert haben: eine verstärkte militärische Zusammenarbeit in Europa und die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit.

Schweden profitiert sicherheitstechnisch von der Nato. Was können Sie dem Bündnis bieten?

Wir engagieren uns in mehreren Bereichen, um die Abschreckung des Bündnisses zu stärken. In Lettland stellen wir ein Panzerbataillon, in Polen unterstützen wir die Luftüberwachung, in Finnland werden wir ein Nato-Kommando leiten. Seit den Zwischenfällen mit Unterwasserkabeln verstärkte die Nato ihre Präsenz in der Ostsee, unsere Marine ist Teil dieser Abwehr. Ausserdem unterstützen wir die Ukraine erneut mit fast 1,4 Milliarden Franken. Es handelt sich um unser 19. militärisches Hilfspaket und das bislang grösste seit Kriegsbeginn. Die Ukraine hat um Hilfe für ihre Flugabwehr und ihre Marine gebeten, um Artilleriemunition, gepanzerte Fahrzeuge und Satellitenkommunikation. Früher haben wir Armeematerial aus den Beständen unserer eigenen Streitkräfte gegeben. Nun aber kaufen wir das nötige Material auch direkt bei den Rüstungsfirmen und schicken es in die Ukraine.

Die Schweiz unterstützt die Ukraine militärisch nicht. Schweden hat bislang in diesem Bereich fast 7 Milliarden Franken gespendet. Warum engagiert sich Ihr Land so stark in der Ukraine?

Die schwedische Regierung ist überzeugt: Die Ukraine verteidigt in diesem Krieg auch Europa. Falls Russland seine Kriegsziele erreicht, könnte es weitere Länder angreifen. Deswegen sieht es Schweden als essenziell für seine eigene Sicherheit an, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert.

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