Der Bundesrat dürfte seine Unterhändler bald nach Brüssel schicken: In der Konsultation sprechen sich nahezu alle Akteure für neue Verhandlungen aus. Doch wie viel ist das wert? Gross sind die Fragezeichen beim Stromabkommen.
Einen offiziellen Zeitplan gibt es nicht. Der inoffizielle aber sieht laut gut informierten Kreisen vor, dass die neuen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU bereits im März beginnen könnten. Zwar hat der Bundesrat noch nicht definitiv entschieden, ob er sich tatsächlich auf konkrete Verhandlungen über das anvisierte Vertragspaket einlassen soll. Offenbar will er dies aber an einer der nächsten Sitzungen tun. Dass er sich dagegen entscheidet, ist praktisch ausgeschlossen – vor allem angesichts des Echos aus der inländischen Konsultation, die soeben zu Ende gegangen ist.
Darum geht es bei dem geplanten Paket
Der Bundesrat und die EU-Kommission wollen ein Paket mit diesen Elementen schnüren:
– neue Abkommen zu den Themen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
– Regeln zu Rechtsübernahme und Streitbeilegung für Abkommen, mit denen die Schweiz Teil des EU-Binnenmarkts ist (v. a. Personenfreizügigkeit, Verkehr, Anerkennung von Produkten, Agrarhandel; neu auch Strom)
– Ausnahmen für die Schweiz im Bereich Zuwanderung und Lohnschutz
– gesicherte Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen für Forschung, Bildung u. a.
– Vorschriften zu Staatsbeihilfen für Verkehr und Strom
– regelmässige Kohäsionszahlungen der Schweiz an EU-Länder
Grüne Lichter, wohin man blickt: So lassen sich die Rückmeldungen in aller Kürze zusammenfassen. Praktisch alle Kräfte, die sich zu Wort gemeldet haben – von den Kantonsregierungen über die Parlamentskommissionen und die Wirtschaftsverbände bis hin zu den notorisch skeptischen Gewerkschaften –, sprechen sich für die Aufnahme von Verhandlungen aus. Der einzige mächtige Akteur, der es anders sieht, ist die SVP. Nun könnte man meinen, damit sei die Sache innenpolitisch gelaufen, das Paket, das immer öfter als «Bilaterale III» tituliert wird, sei politisch breit abgestützt.
Doch so sicher ist die Sache nicht. Auch wenn die allermeisten Stellungnahmen grundsätzlich positiv ausfallen, enthalten sie auch kritische Hinweise und zusätzliche Forderungen, die teilweise relativ weit gehen. Ob in diesen Fällen die grundsätzliche Zustimmung auch noch anhält, wenn die Zusatzwünsche in den Verhandlungen nicht erfüllt werden können, ist offen. Dass vor allem die Gewerkschaften beim Thema Lohnschutz weitere Verbesserungen verlangen, liegt auf der Hand. Doch das ist nicht alles.
Brisante Forderung der Wirtschaft
Auch Akteure, die sich zuvorderst für eine Lösung mit der EU einsetzen, platzieren bemerkenswerte Forderungen. Das gilt primär für zwei der wichtigsten Stimmen der Wirtschaft. Economiesuisse und der Arbeitgeberverband verlangen substanzielle Verbesserungen bei einem der umstrittensten Teile des Pakets: bei der Streitbeilegung. Es geht dabei um die Frage, wie die EU reagieren darf, wenn die Schweiz sich einmal querlegen und eine Rechtsübernahme verweigern sollte.
Klar ist, dass die EU in diesem Fall «Ausgleichsmassnahmen» ergreifen kann, die verhältnismässig sein müssen. Aber sollen diese Gegenschläge nur innerhalb des jeweils betroffenen Abkommens erlaubt sein oder auch in anderen? Was abstrakt klingt, kann ganz praktische Folgen haben.
Dazu kursiert ein Beispiel, das bei Schweizer Bauern für Unruhe sorgt. Bis jetzt ist vorgesehen, dass die EU in allen Bereichen intervenieren könnte, in denen die Schweiz Zugang zu ihrem Binnenmarkt hat. Sollte die Schweiz zum Beispiel bei der Zuwanderung eine relevante Rechtsanpassung ablehnen, die sie eigentlich übernehmen müsste, könnte Brüssel in einem gravierenden Fall allenfalls Zölle auf Schweizer Käse erheben. Oder es könnte die Anerkennung von Schweizer Produkten anderer Branchen erschweren.
Das geht Economiesuisse und den Arbeitgebern zu weit. Sie mahnen, dadurch werde die Rechtssicherheit für die Wirtschaft gefährdet, die mit dem Paket erreicht werden solle. Die Verbände fordern, die Möglichkeit von solch sachfremden Gegenmassnahmen einzuschränken oder zumindest genauer zu definieren.
Für die Schweiz hätte das eindeutige Vorteile. Falls sie sich bei der Rechtsübernahme je einmal querlegen würde, dann wohl am ehesten in politisch heiklen Fragen rund um Zuwanderung oder Lohnschutz. Sie könnte dies umso eher riskieren, wenn die EU nur in ebendiesen Bereichen zurückschlagen könnte. Müsste die Schweiz hingegen mit Nachteilen zulasten der Bauern, der Medtech-Branche oder anderer Exporteure rechnen, wäre die Sache weniger angenehm. Umgekehrt hat die EU wohl kein grosses Interesse, hier freiwillig nachzugeben.
Dürfte die EU sofort intervenieren oder nicht?
Interessant ist die zweite Forderung der Wirtschaftsverbände, die von der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats geteilt wird: Sie verlangen, dass die EU in einem Streitfall erst dann Gegenmassnahmen ergreifen darf, wenn feststeht, dass diese verhältnismässig sind.
Das würde der Schweiz Rechtssicherheit und Zeit verschaffen. Wenn sie eine Massnahme der EU als übertrieben erachten würde, könnte sie sich vor dem geplanten Schiedsgericht dagegen zur Wehr setzen. Ihre Beschwerde hätte aufschiebende Wirkung. Brüssel müsste warten, bis ein Urteil vorliegt. Ohne solche Klausel hingegen könnte die EU der Schweiz theoretisch Schäden zufügen, die sich nachträglich als unverhältnismässig herausstellen. Auch hier müssten die Schweizer Unterhändler Verbesserungen herausholen, finden die Wirtschaftsverbände.
Zwiespältiges Stromabkommen
Daneben werden in der Konsultation konkrete Forderungen zu Sachfragen laut. Zum Beispiel zum Dauerbrenner Personenfreizügigkeit: Die Kantone verlangen mehr Klarheit, wie eine Zuwanderung in die Sozialhilfe verhindert werden soll, und der Gewerbeverband hält fünf Jahre Erwerbsarbeit zum Erlangen des Daueraufenthalts für zu wenig.
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats wünscht sich eine verbindliche Schutzklausel, um die Einwanderung bei sozialen oder wirtschaftlichen Problemen temporär einschränken zu können. Sie hat zudem auf Betreiben der SP wesentliche weitere Zusatzwünsche formuliert: Sie findet, die Schweiz müsse von der EU beim Lohnschutz, im internationalen Bahnverkehr und beim Strom weitergehende Konzessionen verlangen.
Im Bundesrat dürfte vor allem der Strom noch einiges zu reden geben in den nächsten Tagen. Die Skepsis gegen das geplante Stromabkommen, die sich in der Konsultation zeigte, ist grösser als erwartet. Dass die Gewerkschaften gegen eine weitere Liberalisierung sind, war schon länger bekannt. Doch nun äussern sich insbesondere auch mehrere Parlamentskommissionen auffällig skeptisch. Die Forderungen sind nicht einheitlich, der Tenor aber ist deutlich.
Die Kritiker wollen das Stromabkommen stärker eingrenzen als vom Bundesrat geplant. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats möchte es auf die Netzstabilität – die Integration der Schweiz in das europäische Stromnetz – beschränken und darüber hinaus höchstens noch den Handel einbeziehen. Die Produktion hingegen will sie ausnehmen, ebenso alle nationalen Reserven und sämtliche staatlichen Beihilfen.
Mit der von der EU verlangten Liberalisierung des Strommarkts tun sich auch Bürgerliche schwer: Mehrere Kommissionen und Verbände verlangen konkrete Absicherungen, dass Privathaushalte weiterhin in der Grundversorgung bleiben oder sogar dorthin zurückwechseln können, wie dies der Bundesrat angekündigt hat.
Lässt sich das Paket noch redimensionieren?
Ob die EU bei einem «Mini-Stromabkommen» mitmachen würde, ist nicht klar. Sie setzt das Stromnetz zurzeit auch als politisches Druckmittel ein: Selbst rein technische Kooperationen macht sie von einer umfassenden politischen Einigung abhängig. Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats spricht denn auch die Grundsatzfrage an: Wäre es für die Erfolgschancen des Vertragspakets besser, wenn das Stromabkommen vollständig daraus entfernt würde?
Die Skepsis in der Konsultation deutet tatsächlich darauf hin, dass das ohnehin ehrgeizige Projekt durch das Thema Strom zusätzlich erschwert werden könnte. Allerdings ist auch das Gegenteil denkbar. Das Stromabkommen könnte einen der wenigen handfesten Vorteile liefern: Eine Verbesserung der Netzstabilität und der Versorgungssicherheit wäre ein starkes Ja-Argument.
Die Aussenpolitiker des Ständerats betonen, es müsse notfalls möglich sein, auf das Stromabkommen (vorläufig) zu verzichten, ohne den Rest des Pakets zu gefährden. Unmöglich sollte das nicht sein, zumal es die Schweiz war, die den Abschluss eines Stromabkommens wünschte. Aber wäre es auch gut? Die Netzgesellschaft Swissgrid und die Strombranche pochen nach wie vor vehement auf das Abkommen.
Unklarer Spielraum des Bundesrats
Der Bundesrat steht vor schwierigen Fragen. Wenn er demnächst über das Verhandlungsmandat entscheidet, dürfte die Frage, wie er mit dem Thema Strom umgeht, zu den spannendsten gehören. Die Schweiz und die EU haben in Sondierungsgesprächen das Feld für die Verhandlungen bereits abgesteckt. Ist der Bundesrat jetzt überhaupt noch bereit, Forderungen aus der Konsultation aufzunehmen, die darüber hinausgehen? Aus einzelnen Departementen sind unterschiedliche Signale zu vernehmen. Falls er es tut, dürfte die EU ihrerseits bei anderen Streitpunkten ebenfalls Konzessionen verlangen.
Beide Seiten haben sich dazu bekannt, die Verhandlungen noch im laufenden Jahr beenden zu wollen. Erst dann ist eine abschliessende Würdigung möglich. Erst dann beginnt in der Schweiz auch das Finale der innenpolitischen Debatte. Die Gewerkschaften verlangen parallel zum Vertragspaket autonome Reformen im Inland: eine einfachere Durchsetzung von Gesamtarbeitsverträgen, strengere Regeln für Temporärarbeit und anderes mehr.
Die Wirtschaftsverbände lehnen das in der Konsultation vehement ab. Darüber entscheiden wird das Parlament wohl 2025 oder 2026. Das letzte Wort zum gesamten Paket wird das Volk an der Urne haben. Noch nicht geklärt ist, ob auch ein Ständemehr notwendig sein wird. Vor allem aber ist unklar, was die Alternative wäre, wenn das Projekt scheitern sollte – wenn der «bilaterale Weg» der Schweiz nach 25 Jahren auch im zweiten Anlauf nicht erneuert werden kann.