Dienstag, Oktober 8

Der «Lindenhofkeller» war vor einigen Jahren fast totgesagt. Doch er lebt munter weiter – mit ein paar Überraschungen im Köcher.

Der «Lindenhofkeller» ist nicht so berühmt wie die «Kronenhalle» und doch ein Fels in Zürichs gastronomischer Brandung. Seit 150 Jahren wird im Haus gewirtet, das schon im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt ist. Seine Geschichte prägten Klöster, Junker, Apotheker – und eine geheime Bruderschaft mit esoterischem Einschlag: Es gehört heute der Zürcher Freimaurerloge Modestia cum Libertate, deren Tempel in aller Bescheidenheit unter dem Lindenhof liegt.

Vor einigen Jahren schien der Fels zu wanken: Beim Abschied des langjährigen Pächters war die Rede davon, dass nach einer Hausrenovation bestenfalls noch ein Imbiss einziehen könne. Doch Totgeglaubte leben länger, manchmal auch im Gastgewerbe, und so hat nun gar ein junger Spitzenkoch übernommen: Sebastian Rösch schlägt hier nach eigenen Worten mit «feinbürgerlicher» Kost die Brücke zwischen seiner fränkischen Heimat und dem helvetischen Alpenraum.

Die lauschige Terrasse im Innenhof ist entrümpelt worden, der zweiteilige Innenraum hat durch den Umbau an Patina eingebüsst und wirkt dafür frischer, samt olivgrün gestrichener Wand. Anders als bei der Freimaurerloge sind in unserer siebenköpfigen Gesellschaft am langen Tisch, der einen Blick in die kleine Fertigungsküche erlaubt, natürlich auch Frauen zugelassen. Die Gesprächsatmosphäre ist angenehm, die Easy-Listening-Hintergrundmusik stört sie nicht entscheidend.

Als kunstvolles Amuse-Bouche kommt ein mit Spargeln und Yuzu gefülltes Macaron, dessen Textur eher an einen Champignon erinnert. Als ersten Gang unseres «chef’s choice menu» (vier bis sechs Gänge, Fr. 135.– bis Fr. 175.–, mit wie ohne Fleisch) gibt’s die grossartige Hausspezialität: eine fränkische «Brotzeit». Am geschnitzten Breznbaum hängen fluffig-knusprige Brezeln, deren Zubereitung Rösch von einem Bäckermeister aus seiner Heimat gelernt hat.

Dazu kommen auf Holztellern formidabler Schwartenmagen, Essiggurken, Rhöner Rauchpeitschen (auf der Karte versehentlich zu «Rauschpeitschen» mutierte Würstchen). Fermentierte Rettichröllchen sind gefüllt mit «Gerupftem», einer Obazda-Variante, hier verführt eine hinreissende Holundervinaigrette, dort eine Essenz aus «Green Zebra»-Tomaten, der Jalapeño leichte Schärfe verleiht. Diese saisonal leicht variierte Brotzeit, ein exklusives Zvieri, findet sich auch im À-la-carte-Angebot (Fr. 65.– für zwei) – eine unbedingte Empfehlung. Da gibt’s zurzeit etwa auch Spanferkel mit Dörrbirne und Kartoffelsalat (Fr. 55.–).

Die elaboriertere Fortsetzung unseres Menus hat nach dem famos bodenständigen Auftakt allerdings einen schweren Stand: Die Maischolle Wiener Art mit Zitronen-Velouté, die Flusskrebs-Bisque im Schälchen, dessen Form leider suboptimal auf den Löffel abgestimmt ist, und das Sommerreh an Holunder-Kirschen-Jus schmecken gut, begeistern aber nicht restlos.

Dann kommt doch noch ein Paukenschlag. Es ist nicht das Nackensteak vom Wagyu-Rind (für einen Aufpreis von 25 Franken erhältlich), sondern das «Randensteak», bestellt eigentlich nur aus Neugierde. Nach dem ersten Versuch glaubt man an einen Irrtum, die Vegetarierin vis-à-vis wettet ihren Kopf darauf, dass es Fleisch sei. Doch das Pièce de Résistance soll tatsächlich auf Soja und Rande (für die Farbe) basieren und stammt von der Kemptthaler Firma Planted; deren «Chicken»-Ersatzprodukt hat mich nie überzeugt, mit diesem «Beefsteak» jedoch landet sie einen Wurf. Das muss auch eingestehen, wer kein Anhänger hochverarbeiteter Imitate ist.

Die «Lindenhofkeller»-Crew darf – nebst jener der «Kronenhalle» – vor der Markteinführung im Sommer mit dem Erzeugnis experimentieren. Das servierte Stück, flankiert von zwei Aubergine-Klösschen in Pistazienkruste, hat die Grösse eines mächtigen Mittelfingers, den es Karnivoren entgegenzustrecken scheint. Es ist etwas zu salzig geraten, aber die Textur erinnert verblüffend an Braten oder Siedfleisch (was mit der rötlichen Farbe nicht recht in Einklang zu bringen ist). Schöne Röstnoten hat ihm Rösch beschert, der mit seinem bubenhaften Schalk auch an den Tischen präsent ist, und eine aus Spargelsud eingekochte Essenz beigefügt. Er, der früher im «Mesa» mit fleischloser Sterneküche für Furore sorgte, sprüht vor Begeisterung über diesen Fleischersatz, den manche Gäste sogar schon als zu fleischartig zurückgewiesen hätten.

Und als eine Sauerampferglace den Schlusspunkt bildet, wird an unserem Tisch darüber gescherzt, ob sich darin wohl umgekehrt ein Sauerbraten verstecke. Der Hunger ist gestillt, die Phantasie noch lange nicht.

Lindenhofkeller
Pfalzgasse 4, 8001 Zürich
Sonntags und montags geschlossen.
Telefon 044 599 95 70.

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung der NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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