Dienstag, April 22

Der März war für die Ukraine ein ereignisreicher Monat: Putins Sieg in der Präsidentschaftswahl, der Moskauer Terroranschlag, erfolgreichere russische Luftangriffe, sich verschärfender Munitionsmangel. Der Kampf um die Metropole Charkiw scheint neu entbrannt.

Irgendwann, im Jahr 2012, hörte ich in der TV-Comedy-Sendung «KWN», die damals sowohl in der Ukraine als auch in Russland geschaut wurde, einen Witz über Putins Zwischenpräsidenten. Sprich über Präsidenten, die Putin vorübergehend ablösen würden, während er, der russischen Verfassung entsprechend, nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten das Amt ruhen liesse. Darauf würde Putin natürlich wieder für zwei aufeinanderfolgende sechsjährige Amtsperioden russischer Präsident werden, bis es Zeit für den nächsten Zwischenpräsidenten würde. Die Urheber des Witzes prophezeiten, dass es insgesamt fünf Putin-Zwischenpräsidenten geben werde. Die Rechnung zeigt, dass Putin in diesem Fall bis etwa 2090 Präsident bleiben und mindestens 138 Jahre alt werden würde.

Damals schaute jeder «KWN», sogar Präsidenten führten sich die Sendung zu Gemüte. Ich bin überzeugt, Putin hat der Witz gefallen. Vielleicht war es unter allen «KWN»-Witzen sogar sein Lieblingswitz.

Süsses und steifes Lächeln

Es erscheint heute seltsam, aber damals wirkte dieser Witz lustig und kam relativ unschuldig daher. Selbst Andrei Makarewitsch, einer der berühmtesten Rockmusiker Russlands, der in der Jury sass, lachte ausgelassen und ansteckend darüber. Einmal, es war 2003, sass Makarewitsch bei einem Paul-McCartney-Konzert in Moskau neben Putin. Sie residierten in der ersten Reihe und flüsterten sich gegenseitig etwas ins Ohr; Makarewitsch lächelte Putin süss an, und Putin lächelte steif, aber freundlich zurück.

Im Jahr 2012 unterstützte Makarewitsch Putin nach wie vor. Er wusste damals noch nicht, dass er bald in Ungnade fallen und zwei Jahre später über Russland sagen würde: «Ich fürchte, diese Nation ist nicht mehr zu retten.» Es waren Worte wie ein Nagel, der in den Sargdeckel geschlagen wird.

Aber natürlich konnte keiner der etwa achthundert im Saal Anwesenden ahnen, welche Schrecken die Zukunft barg.

Wenn ich mir in diesen Tagen diese Sendung wieder anschaue, kann ich mich kaum noch auf die Witze auf der Bühne konzentrieren. Es drängt sich mir die Vorstellung auf, dass plötzlich vier Terroristen in den Gängen auftauchen und mit automatischen Waffen auf die Leute zu schiessen beginnen. Dieser Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf, und die Tatsache, dass ich darüber nachdenke, anstatt die Witze zu geniessen, ist das Ergebnis von Putins fünfundzwanzigjähriger Herrschaft in Russland.

Diesen März hat sich Putin erneut zum Präsidenten ernannt, sich nicht länger um so einen Unsinn wie Gesetze, demokratische Verfahren oder Zwischenpräsidenten scherend. Im Jahr 2036, wenn er aufgrund der bestehenden Verfassung nicht mehr gewählt werden kann, wird Putin diese abändern oder sich selber zum Zaren ernennen oder sich sonst etwas einfallen lassen. Alles ist möglich.

Die Präsidentschaftswahl, bei der Putin sich selber neu ernannt hat, war fade und langweilig und keineswegs das Happening, das er sich von ihr erhofft hatte. Das Hauptereignis war vielmehr der Terroranschlag in der Moskauer Crocus City Hall, der sich als russische Version des Reichstagsbrandes von 1933 entpuppen könnte oder auch nicht.

Allerdings ist in der Crocus-Konzerthalle auch nichts Neues passiert. Bewaffnete Männer, die nach der Einschätzung von Experten eine russische Militärausbildung genossen hatten, schossen auf eine Menge ahnungsloser Zivilisten, die einfach nur ihr Leben gelebt und niemandem etwas zuleide getan hatten. Das Kommando brachte über hundert Menschen um.

Freilich war erst kürzlich, am 15. März, dasselbe in Odessa geschehen: Bewaffnete Personen mit russischer Kampfausbildung und russischem Pass griffen Wohnhäuser mit Raketen an und feuerten kurze Zeit später erneut Raketen auf dieselben Ziele, um die Zahl der Opfer zu erhöhen, indem sie Sanitäter und Retter erwischten. Damals starben einundzwanzig Menschen.

Gewiss entspricht die Zahl der Opfer einem Sechstel oder Siebtel derer im Crocus, aber es scheint, dass die Welt bereits vergessen hat, dass es zwei Wochen zuvor einen weiteren Angriff auf Wohnhäuser in Odessa gegeben hat. Damals kamen zwölf Menschen um, fünf von ihnen Kinder. Es waren friedliche Menschen, die ihr Leben lebten und niemandem etwas zuleide getan hatten. Es wird mit Gewissheit neue solche russische Angriffe geben.

Wenn «Faschismus» nicht mehr greift

Vielleicht aber war das wichtigste Ereignis des März weniger der Moskauer Terroranschlag, der so viele Menschenleben forderte, sondern das, was unmittelbar danach in dessen Folge geschah.

Wenn Staatsbedienstete einem Verdächtigen ein Ohr abschneiden und ihn zwingen, dieses zu essen, die ganze Szene auf Video aufnehmen und medial verbreiten, müssen wir uns erst noch überlegen, welchen Namen wir diesem Vorgang geben wollen. In der bestehenden Sprache gibt es dafür noch keine angemessene Bezeichnung. Es ist bestimmt nicht einfach «Faschismus». Ich glaube nicht, dass Faschisten solche Dinge getan hätten, selbst wenn sie damals über Handys verfügt hätten. Sie hätten es eher heimlich, im Stillen getan, aber nicht offen, im Namen des Staates.

Der IS zum Beispiel könnte so vorgegangen sein, aber der IS ist kein Staat, sondern eine terroristische Organisation. Ein Staat, der sich so etwas gestattet, sollte eine spezielle Benennung haben, aber sicher nicht faschistisch.

Bisher wurden die schlimmstmöglichen Dinge im politischen Leben gerne als faschistisch bezeichnet. Die Ukraine bezeichnet Russland als einen faschistischen Staat, und Russland wiederum nennt die Ukraine einen ebensolchen. Es scheint, dass nach diesem Krieg ein neuer Begriff geprägt werden muss, um die Gipfel des politisch Bösen zu fassen, welche die Menschheit in jüngster Zeit erklommen hat. Wenn man den Nationalsozialismus abrechnet, könnten die verbrecherischen Rekorde des «Faschismus», der acht Jahrzehnte lang andauerte, durchaus gebrochen werden.

Das Gebäude des umfassenden Bösen ist nicht einfach zu errichten, vor allem nicht in der Grössenordnung eines gigantischen Staates. Das Böse ist wie ein Kartenhaus: Je höher man es baut und je mehr Stockwerke man hinzufügt, desto instabiler wird es und desto leichter stürzt es beim kleinsten Windhauch ein. Und dann werden die Menschen, die jetzt dem unsterblichen und unersetzlichen Diktator Putin die Treue schwören, jubeln wie 1801 nach dem Tod von Zar Paul I.

Da ich dies schreibe, sind es noch ein paar Tage hin bis Ende März, und in dieser Zeit kann alles passieren. Der März ist der gefährlichste Monat für Alleinherrscher in Russland. Im März starb Iwan der Schreckliche. Im März fand Stalin sein Ende. Im März töteten Terroristen den russischen Zaren Alexander II. im siebten Anlauf. Im März trifft es Tschernenko, einen der letzten Machthaber der Sowjetunion. Im März verübten Verschwörer ein Attentat auf den russischen Zaren Paul I., was zu einem Sturm der Volksfreude führte. Zig Millionen von Menschen auf der ganzen Welt hoffen, dass die Tradition des guten März in diesem Jahr fortgesetzt wird.

Als ich mir die Aufzeichnung der «KWN»-Sendung von 2012 ansah, merkte ich plötzlich, dass ich mich in diese Zeit zurückwünschte, aber nicht, weil ich mich nostalgisch nach der Ära der politischen Naivität und der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland sehne. Egal welchen Film oder welche Sendung ich mir zu Gemüte führe, ich muss immer daran denken: Ich möchte dort sein, und dort auch, und dort ebenso.

Nicht, weil es dort gut ist, sondern weil ich es leid bin, im Hier und Jetzt zu sein, beinahe im Zentrum dieses endlosen Krieges, in der Stadt Charkiw, in der wir nach weiteren russischen Angriffen nur noch für ein paar Stunden am Tag Strom und Internet haben. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund weichen diese Stunden voneinander ab: Wenn es Strom hat, gibt es kein Internet, und wenn das Internet läuft, fehlt der Strom.

Aber die Explosionen rumpeln ständig. Und es ist noch immer nicht leicht, in einer Stadt zu leben, in der kleine Mädchen über ein Gummiband springen, das zwischen zwei Panzerabwehr-Igeln aufgespannt ist.

Neue Bombenoffensive

Ein weiteres wichtiges März-Ereignis ist, dass die Ukraine den Abschuss russischer Flugzeuge eingestellt hat. Der letzte Kampfjet wurde am 2. März vom Himmel geholt – unmittelbar zuvor waren drei Maschinen abgeschossen worden. Im Durchschnitt wurde früher mehr als ein feindliches Flugzeug pro Tag ausgeschaltet. Und plötzlich hörte alles auf. Was keineswegs heisst, dass die russische Luftwaffe aufgehört hat, uns zu bombardieren.

Im Gegenteil: Heute wurde Charkiw zum ersten Mal seit zwei Jahren von Flugzeugen bombardiert, und eine der Bomben legte eine Schule in Schutt und Asche. Wahrscheinlich sind den ukrainischen Streitkräften die Flugabwehrraketen ausgegangen – die Moderatoren des Krieges in Übersee verweigern uns seit einiger Zeit den dringend benötigten Waffennachschub.

Immerhin stehen jetzt immer wieder feindliche Ölraffinerien in Flammen. Von allen grossen russischen Raffinerien im Umkreis von tausend Kilometern von der Grenze zur Ukraine ist nur eine unbeschädigt geblieben. Es gibt noch ein paar mittelgrosse und ein paar kleine Raffinerien, die intakt sind, aber auch dort werden ukrainische Drohnen hingelangen, es ist nur eine Frage der Zeit. Von allen russischen Raffinerien haben ukrainische Drohnen etwa ein Drittel beschädigt. Russland sieht sich bereits gezwungen, die Ausfuhr von Dieselkraftstoff einzustellen.

Als Folge unserer Nadelstiche wird es auf jeden Fall einen Mangel an Treibstoff für die Aussaat geben, und wenn es so weitergeht, wird es auch die Panzer treffen. Panzer sind in Russland freilich wichtiger als Lebensmittel, daher wird Diesel zuerst für Panzer und erst dann für Traktoren, Sämaschinen und andere landwirtschaftliche Geräte verwendet.

Es gab Gerüchte, dass die amerikanischen Moderatoren des Krieges der Ukraine aus wahltaktischen Gründen nahegelegt haben, die russischen Ölraffinerien nicht weiter zu attackieren. Doch die Ukraine hält an ihrem eigenen Kurs fest. Die Ölraffinerien brennen noch immer, und egal wie sehr Putin tobt, egal wie heftig er ukrainische Städte bombardiert, es gibt nichts, was er dagegen tun kann.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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