Freitag, November 22

Die US-Tech-Riesen setzen neuerdings auf Nuklearenergie, um sich CO2-freien Strom für ihre wachsenden Rechenzentren zu sichern. Dafür sind auch neue Reaktortypen in Planung. Auch global gilt: Ab 2030 soll mit Blick auf die Klimaziele mehr Kernenergie neu ans Netz kommen als je zuvor.

Ende September hat Microsoft angekündigt, einen langjährigen Vertrag mit Constellation Energy abzuschliessen, und zwar für die Lieferung von Atomstrom. Dies, um den steigenden Energiebedarf ihrer Rechenzentren zu sichern mit einer CO2-neutralen Lösung. Dazu hat sich der Tech-Konzern verpflichtet. Er stellt in Aussicht, bis 2030 seinen kompletten Strombedarf aus CO2-neutraler Produktion zu decken.

Paradox daran ist allerdings zweierlei: Erstens geht es beim Deal um die Wiederinbetriebnahme eines Reaktors des Kernkraftwerks Three Mile Island im US-Gliedstaat Pennsylvania.

Dort war es 1979 zu einem schweren Unfall gekommen: Der Reaktorblock 2 wurde durch eine Kernschmelze zerstört, Radioaktivität trat aus, was zur Evakuierung von mehr als hunderttausend Personen führte.

Genau hier soll nun also die Wiederbelebung von Atomstrom stattfinden, und zwar unter dem Etikett des Klimaschutzes.

Zweitens sticht ins Auge, dass der Reaktor 1 von Three Mile Island 2019 vom Netz genommen wurde – aus ökonomischen Gründen. Nun plant die Betreiberin Constellation Energy 1,6 Mrd. $ in die Wiederinbetriebnahme des Reaktors 1 zu investieren. Dies mit dem Ziel, ab 2028 Strom aus der 835 Megawatt starken Anlage zu erzeugen. Dafür ist Microsoft mit dem Versorger einen Abnahmevertrag von zwanzig Jahren eingegangen.

Der Tech-Gigant ist offenbar bereit, diese CO2-frei produzierte Elektrizität mit einem Aufschlag gegenüber herkömmlichen Strompreisen abzunehmen. Damit lohnt sich finanziell die Wiederinbetriebnahme des 50 Jahre alten Reaktors für die Betreiberin.

Microsoft ist mit diesem Schritt nicht allein: Im Oktober hat Google angekündigt, im Rahmen ihrer «Clean Energy Transition» sogenannte neuartige Small Modular Reactors (SMR) zu kaufen. Entwickeln soll sie die privat gehaltene Kairos Power. Ab 2030 soll der erste Strom daraus fliessen.

Noch im selben Monat hat auch Amazon verkündet, in SMR zu investieren, mit dem Ziel, «die Konstruktion neuer Nukleartechnologien zu fördern, die über Dekaden Energie liefern sollen.»

CO2-neutrale Energie für Rechenzentren

In allen drei Fällen geht es um den steigenden Energiebedarf der Rechenzentren, besonders aufgrund des vermehrten Einsatzes von rechenintensiver Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI). Dies jeweils kombiniert mit den Netto-Null-Zielen der Tech-Konzerne. Sie bedingen, dass dieser Strom künftig aus CO2-neutraler Quellen stammt. Bei Nuklearenergie kommt hinzu, dass sie konstant Elektrizität bereitstellt, sogenannte Bandenergie. Dies im Gegensatz zu Solarpaneelen und Windräder, deren Erzeugung ans Wetter gebunden ist oder teuer mit Batterien gepuffert werden muss.

Führt die Klimaerwärmung und die damit notwendige Energiewende damit zu einer Renaissance von Atomstrom?

Politisch hat die Atomdebatte jedenfalls Rückenwind: Anfang 2022 hat die EU-Kommission Nuklearenergie als nachhaltig eingestuft. Dies auf Druck von Frankreich. Breitere Unterstützung erhielt das Thema nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Denn die Energiesicherheit – sprich: die Gewissheit, stets genügend Energie zu haben – wird bei der Energiewende seither von vielen höher gewichtet als der Umstieg auf erneuerbare Energiequellen.

In den USA unterstützt das Department of Energy eine stärker lokal basierte Versorgung mit Atomstrom und fördert Pioniere von SMR – beispielsweise die nun von Google beauftragte Kairos Power.

SMR sind eine neuartige Form von Kernreaktoren, die kleiner als konventionelle Anlagen sind. Sie können zu einem grossen Teil in Fabriken gebaut, danach transportiert und am gewünschten Ort der Stromerzeugung in der erforderlichen Anzahl modular zusammengehängt werden. Die Technologie ist noch in Entwicklung und sie setzt als Brennstoff auf höher angereichertes Uran als konventionelle Reaktoren, was mitunter die Betriebssicherheit verbessern soll.

Global mit Rückenwind

International kam die Staatengemeinschaft an der letztjährigen Klimakonferenz Cop28 überein, das die Kapazität von Nuklearenergie bis 2050 global verdreifacht werden soll.

Atomstrom wird damit zwar nicht das grösste Gewicht für die Energiewende zufallen. Das gehört gemäss Schätzung der Internationalen Energieagentur (IEA) klar der Solar- und der Windenergie.

In ihrem Netto-Null-Szenario rechnet die IEA damit, dass dank Effizienzsteigerungen der Energieverbrauch insgesamt global abnimmt, hauptsächlich wegen des Rückgangs fossiler Brennstoffe. Der Bedarf an Elektrizität wird im Gegenzug stark steigen und die Stromerzeugung aus Kernkraft sich gemäss IEA bis 2050 auf 17’000 TWh verdoppeln.

Um die Kapazität von Atomstrom zu verdoppeln, rechnet die IEA mit jährlichen Investitionen von durchschnittlich mehr als 100 Mrd. $. Das ist das Dreifache dessen, was in den vergangenen Jahren in die Technologie geflossen ist.

Angesichts der laufenden Projekte sollen in den 2030-iger Jahren im Schnitt jährlich aus Atomreaktoren 33 GW zusätzliche Kapazität neu ans Netz kommen – das würde nach Jahren der Schwäche ein neuer Rekord für die Nuklearbranche markieren.

Dass der Höhepunkt neuer Inbetriebnahmen erst in den 2030-iger Jahren erwartet wird, liegt an den langen Planungs-, Bewilligungs- und Bauzeiten, die die Neuerstellung eines Kernkraftwerks prägt.

Gemäss den Analysten von UBS dauerte die Konstruktionszeit bei den zuletzt ans Netz angeschlossenen Reaktoren zwischen 6 Jahren in China, 10 in Südkorea bis zu mehr als 16 Jahren in Finnland: Als Olkiluoto-3 im Jahr 2022 endlich fertiggestellt war, war das 12 Jahre später als geplant und kam dreimal so teuer wie ursprünglich budgetiert.

Gestehungskosten variieren stark

Die UBS-Analysten gehen davon aus, dass nicht nur die Installationszeiten, sondern auch die Gestehungskosten von Atomstrom je nach Region stark variieren: Am tiefsten sehen sie sie in China mit rund 50 $ je MWh, am höchsten in Europa mit mehr als 100 $.

Zusätzlich zu den Gestehungskosten ist die Sicht auf das gesamte Netz relevant: Je höher der Anteil an erneuerbaren Energiequellen ist, desto stärker schwankt die Stromproduktion mit dem Wetter und umso anfälliger wird das Netz – beziehungsweise höher sind die Kosten für dessen Stabilisierung und Betreibung. Beispielsweise wird es wegen der Pufferung mit Batterien und den langen Transportwegen von der Einspeisung erneuerbarer Energien aus teilweise entlegenen Gebieten hin zu den Verbrauchern teurer.

Rechnet man diese Kosten mit ein, verdoppeln sich gemäss Schätzung der UBS die Gestehungskosten für Solarstrom, bei Windenergie ebenfalls nahezu.

Das verkleinert den Preisvorteil der Erneuerbaren gegenüber Atomstrom. Dennoch bleibt Elektrizität aus Nuklearenergie in den USA weiterhin etwas teurer als aus erneuerbaren Quellen, in Europa ist der Kostennachteil sogar deutlich. In China und Korea stufen die Analysten Atomstrom hingegen als konkurrenzfähig gegenüber erneuerbaren Energiequellen ein.

Die regional unterschiedlichen Gestehungskosten für Nuklearenergie sind ein Teil der Erklärung, warum rund die Hälfte der global neu im Bau befindlichen Kapazitäten derzeit in China errichtet wird.

Europa steht für rund 10% des globalen Kapazitätsausbaus, konzentriert auf die Länder Frankreich, Grossbritannien und Tschechien. Die USA, die über die weltweit grösste installierte Basis verfügt, hatte kein neues Projekt geplant – bis die Tech-Konzerne vor einem Monat nun gleich eine ganze Reihe von Neuinstallationen in Aussicht stellten.

Prämie für Verlässlichkeit und CO2-Freiheit

Obwohl Nuklearenergie auch in den USA nicht günstiger produziert werden kann als Strom aus erneuerbaren Quellen, sind die US-Tech-Konzerne bereit, für Atomstrom einen Aufpreis zu bezahlen: Er wird CO2-frei produziert und verspricht gleichzeitig konstant fliessende Bandenergie – genau das, was sie für ihre Rechenzentren benötigen.

Gemäss Schätzung der IEA verdoppelt sich der globale Energiebedarf von Datenzentren von 460 TWh im Jahr 2022 bis 2026 auf mehr als 800 TWh. Der Grossteil dieses zusätzlichen Strombedarfs fällt in den USA an, was erklärt, warum die Tech-Konzerne bislang ausschliesslich dort auf Nuklearenergie setzen wollen.

Zwar schätzen die Analysten der UBS, dass der Strombedarf von Datenzentren sich auch in Europa bis 2030 auf 225 TWh nahezu vervierfachen könnte. Das wäre mehr als die komplette Chemie- und Petrochemie heute verbrauchen.

Angesichts der im Vergleich zu den USA dennoch deutlich geringeren Grösse der europäischen Datenzentren erwarten die Analysten für Europa aber kaum Vorstösse, auch hier für deren Betrieb neue nukleare Kapazitäten zu errichten. Falls die US-Projekte erfolgreich sein sollten, könne das zu einem späteren Zeitpunkt aber auch zu europäischen Neuinstallationen führen.

Trickreiches Investment

Als Massnahme gegen die Klimaerwärmung sowie mit Blick auf die Versorgungssicherheit könnte Nuklearenergie im kommenden Jahrzehnt so auch ausserhalb Chinas eine Renaissance erleben. Die Nachfrage danach scheint aufzukommen, denn die grossen Tech-Konzerne brauchen beides: sowohl eine CO2-freie Produktion als auch eine konstante Verfügbarkeit von Elektrizität. Dennoch bleiben Investitionen ins Thema trickreich.

Die Aktien von Constellation Energy📈, die dank Microsoft ihr 50-jähriges Atomkraftwerk Three Mile Island wieder reanimieren kann, haben sich im Jahresverlauf nun zwar verdoppelt.

Unternehmen, die aber an neuen Generationen von Kernreaktoren arbeiten, bieten nur höchst unsichere Perspektiven: NuScale 📈 beispielsweise hat zwar erste Aufträge aus Rumänien und den USA für Entwicklungsprojekte von SMR. Doch es ist offen, ob sie je gebaut werden und das US-Unternehmen damit Einnahmen generieren kann. Auch die koreanische Kepco forscht an neuen Reaktortechnologien, hat aber noch gar keine Aufträge dafür.

Grosse Industriekonzerne wiederum – beispielsweise Schneider Electric, ABB, Sulzer und Rolls Royce – könnten als Zulieferer von neuen Kernkraftwerken profitieren und bei den Rohstoffkonzernen verfügt die australische BHP mit ihrer Olympic Dam Mine über das grösste bekannte Uranvorkommen.

Stand heute macht das Thema jedoch bei all diesen Unternehmen jeweils kaum mehr als 1% des Umsatzes aus und selbst eine künftige Verdoppelung oder mehr würde die Perspektiven für die Gesamtkonzerne wohl nur marginal bewegen.

Nuklearenergie ist nach den Ankündigungen der Tech-Konzerne, darauf setzen zu wollen, zwar zurück auf der Agenda. Angesichts der langfristigen Entwicklungszyklen sowie der vielen technologischen und finanziellen Unsicherheiten ist es für Anleger aber wohl noch zu früh, um auf diese Technologie zu setzen – selbst wenn sie nun möglicherweise ihre grüne Renaissance feiern wird.

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