Donnerstag, Dezember 26

Michaela Krützen versucht anhand filmischer und literarischer Figuren einem aussterbenden Begriff auf die Spur zu kommen.

Es genügen drei Wörter, um sich aus Situationen loszureissen, in denen man nicht länger verharren möchte: «Ich habe Termine.» So zumindest verabschiedet sich der Endzwanziger Niko aus der Umarmung einer Frau. Was genau er denn zu tun habe, hakt sie nach. Doch Niko schaut bloss gequält und schweigt. Dann ergibt er sich in die Strukturlosigkeit eines Tages ohne Pläne.

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Die Hauptfigur der Tragikomödie «Oh Boy» von 2012 zelebriert ihre Planlosigkeit. Ratlos flaniert er durch die Stadt. Er schwänzt die Pflicht und verweilt in der Kür. Niko hat zu viel von etwas, wovon viele zu wenig haben: der sogenannten Me-Time.

Wer in unserer Leistungsgesellschaft zu viel freie Zeit hat, wird zunächst beneidet, doch eigentlich eher belächelt. Ein voller Terminkalender gilt als respektabel und, wer nichts geplant hat, als Verlierer. Wir leben in Zeit-Slots von ein bis zwei Stunden, die wir an unsere Mitmenschen vergeben.

Analyse von Gatsbys Langeweile

Noch in der Antike war Müssiggang positiv angesehen. Er wurde als Zeit verstanden, in der man intellektuellen und philosophischen Tätigkeiten nachgehen konnte. Wer heute Freizeit hat, tut gut daran, sie in den Kalender einzutragen.

Während wir bei einer Sache anwesend sind, tun wir noch eine zweite Sache parallel. Und während uns unsere Smartwatches optimieren, mahnen Vertreter der Entschleunigungs-Bewegung zur Entspannung. Auch dem kommen wir nach. Wir besuchen den Yoga-Kurs in der Mittagspause oder machen fünfzehn Minuten Power-Nap im Büro. Nichtstun ist produktiv und lässt uns später noch effizienter weiterarbeiten. Die Pause ist vor allem dann akzeptiert, wenn wir durch sie noch leistungsfähiger werden. Alles andere wäre verschwendete Zeit.

Was Zeitverschwendung ist und wie sich die Definition in der Gesellschaft und über die Jahre verändert hat, fragt die Medienwissenschafterin Michaela Krützen in ihrem neuen Buch. Sieben Jahre hat sie daran geschrieben. Sie greift filmische und literarische Figuren auf, die sie als notorische Zeitverschwender diagnostiziert, und erklärt deren Verhalten mithilfe von theoretischen Texten.

So liest sie den «Dude» Jeff Lebowski aus «The Big Lebowski» durch Karl Marx’ Augen, den Serienmörder Patrick Bateman aus «American Psycho» durch die von Pierre Bourdieu und den mysteriösen Millionär Jay aus «The Great Gatsby» durch Martin Heideggers. Gatsby betreibt radikale Zeitverschwendung, indem er in seinem Palast auf die erwartbare Enttäuschung wartet. Krützen zieht Heideggers Werk «Die Grundbegriffe der Metaphysik» hinzu, dadurch lernt die Leserin und der Leser die Langeweile der Figuren von Fitzgeralds Roman (1925) verstehen.

Glücklich wäre anders

Krützen betrachtet in ihrem fast tausend Seiten umfassenden Werk Betty Draper aus der Serie «Mad Men». Sie handelt an ihr die Frage ab, ob die Lebensweise, die die Ehe mit Don Draper mit sich bringt, als verschwendete Zeit verstanden werden kann. Betty Draper, die früher als Model gearbeitet hat, lebt nun vor allem als Hausfrau und Mutter in einem Vorort von New York. Glücklich ist sie dabei nicht.

Die amerikanische Feministin und Publizistin Betty Friedan kritisierte 1963 den «Weiblichkeitswahn», der Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau reduzierte. Friedan schreibt: «Es war eine seltsame Erregtheit, ein Gefühl der Unzufriedenheit, eine Sehnsucht, worunter die Frauen in den Vereinigten Staaten um die Mitte des 20. Jahrhunderts litten. Jede der in den Vororten lebenden Ehefrauen kämpfte für sich allein dagegen an. [. . .] Immer scheute sie sich, die leise Frage zu stellen: Ist das alles?»

Michaela Krützen sieht die Tragik, die Friedan beschreibt, in der Figur der Betty Draper bestätigt. Auch Betty vertrödelt ihre Zeit zu Hause und fragt sich, ob das «Rauchen und Rumsitzen, bis man irgendwann in die Kiste springt», schon alles war. Sie ist gefangen in der Abhängigkeit und den Routinen ihrer Ehe. Betty Draper weiss mit ihrer Zeit nichts anzufangen. Beauvoir formulierte es so: «Während der Mann mit seiner Zeit immer etwas vorhat, will sie (die Frau) ihre Zeit immer loswerden.»

Betty bleibe nichts anderes übrig, als ihre Zeit zu verschwenden, bemerkt Krützen. Zwar versucht sie in späteren Folgen der Serie noch etwas zu verändern, doch ihr Umschwung ist viel «zu halbherzig». Für Simone de Beauvoir «ein nur allzu verständliches Gefühl der Hausfrau, für die es beängstigend sein muss, das eigene Leben in die Hand zu nehmen». Betty Draper spüre ihre missliche Lage, lebe aber lieber in blinder Unterwerfung, als an ihrer Befreiung zu arbeiten, schreibt Krützen.

Verweilfenster fürs Publikum

Wie wir bewerten, was wir tun, ist entscheidend dafür, ob wir das Gefühl haben, unsere Lebenszeit zu vertun. Während ein Valerio bei Georg Büchner in Langeweile und Müssiggang schwelgen kann, geht Leonce daran kaputt. Wer weiss, wie eine Betty Draper ihre missliche Lage verwandelt hätte, wäre sie nicht in einer Serie über die 1960er Jahre, sondern einer von 2024 zu sehen?

Es ist ein besonderes Vergnügen, Film- und Romanfiguren dabei zu beobachten, wie sie die Zeit verfliegen lassen. Das liegt daran, dass sie den Zuschauerinnen und Zuschauern ein Verweilfenster öffnen. Endlich dürfen wir einmal so vertieft bei einer Sache sein, wie es die Zeitverschwenderinnen und Zeitverschwender auch sind. All den Nikos, Gatsbys, Bettys und Dudes zuzusehen, regt an, darüber nachzudenken, wie wir selbst unsere begrenzte Lebenszeit gestalten. Drei kleine nüchterne Wörter, mit etwas Chuzpe in der Stimme vorgetragen, reichen, um sich bei den Mitmenschen abzumelden und dort anzukommen, wo man jetzt gerade ist.

Michaela Krützen: Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 960 S., Fr. 53.90.

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