Bei der häuslichen Gewalt sind Täter aus muslimischen Ländern stark übervertreten. Ausgerechnet Feministinnen verharmlosen das Thema, schreibt die Romanistin und Aktivistin Saïda Keller-Messahli.
Die Schweiz debattiert über die vielen Fälle von häuslicher Gewalt und die erschreckend hohe Zahl von Femiziden, im ersten Halbjahr 2025 waren es schon fünfzehn Fälle. Meldungen über Männer, die ihre Frauen, Ex-Partnerinnen oder Töchter töten, weil sie sich nicht wie von ihnen gewünscht verhalten, häufen sich.
Es ist kein Geheimnis, dass Gewaltstraftäter überproportional oft aus muslimischen Ländern stammen. Der Forensiker Frank Urbaniok hat in seinem Buch «Schattenseiten der Migration» die Kriminalitätsstatistiken genau ausgewertet. So zeigt er zum Beispiel auf, dass Afghanen fünfmal, Marokkaner mehr als achtmal und Tunesier mehr als neunmal so oft wie Schweizer wegen schwerer Gewalttaten angezeigt werden. Auch bei der häuslichen Gewalt sind Täter aus diesen Kulturkreisen übervertreten.
Religiöse Normen prägen die Menschen
Wenn es darum geht, welches Verhältnis ein Individuum zur Gesellschaft entwickelt, wie es sich in seiner Umwelt verhält, spielt die Sozialisation eine entscheidende Rolle. Im islamischen Kontext ist die Sozialisation vielschichtig, weil die religiöse Norm hinzukommt: Die Gesetzgebungen der meisten muslimischen Länder beziehen sich direkt auf den Koran oder schöpfen daraus.
Diese auf religiösen Normen basierenden Gesetze haben einen institutionellen Charakter und strukturieren die meisten Bereiche des Lebens. Oft stehen sie in Konflikt mit grundlegenden Menschenrechten. Denn sie diskriminieren nicht nur die Frau, sondern auch Kinder, Andersdenkende und Andersgläubige.
Drei Beispiele: Um eine Muslimin heiraten zu können, muss der Nichtmuslim zwingend seine Religion ablegen und zum Islam konvertieren. Sein Recht auf Religionsfreiheit wird dadurch missachtet. Das islamische Recht erlaubt die religiöse Verheiratung von Minderjährigen, so dass immer wieder Kinder – auch in Schweizer Moscheen – Opfer von Zwangsverheiratung werden. In den meisten islamischen Ländern gibt das islamische Recht dem adoptierten Kind kein Recht auf volle Zugehörigkeit zur Familie: Es darf weder den Namen seiner Adoptiveltern tragen noch von ihnen erben.
Ein guter Muslim stellt den Text nicht infrage
Wenn Diskriminierung nicht hinterfragt werden darf, weil sie religiös begründet ist, droht sie in den Köpfen jener Männer und Frauen, die sie ausüben, normalisiert und von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Eine Diskussion rund um den Heiligen Text, insbesondere um die Passagen, die Gewalt erlauben, ist in vielen muslimischen Kreisen praktisch unmöglich, denn das Dogma infrage zu stellen, ist nicht nur unerwünscht, sondern wird als Affront ausgelegt.
In der traditionellen Auslegung ist ein guter Muslim, wer alles brav wiederholt, den Koran auswendig lernt, allen Vorschriften folgt und den Text nie infrage stellt. Man darf nicht mit einem neuen, vom Dogma abweichenden Gedanken etwas zu seiner Religion beitragen. Sogar das Wort Kreativität (Ibdaa) ist zweischneidig: Es wird auch als Häresie interpretiert, so dass Erneuerung und eine zeitgemässe Weiterentwicklung in Bezug auf den Islam eine negative Konnotation erhalten.
Der Mann steht über der Frau
Den Knaben kommt in diesen Gesellschaften von Geburt an eine privilegierte Stellung zu. Diese Stellung verleiht ihnen nicht nur mehr Gewicht und grösseren sozialen Wert als den Mädchen, sondern trichtert ihnen auch eine Vorstellung von Männlichkeit und Macht ein, die sehr lange, oft ein ganzes Leben, haften bleibt. Diese Position, bestärkt vom religiösen Diskurs, bestimmt das Verhältnis zum anderen Geschlecht: Es ist ein Machtverhältnis, das religiös legitimiert ist.
Der Islam geht davon aus, dass die Frau immer gefährdet ist, sich vom geraden, also vom einzig richtigen Weg zu entfernen. Darum ist sie dem Mann untergeordnet. In Sure 2, Vers 228 heisst es: «So wie die Männer gegenüber den Frauen Rechte haben, so haben auch Frauen gegenüber den Männern offenkundige Rechte. Die Rechte der Männer gegenüber den Frauen sind eine Stufe höher.» Das heisst: Der Mann steht in der sozialen Hierarchie über der Frau.
Wie in jeder patriarchalischen Gesellschaft, in der der Mann Angst hat, seine privilegierte Stellung zu verlieren, ist der vorgesehene Platz für das Mädchen streng begrenzt: Im Lauf seines Lebens wird es immer unter der Kontrolle der Familie stehen, vor allem unter jener der männlichen Mitglieder. Alle Phasen des Lebens kann die junge Frau nur mit dem Einverständnis und unter der Kontrolle der Familie durchleben. Ein Recht auf Selbstbestimmung wird ihr höchst selten zugestanden. Von Gleichwertigkeit oder Gleichberechtigung kann keine Rede sein: Selbst beim Erben bekommt der Bub in fast allen muslimischen Ländern das Doppelte.
Viele Kinder haben bereits Gewalterfahrung
Sehr früh lernt der Knabe, dass sein Stellenwert höher ist als derjenige des Mädchens, dass ihm besondere Privilegien zustehen, dass er dem Mädchen überlegen ist und dass er mit Macht – das heisst: mit der Möglichkeit, Gewalt auszuüben – ausgestattet ist. Er erlebt, dass die patriarchale Gesellschaft Gewalt religiös legitimiert, männliche Tugenden und Gewalt nicht klar voneinander unterscheidet, ja dass Gewaltanwendung zum Mannsein gehört.
Doch was nach Macht aussieht, ist oft Ausdruck von Ohnmacht. Wie sonst sind die hohen Zahlen zu erklären, wenn es um häusliche Gewalt auch in muslimischen Ländern geht? Ägypten, Libanon und Marokko gehören laut arabbarometer.org zu den Ländern mit der höchsten Quote an häuslicher Gewalt. Und dies stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Auch viele Kinder haben bereits Gewalterfahrungen gemacht.
Nur wer es schafft, seine Sozialisation und seine Privilegien aufgrund seines Geschlechts kritisch zu betrachten und sich von ungerechten Vorschriften und Strukturen offen zu distanzieren, leistet einen Beitrag zur Besserung. Dazu muss man allerdings bereit sein, sich von Normen, die auf Gewalt und Diskriminierung basieren, zu befreien. Für Menschen aus muslimischen Ländern ist dieser Schritt nicht einfach, sie bezahlen oft einen hohen sozialen Preis dafür.
Wir in westlichen Gesellschaften tun niemandem einen Gefallen, wenn wir den religiösen und kulturellen Faktor der häuslichen Gewalt kleinreden oder ihn gar verleugnen, wie das gerade in feministischen Kreisen immer noch viel zu oft geschieht.
Saïda Keller-Messahli ist eine tunesisch-schweizerische Romanistin und Menschenrechtsaktivistin mit dem Schwerpunkt politischer Islam.