Sonntag, Oktober 6

Die in Mailand lebende und auf Italienisch schreibende Autorin erhält dieses Jahr den Gottfried-Keller-Preis. Zugleich erscheinen bei Suhrkamp Neuausgaben ihrer wichtigsten Bücher.

Ist sie nun eine italienischsprachige Schweizer Schriftstellerin? Oder ist die seit langem in Norditalien lebende Fleur Jaeggy mittlerweile nicht doch zu einer italienischen Autorin geworden, die 1940 in Zürich geboren wurde und im Appenzellerland aufwuchs? Jedenfalls bleibt es mit ihrer Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum prekär, während sie in Italien renommierte Preise erhält. Auch in England finden ihre Werke Anklang, und im «New Yorker» und in der «New York Times» sind sie regelmässig präsent.

Warum nur tut sich diese aussergewöhnliche Autorin, deren samt und sonders schmale Werke in so gar keine Schublade passen, hierzulande so schwer? Gewiss, deutsche Verlage haben mehrmals Versuche unternommen, sie bekannt zu machen. 1986 erschien bei Matthes & Seitz «Wasserstatuen», und zwischen 1996 und 2002 brachte der Berlin-Verlag zwei Erzählbände und ihr vielleicht bedeutendstes Buch, die Novelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», heraus. Belohnt wurden diese Anstrengungen nicht. Fleur Jaeggy ist eine Autorin, die mit ihren grossartigen Büchern ein Geheimtipp blieb.

Wiederentdeckung des Werks

Nun könnte sich das endlich ändern. In diesem Herbst erhält Jaeggy den Gottfried-Keller-Preis, und parallel dazu wagt der Suhrkamp-Verlag, durchaus die richtige Adresse für dieses Werk, eine Grossoffensive und legt gleich drei Bände vor, darunter erstmals auf Deutsch die Erzählungen «Ich bin der Bruder von XX». Im Herbst wird zudem die Neuausgabe des Romans «Proleterka» folgen.

Die Zeit ist günstig, um Fleur Jaeggys Prosa zu entdecken. Ein kurzer, reduzierter Stil komprimiert ihre Geschichten, aus denen andere Autoren dickleibige Romane gemacht hätten. So öffnet sich bei der Lektüre eine unendliche Freiheit, die von Jaeggy nur angetupften Welten im Kopf auszumalen. Für solche Erzählweisen scheint das Interesse zuzunehmen, gerade in Zeiten, wo auch in der Literatur zu oft nach eindeutigen Botschaften verlangt wird.

Auch die im deutschsprachigen Raum ebenfalls spät einsetzende Rezeption der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux spiegelt dieses Misstrauen gegen ausschweifende Romane wider, die in entfesselter Fiktion ihr Heil suchen. Ohne dass man für Jaeggys Texte das vielstrapazierte Etikett «Autofiktion» benutzen müsste, verlocken ihre Prosakondensate dazu, sie auf das Leben der Schriftstellerin zu beziehen, obschon man darüber herzlich wenig weiss.

Viele Jahre ihrer Jugend hat sie in Schweizer Internaten verbracht. 1968 kam sie, als ihr erstes Buch erschien, nach Mailand, war mit dem 2021 verstorbenen Schriftsteller und Adelphi-Verleger Roberto Calasso verheiratet und eng mit Ingeborg Bachmann befreundet. Sie vertiefte sich in die Schriften Meister Eckharts, schrieb Texte für den Cantautore Franco Battiato, auf dessen Aufnahmen ihre glockenhelle Stimme manchmal zu hören ist. Und von Zeit zu Zeit gibt sie irisierend widerspenstige Interviews, in denen ein Brandenburger Schwan namens Erich und ihre heissgeliebte sumpfgrüne Hermes-Schreibmaschine bevorzugte Themen sind.

Nähe zu Robert Walser

Jaeggys Bücher voreilig mit ihrem Leben zu verknüpfen, hat natürlich mit ihrer 1989 erstmals erschienenen Novelle «Die seligen Jahre der Züchtigung» zu tun. Sie greift darin unmittelbar auf Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit und Adoleszenz zurück. Die Novelle reiht sich in die lange Traditionslinie von Schul- und Internatsromanen ein, diese durch Hermann Hesses «Unterm Rad» und Robert Musils «Verwirrungen des Zöglings Törless» populär gewordene Form, die Bildungsroman und intime Selbstbefragung verbindet.

«Mit vierzehn war ich Zögling in einem Internat im Appenzell. In einer Gegend, in der Robert Walser viel spazieren ging, während er in Herisau, nicht weit von unserem Institut, in der Nervenheilanstalt war.» So beginnt Jaeggys Erinnerung an eine fragile Mädchenfreundschaft in einem Töchterinstitut in Teufen, und dass schon im zweiten Satz der Name Robert Walser fällt, ist Programm. Denn dessen schwebender, unterschwellig komischer und auf herkömmliche Kausalitäten nur begrenzt Wert legender Tonfall weist Berührungspunkte mit dem Fleur Jaeggys auf. Auch sie braucht nur wenige Sätze, um die Enge einer Landschaft, in der einem nichts anderes übrigbleibt, als die Wanderschuhe zu schnüren, und die noch viel grössere Enge des Internats einzufangen.

Wie die Psyche der Erzählerin ins Wanken gerät, als die ein Jahr ältere Frédérique an das Institut kommt, welche Rolle Rituale und Ordnungssysteme spielen und wie das erotische Verlangen aufbricht, schildert Fleur Jaeggy in knappen Skizzen. Ihr Stil bleibt unangestrengt; sie braucht nicht zu triumphieren, reiht ihre Sätze ganz selbstverständlich wie an einer Perlenschnur auf. Und nicht zuletzt – das sollte man bei aller Tristesse, die in Jaeggys Texten waltet, nicht übersehen – ist diese Prosa von leiser Komik grundiert, resümiert sie Erkenntnisse und maliziöse Beobachtungen in stupender Knappheit.

So heisst es in «Die seligen Jahre der Züchtigung» über die Ehe der Institutsleiterin: «Sie waren nicht lang verlobt. Sie hatte beschlossen, ihn zu heiraten, und im Bett war sie kurz angebunden.» Und über die seelisch zerrissene so nahe wie ferne Freundin der Erzählerin: «Frédérique lag nichts an ihrem Leben.» Keine weitere Erläuterung folgt, stattdessen übergangslos ein neuer Gedanke, was den isolierten Satz umso deprimierender wirken lässt. Auch für eine sich zwischen das Paar schiebende Schülerin bleiben nur wenige markante Worte: «Man erahnte ihre Brüste und ihren Willen.»

Blicke in die menschliche Seele

Später werden Fleur Jaeggys Texte fragmentarischer, sind im Grunde, wiewohl die Untertitel anderes verkünden, selten wirkliche Erzählungen. Die im Original 2014 erschienenen Prosastücke «Ich bin der Bruder von XX» verdichten noch einmal weiter. Nicht mehr als eineinhalb Seiten braucht Jaeggy etwa in «Das aseptische Zimmer», um ihrer Freundin Ingeborg Bachmann – und ihrem entsetzlichen Feuertod – ein Epitaph zu widmen. Und auch über Joseph Brodsky verliert sie in «Negde» kein unnötiges Wort: «Joseph kann nicht anders, als in Wassernähe zu leben. Er ist wie ein Seemann. Er spielt mit der launischen Windrose, und die schickt ihn zum Fluss.»

Jaeggys Beobachtungen sind gezeichnet von den prägenden Erfahrungen schweizerischer Enge und der daraus folgenden Beklommenheit. Zugleich gehen sie dezidiert über diese Ursprungserlebnisse hinaus und setzen zu existenziellen Tiefenschürfungen in der menschlichen Seele an. Niemals masst sich diese Autorin an, abschliessende Erklärungen dessen zu liefern, was ihren Figuren widerfährt. Um ein «lächerliches Warum» geht es nicht: «Weil alle Welt glaubt, es gebe ein Warum hinter dem Tun oder Wollen des Menschen. Einen Grund. Dabei ist jeder Vorwand einladend.»

Wer sich auf Fleur Jaeggy einlässt, muss ihren unerbittlichen Blick aushalten. Das kann durchaus verstörend sein. Nichts als deprimierend sei ihr Werk, bestimmt für die, die sich gern im Schmerz suhlten, hiess es vor kurzem über sie und ihr Werk im Deutschlandfunk. Doch was für eine Verkennung! Denn Jaeggys kompromisslose Prosa tut nicht mehr, als das Leben ernst zu nehmen und die Verletzungen und Demütigungen zu benennen, die es hervorruft. Gerade in dieser Beharrlichkeit erweist sich Fleur Jaeggys grosse erzählerische Kraft.

Fleur Jaeggy: Ich bin der Bruder von XX. Erzählungen. 117 S. – Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. 110 S. – Fleur Jaeggy: Die Angst vor dem Himmel. Erzählungen. 100 S. – Alle drei Bände sind von Barbara Schaden aus dem Italienischen übersetzt worden und 2024 im Suhrkamp-Verlag erschienen.

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