Dienstag, November 26

Zum Abschluss der «Neugier»-Saison in Luzern bringen Alan Gilbert und das NDR-Elbphilharmonie-Orchester Arnold Schönbergs riesig besetzte «Gurre-Lieder» zur Aufführung und machen dessen Aufbruch in die Moderne mustergültig transparent.

Das Stück sprengt alle Dimensionen. Von jeher wetteifert es mit Gustav Mahlers 8. Sinfonie um den etwas fragwürdigen Ehrentitel, die grösste jemals verlangte Besetzung im Konzertrepertoire aufzubieten: mehrfach geteilte Chöre, fünf Solisten, Sprecher und eine üppige Hundertschaft an Instrumentalisten. So etwas war damals, um 1910, noch Ausdruck gründerzeitlicher Aufbruchsstimmung; heute bringt es Intendanten und kaufmännische Leiter um den Schlaf. Denn eine Aufführung der «Gurre-Lieder» von Arnold Schönberg ist finanziell wie logistisch ein Kraftakt sondergleichen. Das Lucerne Festival hat nun zum Ausklang seiner «Neugier»-Saison eine Wiedergabe des Ungetüms gestemmt – es ist erst die dritte am Festival, nach 2006 und 2010.

Den äusseren Anlass für das Revival bot der 150. Geburtstag Schönbergs am vergangenen Freitag. Aber Gedenkjahre sollten im besten Fall immer auch Anlass sein, exemplarische Werke eines Jubilars neu zu befragen – nicht zuletzt im Hinblick darauf, was sie uns heutzutage zu sagen haben. Und in diesem konkreten Fall auch: ob sich der immense Aufwand überhaupt lohnt. Für die «Gurre-Lieder» fällt die Antwort nicht immer so eindeutig aus wie an diesem letzten Festival-Abend im KKL Luzern.

Ungleichzeitiges

Schönberg selbst war das monströse Stück im Nachhinein durchaus suspekt. Er sah voraus, dass ihm der Erfolg der Uraufführung von 1913 wenig bringen würde für die Durchsetzung jenes viel avancierteren Schaffens, für das er bis heute berühmt und noch immer ein wenig berüchtigt ist. Denn wegen der mühseligen Arbeit an der Instrumentation der «Gurre-Lieder», die sich über ein Jahrzehnt hinzog, entstanden parallel bereits Stücke wie die 1. Kammersinfonie und das 2. Streichquartett, die als Initialwerke der musikalischen Moderne gelten. Gerade die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem kann aber den Reiz einer Aufführung ausmachen: wenn ein Dirigent in den «Gurre-Liedern» herausarbeitet, wie sehr bereits hier die neuen Zeiten zwischen den Tönen spuken.

Alan Gilbert gelingt das mit dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester vorzüglich. Er beginnt im spätromantischen Breitwand-Sound des Fin de Siècle, der gleichermassen an Richard Strauss, Franz Schreker und Schönbergs Lehrer Alexander Zemlinsky erinnert wie auch an den zur selben Zeit aufblühenden Impressionismus Debussys. Die Naturmystik, die den zentralen gedanklichen Bezugspunkt der «Gurresange» des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen bildet, ist im farbenfroh funkelnden Vorspiel meisterhaft erfasst. Das erinnert an nordische Naturstimmungen Edvard Munchs, aber auch an entsprechende Bildkonzeptionen Ferdinand Hodlers.

Doch dann mischt Gilbert mit seinem erfreulich transparent musizierenden Riesenorchester immer mehr «Störfarben» ins lichte Geschehen – je finsterer und unheimlicher sich die episch erzählte Handlung entwickelt. Die Geschichte von König Waldemar (Simon O’Neill) und seiner Geliebten Tove (Christina Nilsson), die von der eifersüchtigen Königin ermordet wird, verwandelt sich nämlich in einen veritablen Horrortrip. In dessen Verlauf hadert Waldemar mit Gott und der Welt, und des Königs untote Mannen legen schliesslich das Land in Schutt und Asche.

Gewollt und überwältigend

Wie Schönberg hier nach und nach zu immer radikaleren Mitteln und fortschrittlicheren Klängen greift, um das Ungeheuerliche in Töne zu bannen – das lässt einen den Aufbruch in die Moderne Takt für Takt miterleben. Besonders im dritten Teil, der erst orchestriert wurde, nachdem Schlüsselwerke wie die Orchesterstücke op. 16 und das Psycho-Monodram «Erwartung» entstanden waren, führt Alan Gilbert packend vor, wie explosiv es in dieser aus allen Fugen gehenden Lied- und Chorsinfonie gärt und brodelt.

Wenn sich dann der Dichter Jacobsen selbst in Gestalt eines Sprechers (Thomas Quasthoff) zu Wort meldet und pantheistische Naturbilder beschwört, fliegt die ästhetische Einheit des Stückes vollends auseinander: Ein Zurück zur heilen Welt des Beginns kann es nicht mehr geben, der ekstatische Chor-Jubel des Schlusses samt Anbetung der Sonne und ihrer «Strahlenlockenpracht» wirkt gewollt – und dennoch überwältigend.

Wahrscheinlich zelebriert kein zweites Stück der Jahrhundertwende derart eindringlich die eigene Überständigkeit. Dank der immer kontrollierten, auch in den Vokalparts überzeugenden Aufführung bekommt man jedoch nie den Eindruck, einem überlebten Schmachtfetzen zu lauschen. Allenfalls einem besonders faszinierenden Schmachtfetzen – und in jedem Fall einem gelungenen Festival-Ausklang.

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