Donnerstag, Oktober 10

Seit dem 1. Mai 1974 führen Beamte des Kraftfahrt-Bundesamts in Flensburg das Sündenregister deutscher Autofahrer. Darunter leidet der Ruf der Stadt. Zu Unrecht. Zeit für eine Danksagung.

Flensburg erscheint vielen Deutschen wie die Hauptstadt der Spassverderber, Erbsenzähler, Winkeladvokaten. Doch eigentlich ist Flensburg eine Stadt wie Dutzend andere in Norddeutschland. Mit Hafen, Werft, viel Fischfang und knapp 93 000 Einwohnern. Sie ist geprägt von dänischen und deutschen Einflüssen. Weder ein berühmter Fussballverein noch ein Wahrzeichen von internationaler Bedeutung zieren die Stadt, die darum für viele im Süden nur ein fremder, ferner Ort bleibt. Irgendwo weiter weg als Hamburg. Flensburg liegt am Rand des Landes, eigentlich ist hier schon Dänemark.

Doch nur wenige Städte in Deutschland lösen unter Fahrzeughaltern so negative Assoziationen aus wie Flensburg. Das liegt am Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), das hier am Stadtrand angesiedelt ist.

Flensburg ist seit den 1950er Jahren Sitz dieser Behörde. Und ihre Mitarbeiter führen seit dem 1. Mai 1974 das Sündenregister der deutschen Automobilisten: das sogenannte Flensburger Punktesystem. Das sorgt dafür, dass zwar nur die wenigsten Deutschen je in Flensburg waren, viele dort aber bereits gepunktet haben.

Wer bei den Beamten des KBA einen Punkt bekommt, ist zu schnell gefahren, hat eine rote Ampel missachtet oder hat sich betrunken ans Steuer gesetzt. Wem das Bundesamt insgesamt acht Punkte zuteilt, der muss seinen Führerschein vorerst abgeben.

Mehr als 10 Millionen Menschen haben beim KBA derzeit eine Akte und fahren gewissermassen auf Bewährung. Das ist fast jeder achte Deutsche. Für das Marketing der Stadt ein Desaster. Flensburg hat ein Imageproblem.

Zu Unrecht. Die deutsche Bevölkerung und speziell die Automobilisten müssten der Stadt und ihren Punkten eigentlich dankbar sein. Genau fünfzig Jahre nach dem Start der Punktevergabe ist nun Zeit für eine Danksagung.

Das Wirtschaftswunder machte das Auto zur Massenware

Als die bundesdeutsche Wirtschaft ab Beginn der 1950er Jahre fast jährlich eine rekordverdächtige Konjunktur verzeichnete, wurde es auf den Strassen enger. Immer mehr Deutsche konnten sich ein eigenes Auto leisten. Der VW Käfer wurde zum Symbol einer neuen Zeit. Er stand für neue Möglichkeiten, Wohlstand, Freiheit nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der NS-Zeit.

Doch weil das Verkehrsaufkommen stieg, nahm auch die Zahl der Unfälle zu. Bereits Anfang Januar 1958 legten die Beamten des KBA in Flensburg eine erste Kartei, das Verkehrszentralregister, an. Sie registrierten, wem der Führerschein versagt oder entzogen wurde.

Die Erfolgsgeschichte des Autos ging weiter. Auf dem Nürburgring gab es Autorennen, die zu Grossereignissen wurden. Auf dem Berliner Kurfürstendamm fuhr die Oberschicht mit Porsche und Mercedes vor. Die Autoindustrie baute die Massenproduktion auf und exportierte den Käfer und den Opel Olympia in jene Länder, gegen die Deutschland wenige Jahre zuvor Krieg noch geführt hatte.

Anfang der 1970er Jahre waren in der Bundesrepublik bereits 20,8 Millionen Kraftfahrzeuge registriert. Doch diese Geschichte des Aufschwungs hatte auch eine Kehrseite. Das Statistische Bundesamt zählte zur selben Zeit 21 000 Verkehrstote.

Die Politik reagierte und versuchte mit strengeren Auflagen, die Sicherheit auf den Strassen zu erhöhen. Der ADAC reagierte auf Versuche, den Strassenverkehr stärker zu regulieren, mit einer Verfassungsbeschwerde. Doch er scheiterte. So erhielt das KBA in Flensburg neue Befugnisse. Ab dem 1. Mai 1974 ahndeten die Beamten in Flensburg Vergehen im Strassenverkehr nach dem sogenannten Mehrfachtäter-Punktsystem. Eine Weltneuheit.

Das Punktsystem ist eine erzieherische Massnahme

Dieses neue System wandte Ansätze aus der Verkehrspsychologie an. Es zielte darauf ab, dass Fahrzeughalter durch Verwarnungen lernen und ihr Verhalten korrigieren. Das Flensburger Punktesystem funktionierte wie die Strichliste in der Grundschule.

Jahrzehntelang sammelten die Beamten des KBA in einem Zweckbau Hunderte Meter Akten. Am 1. Mai 2014 wurde das alte Punktesystem durch das sogenannte Fahreignungs-Bewertungssystem abgelöst.

Anders als dieser Name vermuten lässt, kündigte das KBA damit eine Vereinfachung an. Je nach Schwere der Verstösse teilen die Beamten des KBA den schuldigen Fahrzeughaltern einen bis drei Punkte zu. Allerdings können Fahrzeughalter Punkte abbauen, wenn sie entsprechende Kurse besuchen.

Der ADAC, der sich vor mehr als fünfzig Jahren noch gegen das Flensburger Punktesystem wehrte, hat seine Haltung längst revidiert. Markus Schäpe, der Leiter der juristischen Zentrale des ADAC, sagte anlässlich des Jubiläums des Punktesystems der Deutschen Presse-Agentur: «Das Zusammenspiel aus Geldbussen, Punkten und Fahrverboten hat sich in all den Jahren bewährt.»

Die Zahlen stützen Schäpes Sichtweise. Die meisten Fahrzeughalter, die in Flensburg Punkte sammeln, korrigieren ihr Verhalten, bevor das KBA ihnen den Führerschein entzieht. Von zehn Millionen Menschen, die in Flensburg eine Akte haben, verlieren jährlich rund 5000 ihren Führerschein.

Nach fünfzig Jahren Punktesystem fällt das Fazit eindeutig aus. Obwohl gegenwärtig gut 60 Millionen Autos, Motorräder und Lastwagen in Deutschland registriert sind, hat sich die Zahl der Verkehrstoten in den vergangenen fünfzig Jahren massiv verringert. 2023 zählte das KBA noch 2830 Verkehrstote.

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