In Frankfurt am Main nahm die amerikanische Historikerin am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen. Sie nutzte die Gelegenheit und rief zu anhaltendem Widerstand gegen Russlands Aggression auf.
Es gehört zu den paradoxen Eigentümlichkeiten des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, dass bei dessen Verleihung mitunter tatsächlich auch vom Frieden die Rede ist, sehr viel häufiger indessen vom Krieg. Das galt insbesondere an der diesjährigen Feier, als am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Applebaum den zum 75. Mal verliehenen Preis entgegennahm.
Schon in den Begrüssungsansprachen von Frankfurts Bürgermeister und der Vorsteherin des Börsenvereins wurde an frühere Preisverleihungen erinnert, als etwa Navid Kermani 2015 den Krieg in Syrien erwähnte und das Publikum ermahnte, «dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch». Mehrmals kam danach die Preisträgerin auf Manès Sperber zu sprechen, der 1983 den Friedenspreis erhalten hatte und nüchtern eine bittere Wahrheit festgehalten hatte: «Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.»
In ihrer Laudatio auf Anne Applebaum hielt Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, unmissverständlich fest, welchen Beitrag in einer solchen Weltlage Intellektuelle wie Anne Applebaum zu leisten vermögen: «Wenn solche Stimmen im Westen mehr Gehör gefunden hätten, wäre es möglich gewesen, Putin viel früher zu stoppen.»
Falsches Friedensdenken
Man kann allerdings nicht behaupten, dass Anne Applebaums Wirken gänzlich folgenlos geblieben sei. Man hörte sie, ihre Werke über den Terror des Sowjetregimes, über den Putinismus und jüngst über die «Achse der Autokraten» wurden stark rezipiert und vielfach ausgezeichnet. Und wenn Scherbakowa in ihrer Laudatio sich bei der Preisträgerin für deren Klarheit bedankte, so blieb Applebaum diesem Dank nichts schuldig.
Sie erinnerte an Thomas Manns Diktum von 1938, es gebe einen Pazifismus, der den Krieg herbeiführe, statt ihn zu bannen. Einem ähnlich irregeführten Friedensdenken sei der Westen erlegen, den Applebaum für die Appeasement-Politik gegenüber Putins kriegerischen Absichten kritisierte: «Hätten Deutschland und die übrigen Nato-Staaten die Ukraine im Vorfeld mit Waffen unterstützt, dann hätten sie eine Invasion vielleicht verhindern können. Vielleicht wäre es nie dazu gekommen.»
In ihrem flammenden Appell wandte sich Anne Applebaum ganz direkt an ihr deutsches Publikum. Nach den Versäumnissen der vergangenen Jahre und angesichts einer im Westen schwindenden Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine wies sie darauf hin, was auf dem Spiel steht. «Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen.» Nicht allein der Ukraine wegen, vielmehr gelte es, «diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden», so wie die Alliierten 1945 den Gewaltkult in Deutschland beendet hätten.
Mit heftiger Emphase argumentierte Applebaum darum in der Paulskirche gegen die vermeintlich pazifistische, in ihrem Kern aber eskapistische Formel des «nie wieder Krieg». Wenn es eine Lehre für Deutschland gebe aus der Vergangenheit, dann laute sie jedenfalls nicht, so Applebaum, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürften, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür hätten, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen. Sie forderte nicht weniger als einen «militanten Humanismus», wie es Thomas Mann einmal genannt hatte.
Wieder gefährlich werden
Eindringlich ermahnte sie das deutsche Publikum, dass die Skepsis gegenüber dem eigenen Staat nicht zu Nihilismus führen dürfe. «Der Rest der demokratischen Welt braucht Sie.» Allein eine gemeinsame Anstrengung des Westens werde in diesem Konflikt zu einem Erfolg führen, von dem die Zukunft der Ukraine ebenso sehr wie die der demokratischen Ordnung insgesamt abhänge. «Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen.»
Am Ende ihrer Dankesrede formulierte Anne Applebaum noch einmal ein fulminantes Plädoyer für den Kampf um die Grundwerte der freiheitlich verfassten Gesellschaft: «Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.»
Das Publikum dankte es der Preisträgerin mit Standing Ovations. Der Westen ist nach dieser Feierstunde noch nicht gefährlicher geworden, wie es Manès Sperber gefordert hatte. Anne Applebaum hat jedoch nachdrücklich vor Augen geführt, was es bedeuten würde und was zu gewinnen wäre.