Noch immer werden viele Kinder körperlich gezüchtigt. Die Schweiz will deshalb die gewaltfreie Erziehung ins Gesetz schreiben – als eines der letzten Länder Europas.
In der Schweizer Politik braucht es manchmal viel Geduld, selbst bei einem emotionalen Thema wie der elterlichen Gewalt gegen Kinder. Ein halbes Dutzend Anläufe gab es in den vergangenen Jahrzehnten, um den Schutz vor Körperstrafen – einer Ohrfeige hier, einer Kopfnuss da – explizit in einem Gesetz festzuschreiben. Sie scheiterten allesamt. Zeitungen im Ausland spotteten: «Schweizer dürfen ihre Kinder schlagen.»
War es das Erbe des grossen Pädagogen und Philanthropen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der Schläge zum probaten Erziehungsmittel erklärt hatte? «Meine Ohrfeigen konnten darum keinen bösen Eindruck auf meine Kinder machen, weil ich den ganzen Tag mit meiner ganzen Zuneigung unter ihnen stand», schrieb er einst. Nicht unähnlich argumentierten noch bis vor kurzem die Gegner einer angeblichen «Hippie-Erziehung» (so die SVP). Eine schnelle Ohrfeige, ein leichter Klaps zur rechten Zeit habe ja noch niemandem geschadet! Der Bundesrat wiederholte derweil sein Mantra, Gewalt gegenüber Kindern sei bereits nach geltendem Gesetz nicht erlaubt, es bestehe kein Handlungsbedarf.
Aber nun soll im Zivilgesetzbuch doch verankert werden, worüber Experten und Politiker so lange gestritten haben. Der Nationalrat hat am Montag auf Antrag des Bundesrats eine neue Bestimmung gutgeheissen: Eltern haben «das Kind ohne Anwendung von Gewalt zu erziehen, namentlich ohne körperliche Bestrafungen und andere Formen erniedrigender Behandlung». Die Kantone müssen zudem dafür sorgen, «dass sich die Eltern und das Kind bei Schwierigkeiten in der Erziehung gemeinsam oder einzeln an Beratungsstellen wenden können».
Es ist ein Erfolg für Christine Bulliard-Marbach. Die Freiburger Mitte-Nationalrätin hat den Bundesrat mit parlamentarischen Vorstössen zur gewaltfreien Erziehung zum Handeln gezwungen, unbeirrt von der Tatsache, dass dieses Anliegen bisher immer chancenlos war. Nun haben der Zeitgeist und die Statistik der Reform den Weg gebahnt.
Wer nicht folgt, der wird geprügelt
Lange galten körperliche Züchtigungen von Kindern als ein Mittel, auf das weder Eltern noch Lehrer verzichten konnten. Noch im 20. Jahrhundert sind Körperstrafen in der Schweizer Volksschule an der Tagesordnung, die meisten Kantone erlauben sie ausdrücklich. Lehrerinnen und Lehrer verteilen «Tatzen» – Schläge mit dem Lineal auf Handrücken oder Handfläche –, Ohrfeigen oder Kopfnüsse, sie zerren die Schüler an den Haaren und den Ohren, bewerfen sie mit Gegenständen, schubsen und schütteln sie. Disziplin durch Disziplinierung: Wer nicht folgt, der wird geschlagen.
Heute irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit Schülerinnen und Schüler in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens im Jahr 1961 schildern, wie sie von ihren Lehrern gezüchtigt werden: «Wir haben immer auf den Ranzen bekommen, Ohrfeigen und so», sagen Buben. Der Grund: «Weil wir blöd getan haben, zum Beispiel im Unterricht geschwatzt.» Doch das Strafregime an den Schulen ändert sich im Laufe der Jahrzehnte.
Schon 1955 schreibt Emma Eichenberger in der Schweizer «Lehrerinnenzeitung»: «Einen guten Rat möchte ich meinen jungen Kolleginnen geben: Vermeiden Sie unbedingt jede körperliche Strafe! Es geht auch anders, nur braucht es etwas mehr Geduld, Überlegung und Selbstbeherrschung.» Strafen werden im Laufe der 1960er Jahre aus psychologischen Gründen immer stärker kritisiert, der Verzicht auf die Züchtigungen wird zur «erzieherischen Kunst» erklärt. Zudem kommt eine Reformpädagogik auf, die bei den Kindern statt auf Gehorsam und Unterordnung auf Selbständigkeit und Selbstvertrauen setzt. Aber erst seit 1991 sind Körperstrafen grundsätzlich untersagt.
In den eigenen vier Wänden sieht es etwas anders aus. Das Zivilgesetzbuch von 1907 hat den Eltern explizit erlaubt, «die zur Erziehung der Kinder nötigen Züchtigungsmittel anzuwenden». Mit der Revision des Kinderrechts im Jahr 1978 wird das sogenannte Züchtigungsrecht zwar abgeschafft. Kinder unterstehen dem Schutz des Strafrechts.
Tatsächlich gibt es bis jetzt kein Gesetz, in dem steht, dass man seine Kinder nicht schlagen darf. Das Bundesgericht kam 2003 in einem Leiturteil zum Schluss, dass es sich bei Strafaktionen im häuslichen Umfeld um Tätlichkeiten handelt, wenn sie das «allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Ausmass» übersteigen. Doch was darunter genau zu verstehen sei, liessen die Bundesrichter offen.
Erschreckende Umfragen
Kinderschutzexperten fordern deshalb schon lange, ein ausdrückliches Verbot von Körperstrafen in der Erziehung gehöre ins Gesetz. Die betroffenen Kinder erlitten Schmerzen, auch bei einer Ohrfeige oder einem Klaps. Durch die Schläge würden sie gedemütigt, entwürdigt, herabgesetzt – und lernten, dass Gewalt eine legitime Form der Konfliktlösung sei. Körperstrafen seien zudem meist die Folge von Überforderung. Manchmal seien sie auch Ausdruck brutalerer Machtausübung. Und oft würde dabei die Gewalt verharmlost.
Studien offenbaren eine erschreckende Realität, auch wenn fast alle Eltern in Befragungen eine gewaltfreie Erziehung befürworten. Laut repräsentativen Umfragen der Universität Freiburg sitzt in jeder Schulklasse im Schnitt ein Kind, das zu Hause regelmässig mit körperlicher Gewalt bestraft wird. Jedes vierte Kind erleidet psychische Gewalt. Zehn Prozent der Buben und Mädchen kassieren Ohrfeigen, das sind rund 160 000 Betroffene. Sogar doppelt so viele bekommen Schläge auf den Hintern.
Trotz solchen Zahlen sind bisher alle politischen Vorstösse gescheitert, die eine Änderung gefordert hatten. Stets argumentierten Bundesrat und Parlament gleich: Gewalt an Kindern sei ja bereits nach geltendem Recht nicht erlaubt. Auch internationale Rügen wegen «Untätigkeit» – die Schweiz ratifizierte 1997 die Uno-Konvention über die Rechte des Kindes – brachten keine Anpassung. Konservative Kreise warnten stattdessen vor staatlicher Bevormundung und Denunziation, als Folge von «antiautoritärer Erziehung und übertriebener Gefühlsduselei». Das Boulevardblatt «Blick» titelte noch 2005: «Eltern aufgepasst! Politiker wollen Ohrfeige verbieten.»
Und nun also das Umdenken nach dem Vorstoss von Christine Bulliard-Marbach. In der bundesrätlichen Botschaft steht noch immer, eine neue Gesetzesbestimmung sei «eigentlich nicht zwingend notwendig». Aber man wolle ein «klares Signal an die Gesellschaft» senden: «Körperliche Bestrafungen und andere Formen erniedrigender Behandlung von Kindern werden nicht toleriert.» Eine bestimmte Erziehungsmethode schlage der Bundesrat zudem nicht vor, die Eltern würden auch in Zukunft autonom bleiben.
Ähnlich argumentierten in der Ratsdebatte vom Montag auch die Befürworter von links bis Mitte-rechts. «Niemand will den Eltern vorschreiben, dass sie nur noch nach Montessori-Methoden erziehen dürfen», sagte FDP-Nationalrat Philippe Nantermod. Es werde nun explizit im Gesetz verankert, was man von den Eltern erwarte – aber ohne die Erziehungsberechtigten, die sich nicht daran hielten, zu bestrafen oder zu stigmatisieren. So gibt es auch keine neuen Sanktionsmöglichkeiten für prügelnde Eltern.
Das beruhigte die Kritiker aus den Reihen der SVP jedoch nicht. Der Berner Nationalrat Manfred Bühler hält den neuen Gesetzesartikel nicht nur für überflüssig, sondern auch für eine «Katastrophe», weil er die elterliche Autorität untergrabe. Er sei zwar auch gegen Gewalt in der Erziehung, beteuert Bühler. Aber zumindest die Androhung einer Züchtigungsmassnahme sollen die Eltern als Erziehungsinstrument behalten dürfen, findet er. Denn die Aussicht auf Bestrafung reiche in den meisten Fällen schon, damit die Kinder gehorchten. «Ein Verbot von Körperstrafen ist, wie wenn man die Polizei entwaffnen würde», sagte Bühler.
Er hält die Kinder von heute für überbehütet, viele Eltern seien nicht mehr in der Lage, Nein zu sagen. «Aber das Leben ist nun einmal voller Frustrationen, und Kinder müssen lernen, dass sie sanktioniert werden, wenn sie die Regeln nicht einhalten.» Überzeugen konnte Bühler nicht einmal alle Mitglieder der eigenen Fraktion: Der Nationalrat nahm die Gesetzesänderung deutlich mit 134 zu 56 Stimmen an.
Es ist das Eingeständnis, dass es manchmal Symbolpolitik braucht – und einen neuen, «eigentlich nicht zwingend notwendigen» Gesetzesartikel. Denn was explizit verboten ist, wird auch nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit gemacht. So die Hoffnung der Schweizer Politiker, ein halbes Jahrhundert nachdem Schweden vorangegangen ist und unter dem Einfluss der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren das Recht auf gewaltfreie Erziehung ins Gesetz geschrieben hat.