Viele Mitgliedsländer haben zu hohe Schulden. Die EU soll als Finanzierer in die Lücke springen – und das an Budgetprozessen vorbei. Das bringt die EU selbst in ernste Schwierigkeiten.
Die finanzielle Verfassung vieler Mitgliedsländer der EU ist miserabel. Sie haben zu viele Schulden und hohe Defizite. Besorgniserregend ist dieser Zustand auch, weil die wirtschaftlichen Schwergewichte Italien und Frankreich zu den Sündern zählen.
Dabei scheinen die Länder nicht fähig oder nicht willens zu sein, Einschnitte bei ihren Budgets vorzunehmen. Stattdessen schielen sie auf eine Art Bancomaten, der ihnen aus der Klemme helfen soll: die EU. Doch dadurch gerät diese in Gefahr, selbst aus dem finanziellen Gleichgewicht zu geraten.
Keine ordentlichen Haushaltsverfahren
Der Staatenbund als Geldesel – das hat aus der Sicht der Mitgliedsländer bereits einmal geklappt. Als die Covid-19-Pandemie 2020 auch in Europa ausbrach, herrschte in Brüssel die Furcht, dass sich vor allem südeuropäische Länder am Kapitalmarkt nicht mehr zu günstigen Konditionen finanzieren können. Dieses Risiko wandte die Kommission mit dem EU-Aufbaufonds (Next-Generation-EU) ab.
Dafür nahm die EU zum ersten Mal in grossem Umfang Geld am Kapitalmarkt auf. Die Obergrenze beträgt 750 Milliarden Euro. Dieses Geld verteilt sie teilweise als nicht rückzahlbare Beihilfen («Grants») an die Mitgliedsländer.
Diese verhalten sich allerdings als Geschäftspartner, wie man sie sich nicht wünscht. Ab 2028 muss die EU das Kapital über 30 Jahre zurückbezahlen, fällig werden zudem Zinsen. Um diese Zahlungen zu leisten, war vorgesehen, dass die EU von den Mitgliedsländern neue Einnahmen zugestanden bekommt: unter anderem Geld aus dem Emissionshandelssystem (ETS) und dem CO2-Grenzausgleich.
Aber die Mitgliedsländer machen keine Anstalten, Geld an die EU zu leiten, obwohl sie ihr das in Aussicht gestellt haben. «Ich sehe da keine Bewegung», sagt Niclas Herbst, CDU-Politiker und Vorsitzender des Haushaltskontrollausschusses im EU-Parlament, im Gespräch. «Dabei ist die Lage des EU-Haushalts angespannt.»
Damit rächt es sich, dass die EU beim Haushalt nicht wie ein Staat aufgestellt ist. «Die traditionelle Finanzierung von Staaten fehlt», sagt Edoardo Traversa, Professor an der katholischen Universität in Löwen (UC Louvain). Eigentliche Steuereinnahmen hat die EU fast keine. Und zu eigenen Finanzmitteln kommt sie nur schwierig. Dafür benötigt sie Einstimmigkeit im Rat und die Einstimmigkeit der Mitgliedsländer. «Das führt zu steigenden Sonderfinanzierungen ausserhalb des EU-Budgets», sagt Traversa.
Im Jahr 2028 wird die EU zum ersten Mal Anleihen des Covid-Aufbaufonds zurückzahlen müssen. Es wird sich um rund 14 Milliarden handeln, hinzu kommen Zinsen von wohl 5 Milliarden Euro. Das entspricht 10 Prozent des EU-Budgets, und das sind zwei Ausgabeposten, die es bis vor kurzem gar nicht gegeben hat.
Gemeinsame Schulden für die Verteidigung?
Obwohl nicht klar ist, wie die EU die Rückzahlungen stemmen soll, gibt es in Brüssel Befürchtungen, dass die Mitgliedsländer nun auf den Geschmack gekommen sind. Angesichts der eigenen Finanzprobleme könnten sie darauf drängen, dass die EU erneut Kapital aufnimmt und dieses an die Mitgliedsländer weiterleitet. «Wir müssen darauf hinarbeiten, dass es nicht wie beim Aufbaufonds läuft», sagt der besorgte Parlamentarier Herbst.
Die Gefahr ist real, obschon die EU die Kapitalaufnahme für den Aufbaufonds als einmalige Aktion deklariert hat. Die EU darf den Mitgliedsstaaten zwar finanziell beistehen, aber nur, wenn sie in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Aber das ist ein dehnbarer Begriff, der zu einer langen Wunschliste der Mitgliedsländer führt.
Darauf steht zum Beispiel die Verteidigung. Vor allem Frankreich und Estland sind grosse Befürworter davon, dass die EU gemeinsame Verteidigungsanleihen («Defense-Bonds») ausgibt, um die Länder gegenüber Russland wehrhafter zu machen. Das vom Ausschussvorsitzenden Herbst befürchtete Szenario könnte somit eintreten: Die EU verschuldet sich weiter, ohne einen Plan zu haben, wie die Zinsen und die Amortisationen geleistet werden sollen. Die EU vorzuschieben, ist für die Länder auch deshalb attraktiv, weil sie ein verhältnismässig gutes Kreditrating hat.
Wenn die EU keine Einnahmen erhält, gibt es zwei Möglichkeiten, um die höheren Ausgaben zu decken. Entweder geben die Mitgliedsländer ihr direkt mehr Geld – doch das werden sie kaum tun, weil sie selbst knapp bei Kasse sind und einige sogar Defizitverfahren der EU der Kommission am Hals haben. Oder die EU spart.
Doch dafür wird es kaum je einen politischen Konsens geben. Ein grosser Teil der Ausgaben, welche die EU tätigt, ist gebunden. Rund ein Drittel fliesst in die Landwirtschaft, im Finanzrahmen 2021 bis 2027 werden das 386 Milliarden Euro sein. Das ist eine riesige Summe, an der aber kaum jemand zu rütteln wagt. «Welcher Politiker legt sich schon gerne mit den Bauern an?», fragt ein EU-Parlamentarier rhetorisch.
Ebenso unantastbar sind wohl die Ausgaben für die regionale Entwicklung und die Kohäsion der EU – sie betragen ebenfalls rund einen Drittel des EU-Budgets. Vor allem die osteuropäischen Mitglieder verteidigen diese Ausgaben mit Zähnen und Klauen.
Bereits sind die Steuern zu hoch
Finanziell steuern die Mitgliedsländer der EU und diese selbst auf einen Eisberg zu. Man müsse immer mehr investieren, etwa in die Verteidigung, und dabei sei die Steuerlast bei den Mitgliedsländern bereits jetzt hoch, sagte Gerassimos Thomas, der Generalsekretär für Steuern und Zölle der EU, an einem Anlass des Bruegel-Instituts.
Als kritisch erachtet er, dass 51 Prozent der Steuereinnahmen der Mitgliedsländer aus den Arbeitseinkommen stammen. Die hohen und stark progressiven Sätze halten die Bürger davon ab, mehr zu arbeiten, und die Einnahmen könnten sinken, wenn die Bevölkerung schrumpft. Ebenso kritisch sieht Thomas den hohen Anteil der Brennstoffsteuern. Sie werden fallen, je grösser das Gewicht von alternativen Energieformen wird. Oder anders gesagt: je erfolgreicher die ökologische Transformation ist.
Auch das könnte die Länder zunehmend in Versuchung bringen, die EU als Finanzierer in die Pflicht zu nehmen – vorbei an allen institutionellen Budgetprozessen. Ungewollt würde die EU dann denselben Fehler machen wie gewisse Mitgliedsländer, sagt Herbst: neue Schulden aufnehmen, um die alten zu begleichen.