Sonntag, Oktober 13

Zwei herausragende Bücher sind im Rennen um den Deutschen Buchpreis. Ronya Othmann beeindruckt durch ihren Mut, doch Clemens Meyer verdient den Preis für seinen überwältigend sprachgewaltigen Jahrhundertroman.

Es gibt diese seltenen Bücher, die wie ein kantiger Berg aus der Literaturlandschaft herausragen. Sie sind anders, eigensinnig und gewichtig. Sie stemmen sich gegen den geschmeidigen Erzählstrom um Alltagserfahrungen und Zeitgeist. Sie schaffen keine ungebrochene Illusion, kein ungestörtes Eintauchen in eine Story, sondern hinterfragen die Bedingungen des Erzählens und das, was wir Wirklichkeit nennen.

Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am Montag verliehen wird, stehen dieses Jahr gleich zwei solcher Ausnahmebücher. Sowohl Ronya Othmanns literarische Dokumentation «Vierundsiebzig» als auch Clemens Meyers Jahrhundertroman «Die Projektoren» muten den Leserinnen und Lesern viel zu – und beide haben, aus unterschiedlichen Gründen, die Auszeichnung zum «Buch des Jahres» verdient.

Ronya Othmann gebührt er für ihren Mut, in den Abgrund unerträglicher Gewalt zu blicken. Die deutsch-kurdische Autorin setzt sich in «Vierundsiebzig» mit dem Genozid auseinander, den die Terrormiliz IS vor zehn Jahren an den Jesiden verübte. Das Massenverbrechen an der ethnischen Minderheit interessierte die Öffentlichkeit und die Politik wenig, aber Othmann weigert sich zu schweigen. Denn die Menschen, die in den nordirakischen Dörfern erschossen, vergewaltigt und versklavt wurden, könnten ihre Verwandten sein.

Die Autorin reist an die Orte des Verbrechens, recherchiert, hört den Opfern zu und stellt fest: Das Unvorstellbare, das Unmenschliche sprengt das Fassungsvermögen der Worte. Sie versagen angesichts der brutalen Greueltaten. Doch Othmann macht die Grenzen der Sprache auf so kluge und vielschichtige Weise zum Thema, dass «Vierundsiebzig» zu einer erschütternden Chronik wird.

Während Othmann ihr erzählerisches Scheitern radikal offenbart, überwältigt Clemens Meyer durch einen äusserst sprachmächtigen Text. «Die Projektoren» ist ein Wahnsinnsbuch. Der Schriftsteller aus Leipzig evoziert in seinem 1000-Seiten-Wälzer die magische Kraft des Erzählens, die aus dem Nichts heraus Welten erschaffen kann. Auf dem dunklen Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt er unmittelbar lebendige, seltsam flackernde Szenen aufleuchten, wie jene alten Projektoren, die in der Frühzeit des Kinos einen Lichtbogen in die staubige Dunkelheit warfen und dem Buch den Titel gegeben haben. Was im Kino mittels Projektion entsteht, entsteht beim Lesen durch unsere Vorstellungskraft. Aber wo liegt die Grenze zwischen Imagination und Einbildung, zwischen Projektion und Wahnsinn?

Warum wirkt Krieg auch anziehend?

Das bilderreiche Buch ist eine Hommage an das frühe Kino, das hier aber «Bioskop» heisst, wie im ehemaligen Jugoslawien, wo der Roman hauptsächlich spielt. Dort wird ein Bioskop zum Ort der Rettung. Im Kriegswinter 1942 in Novi Sad wird ein Kinosaal zur Zuflucht. Während draussen die Ustascha ein Massaker an serbischen Zivilisten verübt, schauen drinnen ein paar Gerettete zu, wie zwei Helden auf der Leinwand durch die Wüste reiten. Gezeigt wird die Karl-May-Verfilmung «Durch die Wüste».

Die romantischen Western des deutschen Unterhaltungsautors bilden eine Gegenwelt zur Realität des Krieges, und in der Folge wird die Leserin immer wieder auf Karl May treffen: Er geistert als Patient durch eine psychiatrische Klinik in Leipzig, seine Bücher tauchen auf, und ein Romanheld, den alle nur «Cowboy» nennen, wirkt als Stuntman und Übersetzer bei den Dreharbeiten von «Winnetou» mit. Die bekannten May-Filme wurden in den 1960er Jahren im kroatischen Velebit-Gebirge gedreht. Meyer lässt auch die Schauspieler Pierre Brice und Lex Barker auftreten.

Den Filmarbeiten widmet er ein eigenes Kapitel in Registerform, das er mit dem Balkankrieg der 1990er Jahre überblendet. «Die Projektoren» handelt nämlich nicht nur vom Erzählen in Wort und Bild, sondern auch vom Krieg, der im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien grausamer wütete und öfter wiederkehrte als anderswo.

Auch der Cowboy war im Krieg, da war er noch fast ein Kind. Mit den Partisanen kämpfte er gegen die Nazis, dennoch fiel er später bei Tito in Ungnade. Die grosse Narbe auf seinem Hals bedeckt er mit einem karierten Halstuch. Auch Georg, der in der DDR aufwächst und dessen Radikalisierung zum Neonazi Meyer eindringlich beschreibt, zieht in den 1990er Jahren in den Krieg, allerdings freiwillig, auf kroatischer Seite. Warum tut er das? Sucht er, wie einst Karl May «In den Schluchten des Balkan», das Abenteuer?

So fragt dieser Roman neben den Narben, die Krieg in Menschen hinterlässt, auch nach seiner Anziehungskraft. Meyer erforscht die dunkle Zone zwischen Heldenmythen, Politik und Kriegsbegeisterung. Hier hat sich schon mancher in den Wahn von Faschismus oder Nationalismus verirrt. Es ist ein tückisches Gelände, das der Autor in immer neuen Erzählformen auslotet. Dieses schillernde, vielstimmige, überbordende Buch besteht aus Dialogen und Zitaten, aus Märchen und Legenden, aus Notizen, Historie und Abenteuererzählungen, aus einer Reise nach Amerika in 293 Sätzen, aus Besuchen in der Psychiatrie, aus Aufzeichnungen eines ostdeutschen Journalisten, der als Kriegsreporter in den Balkan reist und behauptet, dass Gewehre sich in fotografische Flinten verwandeln.

Masslos phantasievoll

Den Anspruch, den Ereignissen ganz zu folgen, muss man beim Lesen dieser phantasmatischen Szenen bald aufgeben. Doch hinter den Indianern, Soldaten, Hochstaplern und Partisanen stecken unvergessliche Figuren, die im Lauf des Romans unverhofft wiederkehren, und sei es als Gespenst. Die Vergangenheit kehrt zurück, die Zukunft ist schon da, die Zeit spult hin und her wie eine Filmrolle. Die Bilder legen sich in flimmernden Panoramen übereinander. Das ist zwar verwirrend, aber dank Meyers erzählerischer Kraft ungeheuer faszinierend. Und je länger man auf dieser wilden Reise zwischen Belgrad und Leipzig, Novi Sad und Vukovar unterwegs ist, desto näher kommt man der Wirklichkeit: der Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie einer Gegenwart, in der erneut Populisten unsere Blicke mit Projektionen bannen.

Clemens Meyer beschwört die Geister, um sie kenntlich zu machen. Und es wäre ein Skandal, wenn er für diesen masslos phantasievollen, grossartigen Roman nicht den Deutschen Buchpreis bekäme. Sosehr sich Meyers fabulierendes Sprachvertrauen von Othmanns radikalem Hinterfragen unterscheidet, treffen sich die beiden Bücher doch in ihrem Drang, der Welt ausserhalb des Autoren-Ichs auf den Grund zu gehen – einer Welt, in der allzu oft Gewalt herrscht.

«Die Projektoren» wird am Ende gar auf unheimliche Weise zum Echoraum von Othmanns Buch. Der alt gewordene Cowboy reist in den Nordirak, in die vom islamistischen Terror zerstörte Gegend um Mosul, um seine Nichte zu suchen. In den Dörfern zeigt er alte Karl-May-Filme, die die Menschen für die Dauer des Films von ihren Sorgen ablenken. Sind das nun flackernde Trugbilder oder wirklicher Trost? Liest man Clemens Meyer, weiss man: Das Märchenerzählen ist kein Widerspruch zur Beschreibung der Wirklichkeit. Wir brauchen die Phantasie, um mit der Realität zurechtzukommen.

Ein Artikel aus der «»

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