Dienstag, Oktober 1

Am Samstag findet zum ersten Mal seit 40 Jahren ein «Sonderkongress» der Zeugen Jehovas in Zürich statt.

Viele Menschen kennen die Zeugen Jehovas als ungebetene Gäste an der Haustüre. Weltweit haben die selbsternannten Verkünder Millionen von Mitgliedern. Und so kommt es, dass sie direkt nach AC/DC und Taylor Swift nun das Letzigrund-Stadion füllen. Ihr internationaler Sonderkongress findet von Freitag bis Sonntag in Zürich statt – das gab es in der Stadt seit 40 Jahren nicht mehr. Die Zeugen Jehovas rechnen mit 20 000 Gästen, die täglich ins Stadion strömen sollen.

Kritiker der Religionsgemeinschaft sehen das gar nicht gerne. So bezeichnete es ein Religionswissenschafter als «fragwürdig», dass die Stadt den Zeugen Jehovas das Stadion vermietet hat. Die Gruppierung sei nicht so harmlos, wie es den Anschein mache.

Hier die wichtigsten Antworten zum Besuch der Zeugen Jehovas in Zürich.

Was hat es mit dem Treffen in Zürich auf sich?

Die Zeugen Jehovas veranstalten in Zürich einen ihrer Sonderkongresse. Es handle sich dabei um den ersten Anlass dieser Art seit 40 Jahren in Zürich. Explizit eingeladen dazu sind die Mitglieder aus den umliegenden Ländern sowie auch aus Australien, Nordamerika oder der Ukraine. Die Veranstalter erwarten rund 3500 Gäste aus dem Ausland. Der Kongress hätte schon 2020 stattfinden sollen, wurde wegen der Pandemie aber verschoben. An der Organisation des Kongresses wirken über 5000 freiwillige Helferinnen und Helfer mit.

Dieses Jahr finden weltweit 15 solche Grosskongresse statt. In Zürich lautet das Motto: «Macht die gute Botschaft bekannt!» Diese Kongresse verstehen die Zeugen Jehovas als Feiertage, an denen sie ihren Glauben zelebrieren. Es wird gesungen und gebetet, es gibt Vorträge und Diskussionen. Und es wird auch der erste Teil der von vielen Mitgliedern mit Spannung erwarteten Verfilmung von Jesu Leben gezeigt. Der Mehrteiler, der noch in Produktion ist, soll insgesamt 1000 Minuten dauern.

Warum stehen die Zeugen Jehovas immer wieder in der Kritik?

Einerseits sorgen strenge Verhaltensregeln und die antiquierten Moralvorstellungen für Kritik. Andererseits aber auch der Umgang mit Mitgliedern, die sich nicht an die Regeln halten oder aus der Gemeinschaft ausscheiden wollen. Gemäss Berichten von Betroffenen werden diese sozial isoliert. Die Fachstelle Infosekta schreibt dazu: Mit ehemaligen Mitgliedern «dürfen Angehörige und Freunde, die der Gemeinschaft angehören, keinerlei Kontakt mehr pflegen». Das gelte sogar für enge Angehörige, wenn diese nicht mehr im selben Haushalt wohnten.

Da die Gemeindemitglieder vor allem innerhalb der Gemeinschaft soziale Kontakte pflegen, sind die Folgen dieses Ausschlusses umso gravierender. Es handle sich dabei um eine Art «von oben verordneten Mobbings», schreibt Infosekta weiter.

Immer wieder werden auch Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern laut. Die Strukturen der Gemeinschaft führten dazu, dass viele Vorfälle nie ans Licht kämen. Eine Untersuchung der australischen Behörden von 2015 zeigte zum Beispiel, dass die australische Sektion der Zeugen Jehovas Akten über 1000 mutmassliche Täter und 1800 mutmassliche Opfer hatte. Diese Fälle reichen zurück bis ins Jahr 1950, keiner der Fälle wurde von der Gruppe der Polizei gemeldet.

Warum hat die Stadt das Stadion trotz der Kritik vermietet?

Aus Sicht der Stadt gab es keine Gründe, eine Vermietung zu verweigern. Der Sprecher des Sportdepartements sagte im «Blick»: Die Vermietung sei im Sinne einer nicht diskriminierenden Gleichbehandlung erfolgt. Sofern es keine Sicherheitsbedenken gebe und keine strafrechtlichen Gründe vorlägen, würden solche Anfragen bewilligt.

Was sagt die Gruppierung zu der Kritik an ihr?

Zur sozialen Isolation ehemaliger Mitglieder sagt der Sprecher der Zeugen Jehovas Schweiz, Dominic von Niederhäusern, dass die öffentliche Diskussion von extremen Einzelfällen geprägt sei. Jedem stehe es offen, die Gemeinschaft zu verlassen und nach anderen Grundsätzen zu leben. Dass man dann nicht mehr gleich viel Zeit mit diesen Personen verbringe, sei normal. Die Mitglieder seien gehalten, allen Menschen Nächstenliebe zuteilwerden zu lassen.

Von Niederhäusern räumt aber ein, dass die Zeugen den Grundsatz haben, «keinen engen Kontakt mehr mit jenen zu pflegen, welche sich bewusst entschieden haben, dass sie unsere Werte nicht mehr teilen». Dies gelte aber nicht innerhalb der Familie. Die Familie habe in der Gemeinschaft einen hohen Stellenwert. Und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sei zu dem Schluss gekommen, dass die Glaubenspraxis der Zeugen Jehovas rechtens sei.

Zum Thema der sexuellen Missbräuche sagt von Niederhäusern: «Wir verachten jegliche Form von sexuellen Übergriffen und verurteilen solche Vorfälle auf Schärfste.» Es sei auch klar, dass solche Fälle zur Anzeige gebracht werden müssten. Intern gebe es klare Richtlinien, sich an die gesetzlichen Anzeigepflichten zu halten.

Woran glauben die Zeugen Jehovas?

Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Glaubensgemeinschaft. Jehova ist für sie der allmächtige Gott und Schöpfer. Im Zentrum ihrer Theologie steht zudem der Glaube an das nahe Ende der heutigen Welt. In der Schlacht von Armageddon soll das Engelheer über Satan triumphieren. Als Auserwählte sollen die Mitglieder der Zeugen gerettet werden und in Gottes Reich eintreten.

Worin unterscheiden sie sich von anderen christlichen Gemeinschaften?

Die Zeugen haben eine eigene Bibel-Auslegung, die sich von jener anderer christlicher Gemeinschaften unterscheidet. Sie versuchen auch im Alltagsleben «den Grundsätzen der Bibel» nachzuleben. Zudem pflegen sie eigene Praktiken. Feste wie Weihnachten oder Ostern feiern die Zeugen Jehovas nicht, sie sind der Ansicht, dass diese heidnischen Ursprungs sind. Aus dem gleichen Grund verzichten sie auch auf Geburtstagsfeiern.

Die Zeugen Jehovas lehnen die Vorstellung der Trinität ab, der Einigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Für sie sind Gott und Jesus zwei Personen: Vater und Sohn. Den Heiligen Geist verstehen sie als die wirksame Kraft Gottes.

Die Zeugen Jehovas haben keine Kirchen, sondern treffen sich in sogenannten «Königreichsälen». Diese sind schlicht eingerichtet, religiöse Symbole wie Kreuze, Heiligenbilder oder Altäre gibt es darin nicht.

Welche besonderen Verhaltensregeln gelten für Mitglieder?

Die Mitglieder der Zeugen Jehovas müssen strenge Vorschriften befolgen. Die wohl extremste besteht darin, dass sie keine Bluttransfusionen annehmen dürfen, weil die Bibel klar sage, dass man sich von Blut enthalten müsse. Blut stehe für etwas, das Gott sehr heilig sei. Auch Eigenbluttransfusionen sind verboten, selbst wenn diese lebensrettend wären. Zeugen Jehovas haben auch eine enge, rigide Sexualmoral. Sex ist nur innerhalb der Ehe erlaubt, Homosexualität gilt als Sünde. Selbst der Konsum von Pornografie ist sündig, weil sie unmoralische und unreine sexuelle Wünsche wecke.

Rauchen gilt ebenfalls als Sünde. «Da Gott uns das Leben geschenkt hat, tun wir nichts, was unser Leben unnötig verkürzt», heisst es dazu auf der Website der Zeugen Jehovas. Der Drogenkonsum wird ebenso abgelehnt wie exzessives Feiern.

Den Mitgliedern wird auch abgeraten, wählen zu gehen oder politische Ämter zu bekleiden. Denn auch Jesus habe sich geweigert, politisch aktiv zu werden. Seine Jünger habe er gelehrt, «kein Teil der Welt» zu sein.

Höhere Bildung gilt innerhalb der Gemeinschaft als verpönt. Entsprechend wenige verfügen über einen Hochschulabschluss. Gemäss der eidgenössischen Volkszählung aus dem Jahr 2000 verfügen nur 6,8 Prozent der Mitglieder über eine höhere Ausbildung, in der Gesamtbevölkerung sind es 19,2 Prozent. Hingegen ist der Anteil der Verheirateten unter den Zeugen überdurchschnittlich hoch.

Wie ist die Gemeinschaft organisiert?

Eine Gruppe aus neun Männern bildet die geistliche Leitung aller Zeugen Jehovas. Sie wird «leitende Körperschaft» genannt und hat ihren Sitz in der Weltzentrale in Warwick im US-Gliedstaat New York. Sie sehen sich als von Gott geleitet und «nehmen die Bibel als Massstab für alle Entscheidungen», wie die Zeugen Jehovas auf ihrer Website schreiben. Die einzelnen Gemeinden werden von «Ältesten» geleitet. Nur Männer dürfen diese Funktion ausüben. Die Zeugen Jehovas sind eine patriarchale und streng hierarchische Organisation. Kritik von Mitgliedern ist nicht gerne gehört.

Die Zeugen Jehovas finanzieren sich hauptsächlich durch Spenden ihrer Mitglieder. Kirchensteuern ziehen sie nicht ein. Von den Mitgliedern wird aber erwartet, einen Teil ihres Einkommens an die Gemeinde zu spenden. Zudem wird auch ein grosses, unentgeltliches Engagement bei den Aktivitäten der Gemeinschaft erwartet.

Sind die Zeugen Jehovas eine Sekte?

Die Gemeinschaft selbst lehnt diese Bezeichnung ab. Auch Infosekta geht nicht so weit, spricht aber von einer Gruppe mit sektenhaften Merkmalen. In Deutschland sind die Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft offiziell anerkannt. Sie haben damit die gleichen Rechte wie die katholische und die evangelische Kirche. Das heisst, sie könnten theoretisch auch Kirchensteuern erheben oder Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anbieten. Auch in Österreich sind die Zeugen im Gegensatz zur Schweiz als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt.

Die Zeugen Jehovas weisen die Kritik zurück. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe festgehalten, dass es sich um eine bekannte Religion mit völlig friedlichen Aktivitäten handle.

Wie ist die Gruppierung entstanden?

Die Zeugen Jehovas gehen zurück auf die Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher, die Ende des 19. Jahrhunderts von Charles Taze Russell in den USA gegründet wurde. Den heutigen Namen bekam die Gruppierung erst 1931. Durch ihre starke Missionarsarbeit sind die Zeugen Jehovas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stark gewachsen. Verbreitet sind sie in Amerika, Europa, Afrika und Australien. In den meisten asiatischen Staaten haben sie nur wenige Mitglieder. Den Zeugen gehören weltweit rund 9 Millionen Menschen an, in der Schweiz sind es rund 20 000.

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