Bis Mitte des Jahrhunderts will die Luftfahrtbranche klimaneutral werden. Dazu muss Kerosin ersetzt werden. Wasserstoff ist nicht die einzige Option.
Der Sommer naht und mit ihm der Massenexodus per Flugzeug. Der Gedanke, aus Flugscham heraus zum Schutz des Klimas andere Verkehrsmittel zu wählen, ist längst verflogen, so scheint es. Wie aber lässt sich der Flugverkehr klimaneutral gestalten?
Millionen Touristen werden in den kommenden Wochen durch die Luft an ihre Ziele gelangen. Der stete Strom an Geschäftsreisenden kommt hinzu. Es dürfte voll werden an den Flughäfen. Die Passagierzahlen in Europa und weltweit werden gemäss Schätzungen 2024 erstmals das Niveau von vor der Pandemie übertreffen.
Und mehr noch: Bis Mitte des Jahrhunderts soll laut Prognosen die Zahl der individuellen Flugreisen weltweit auf 24 Milliarden steigen und sich damit mehr als verdoppeln.
Das klingt, als könnte sich die Luftfahrtbranche auf ein gutes Geschäft freuen. Doch sie plagt eine existenzielle Frage: Wie sollen Passagiere und Cargo künftig abheben, ohne dabei zur Erderwärmung beizutragen?
Abgase und Kondensstreifen tragen zum Klimawandel bei
Weltweit ist die Luftfahrt für rund 2,5 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Ihr Anteil an der menschengemachten Erwärmung liegt aber bei mindestens 4 Prozent, haben Wissenschafter in Grossbritannien ermittelt. Denn Kondensstreifen, Russpartikel sowie Schwefel- und Stickstoffverbindungen tragen mindestens so viel wie das CO2 zum Klimawandel bei, manche Berechnungen besagen das Doppelte.
Der Druck ist gross, diesen Negativbeitrag zur Zukunft der Erde zu beenden. International hat sich die Luftfahrtbranche zum Ziel der Uno bekannt, dass die Menschheit bis 2050 klimaneutral wird. Zumindest für Flüge innerhalb von Europa ist vorgezeichnet, dass das Emittieren von CO2 immer teurer wird und die erlaubten Emissionsmengen schnell schrumpfen.
Ändert sich nichts, könnte es sein, dass Maschinen künftig am Boden bleiben müssen, weil ihnen die nötigen CO2-Lizenzen fehlen. Den von Umweltverbänden geforderten Flugverzicht lehnt die Luftfahrtbranche ebenso ab wie abschreckende höhere Steuern. Aber wie soll es sonst gehen?
Bald müssen die Entscheidungen fallen
«Bis 2028 muss die weltweite Flugzeugindustrie ihre wichtigsten Entscheidungen getroffen haben, wie sie klimaneutral werden kann», sagt Björn Nagel. Er ist Direktor des Instituts für Systemarchitekturen in der Luftfahrt im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Hamburg. Die Entwicklung eines neuen Flugzeugtyps dauere etwa sieben Jahre. Nach der Inbetriebnahme blieben diese Flugzeuge dann dreissig bis vierzig Jahre lang im Einsatz.
«Es ist ein Wettlauf mit der Zeit», sagt Nagel, der die weltweit bisher grösste Vergleichsstudie verschiedener Strategien zum klimaneutralen Fliegen leitet.
Auch bei der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA), die vom 5. bis zum 9. Juni 2024 in Berlin stattfindet, wird der Klimaschutz eine zentrale Rolle spielen. Eines von fünf Segmenten wird sich dem «Weg zum Null-Emissions-Fliegen» widmen.
Firmen wie Airbus, MTU, Vaeridion, Rolls-Royce und Deutsche Aircraft werden an der ILA vorführen, was sie zurzeit unternehmen und was sie vorhaben. Für viele Besucherinnen und Besucher wird es der erste Kontakt mit einer geplanten neuen Generation von Flugzeugen sein, die mit Kerosin aus Pflanzen oder gar mit reinem Wasserstoff fliegen.
Die Flugindustrie verfolgt zwei sehr unterschiedliche Optionen dafür, Kerosin zu ersetzen: Da sind zum einen die verheissungsvoll benannten Sustainable Aviation Fuels (SAF). Sie sind chemisch mit fossilem Kerosin fast identisch, werden aber mit erneuerbarer Energie und Biomasse erzeugt. SAF haben den Vorteil, dass sie in den Flugzeugen von heute eingesetzt und mit den Leitungen von heute transportiert und betankt werden können.
Ihr grosser Nachteil ist, dass die Herstellung viel Energie erfordert. Für Biokraftstoffe braucht es hochwertiges Pflanzenmaterial, für die sogenannten E-Fuels wird zuerst reiner Wasserstoff hergestellt und dann mit Kohlenstoff aus Biomasse chemisch verbunden. «Man verbraucht dabei bis zu 45 Prozent mehr Primärenergie als bei der direkten Verwendung von Wasserstoff als Kraftstoff», sagt Nagel. «Das ist enorm viel.»
Ein Zeichen des Fortschritts bei den Sustainable Aviation Fuels war der Flug einer experimentellen Boeing 787 der Fluggesellschaft Virgin Atlantic von London nach New York im November 2023. Der Treibstoff bestand zu 100 Prozent aus einer Mischung von Abfallfetten und Pflanzenresten. Dies galt als ein wichtiger Meilenstein.
Nachhaltige Treibstoffe werden noch kaum eingesetzt
Doch insgesamt verläuft die Einführung der SAF viel langsamer als erwartet. Der Anteil belief sich 2023 auf nur 0,2 Prozent der geschätzt 286 Millionen Tonnen Flugzeugtreibstoff. Um die Produktion zu steigern, fordert die International Air Transport Association (Iata), dass Algen, Abfallbiomasse aus der Forst- und Landwirtschaft sowie Siedlungsabfälle so schnell wie möglich zu den Rohstoffen der Raffinerien hinzugefügt werden.
Nicht nur Umweltverbände warnen vor den Folgen: Auf agrarische Rohstoffe zurückzugreifen, «würde die weltweite Ernährungssicherheit sowie Lösungen, Kohlenstoff etwa in Wäldern und Feuchtgebieten zu binden, gefährden», kritisiert das Institute for Policy Studies, ein amerikanischer Think-Tank, in einem gerade erschienenen Bericht.
Die Royal Society, eine britische Wissenschaftsorganisation, hat 2023 Berechnungen vorgelegt, gemäss denen die Hälfte der Agrarfläche des Königreichs dafür benötigt würde, den im Land verbrauchten Flugzeug-Biosprit zu erzeugen. Eine andere, allerdings anspruchsvolle Möglichkeit besteht darin, den Kohlenstoff nicht aus Biomasse, sondern aus dem CO2 der Luft zu holen.
Die Alternative heisst Wasserstoff
Der zweite Lösungsansatz besteht darin, Wasserstoff direkt zum Antrieb einzusetzen. Bis anhin gelingt das in grösserem Stil nur in der Raumfahrt. Flugzeuge mit reinem Wasserstoff zu betanken, der dann über eine Brennstoffzelle Elektromotoren antreibt oder in den Triebwerken verbrennt, ist deutlich energieeffizienter als SAF.
Der Umstieg setzt aber voraus, den Aufbau und den Betrieb von Flugzeugen grundlegend zu verändern. So muss der Wasserstoff ständig auf minus 253 Grad Celsius gekühlt bleiben. Das erfordert isolierte Spezialtanks mit möglichst kleiner Oberfläche und extremer Abdichtung, denn Wasserstoff ist nach Helium das Element mit den kleinsten Atomen; das Gas diffundiert leicht.
In einem Wasserstoffflugzeug könnte der Treibstoff in einer Metallkugel im Heck platziert sein statt wie heute in Rumpf und Flügeln. Flugzeuge mit gefüllten Wasserstofftanks könnten auch nicht mehrere Tage in einem Hangar pausieren. Sie müssten jeweils sofort wieder abheben, um eine Erwärmung des Treibstoffs zu vermeiden.
Über Slowenien kreist ein Flugzeug
Dass Fliegen mit Wasserstoff grundsätzlich machbar ist, demonstrierte das Stuttgarter Startup H2Fly, gegründet von fünf Ingenieuren des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und der Universität Ulm, im Herbst 2023 mit einem Testflug über Slowenien. Ein weisses Flugzeug mit zwei Sitzen und zwei Elektromotoren drehte drei Stunden lang Kreise, angetrieben von tiefgekühltem Wasserstoff und einer Brennstoffzelle.
Der Firmenchef Josef Kallo weckt grosse Hoffnungen: «Wir wollen diese Technologie bis 2026 in einem vierzigsitzigen Flugzeug demonstrieren», sagt er. Im Laufe der 2030er Jahre solle Wasserstoffantrieb in der Lage sein, «mindestens die Hälfte des weltweiten Flugverkehrs wirklich zu dekarbonisieren». Anfang Mai hat H2Fly von der deutschen Bundesregierung eine Förderung von 10 Millionen Euro erhalten.
Das Partnerunternehmen für den Vierzigsitzer ist die Deutsche Aircraft. Sie vermarktet das Flugzeugmodell Dornier 328 – und fährt beim Antrieb der Zukunft zweigleisig. Mit dem Modell D328eco soll vielleicht schon 2026 ein Regionalflugzeug für bis zu 2000 Kilometer Reichweite auf den Markt kommen, das mit reinem SAF fliegen kann. Zugleich entsteht mit der D328 Alpha eine mit Wasserstoff betriebene «fliegende Forschungsplattform», um einen Launch in den 2030er Jahren vorzubereiten.
Wasserstoffflugzeuge sind also alles andere als eine technische Utopie: Als weltgrösster Flugzeughersteller hat sich auch das europäische Gemeinschaftsunternehmen Airbus das Ziel gesetzt, bis 2035 ein wasserstoffbetriebenes Passagierflugzeug in der Luft zu haben.
Dagegen setzt der amerikanische Konkurrent Boeing auf synthetisches Kerosin. Wasserstoffbetriebene Flugzeuge könnten im Jahr 2050 «im besten Fall einen kleinen Beitrag zur Senkung der Emissionen leisten», sagt Chris Raymond, Vizepräsident von Boeing. Allerdings hat Boeing wegen der durch zahlreiche Pannen verursachten Firmenkrise derzeit kaum die Kapazität für grundlegende technische Innovationen.
Das gesamte System muss auf den Prüfstand
Der Luftfahrtforscher Björn Nagel warnt davor, nur auf den Treibstoff zu starren. Es sei evident, dass es keine einzelnen technologischen Lösungen gebe, mit denen eine klimaneutrale Luftfahrt erreicht werden könne, mahnt auch eine neu erschienene Studie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT).
Vom Flugzeugbau, bei dem neue, wiederverwertbare und aerodynamisch optimierte Leichtmaterialien nötig sind, über die Abläufe an Flughäfen bis hin zur Routenplanung der Maschinen muss demnach das Gesamtsystem in den Blick rücken, damit das Fliegen wirklich klimaneutral wird. «Schon etwas niedriger und langsamer zu fliegen, könnte die Klimawirkung um ein Drittel reduzieren», sagt Nagel.
Derzeit gibt es kaum Anzeichen, dass die Menschheit im Dienst des Klimaschutzes freiwillig am Boden bleibt. Damit die Luftfahrt bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral wird, braucht es – sofern Regierungen das Fliegen nicht abschreckend teuer machen wollen – schnelle technische Innovation und weltweit gültige Regeln.