Die Flügelspieler Nico Williams und Lamine Yamal entzücken an der EM mit ihren Dribblings. Sie stehen für den neuen Stil der Selección – und für die moderne Einwanderungsgesellschaft.

Es gibt diese Phasen in Fussballerkarrieren, in denen alles gelingt. Nico Williams, der 21-jährige linke Flügelspieler der Spanier, durchlebt gerade so eine. Beim 4:1 im EM-Achtelfinal gegen Georgien am Sonntagabend gelang ihm ein Hattrick aus Tor, Assist und – mit 46 angekommenen von 46 gespielten Pässen – Konstanz. Auch nach Abpfiff hielt seine Strähne an. Im «Schnick, Schnack, Schnuck» um die erste verfügbare Wasserflasche schlug er Lamine Yamal, seinen Kumpel vom anderen Flügel, souverän 2:0.

Die Szene stand sinnbildlich für vieles, was die Spanier und grosse Teile Europas an dieser Mannschaft fasziniert: ihre Freude, ihre Unbekümmertheit, ihre Wettkampflust. Spanien, das am Freitag in einem eilig als «vorgezogener Final» etikettierten Viertelfinal auf den Gastgeber Deutschland trifft, ist bisher die attraktivste Mannschaft des Turniers. Das wird nicht weniger wahr dadurch, dass auch der spanische Trainer Luis de la Fuente die Seinen in enervierender Penetranz zu den Besten erklärt.

Piedra, papel o tijera de Lamine Yamal y Nico Williams #lamineyamal #nicowilliams

Wer Eindrücke gern durch Statistiken untermauert, kann sich an 36 Torabschlüssen gegen Georgien delektieren, eine der höchsten Zahlen in der internationalen Turniergeschichte. Noch interessanter ist der Binnenvergleich mit den Spaniern selbst: An der WM 2022 schossen sie laut Statsbomb im Durchschnitt 11,8 Mal pro Partie aufs Tor. An dieser Euro sind es nun 20,5 Versuche pro Match. Der Zuwachs verdeutlicht, dass de la Fuente nicht nur rhetorisch forsch auftritt, sondern auch so spielen lässt. Der Trainer hat das jüngst zahnlose Tiki-Taka der Selección dynamisiert.

Zu deren Stärken zählt nun ein abschlussfreudigeres Mittelfeld mit dem imperialen Strategen Rodri Hernández (Manchester City) und dem zweifachen EM-Torschützen Fabián Ruiz (Paris Saint-Germain). Und vor allem die Flügelzange mit Williams (Athletic Bilbao), dem bisher wohl gefährlichsten Angreifer des Turniers, und dem gerade einmal 16-jährigen Yamal (FC Barcelona). Ihre Vielseitigkeit aus Technik, Athletik, Kunst und Spielverständnis erinnert an grosse Flügelstürmer der Geschichte; ebenso ihre Position auf der «falschen» Aussenbahn, von der sie mit dem stärkeren Fuss nach innen ziehen.

Williams’ berührende Familiengeschichte

Beide sind ausserdem Kinder von Einwanderern, wobei die Geschichte von Williams’ Familie besonders berührt. 1993 verliessen der Vater Felix und die Mutter Maria die ghanaische Hauptstadt Accra mit dem Ziel Europa; Maria war schwanger, ohne es zu wissen, sonst wäre sie nicht losgezogen. Zu Fuss und auf Schlepperlastwagen ging es durch die Sahara, wer Pech hatte, wurde zurückgelassen, die Schwachen starben.

Nico erinnerte sich unlängst daran, wie die Familie in den Ferien in Dubai einen Motorradausflug in die Wüste unternahm. «Es sollte lustig werden, aber als meine Mutter den Sand betrat, kamen ihr die Erinnerungen hoch, und sie begann zu weinen.» Die Eltern haben bis heute taube Fusssohlen, sie sind während der Barfuss-Märsche durch die Wüste verbrannt.

In der spanischen Nordafrika-Enklave Melilla stiegen sie dann wie viele andere über den Grenzzaun und wurden wie viele andere festgenommen. Damit sie nicht zurückgeschickt würden, gaben sie auf Ratschlag eines Caritas-Anwalts hin an, aus Liberia zu kommen, einem Kriegsland. Schliesslich landeten sie in Bilbao, wo sich Pfarrer Iñaki der Familie annahm. Zu seinen Ehren erhielt der bald geborene erste Sohn seinen sehr baskischen Namen. Der Pater nahm den Jungen zu den Trainings von Athletic Bilbao mit. Bis heute hat Nicos älterer Bruder 421 Partien für Athletic absolviert – und dabei 100 Tore erzielt.

Für Nico war der neun Jahre ältere Iñaki lange eine Art Vaterersatz. Als er im nahen Pamplona geboren wurde, lebte der Vater Felix wegen der besseren Arbeitschancen in England; Maria machte mehrere Jobs gleichzeitig. Also zog Iñaki seinen kleinen Bruder auf. Erst als er mit 18 zu Athletic wechselte, liess er Nico zurück, allein oder bei der Nachbarin, aber nicht für lange. Von seinem ersten Lohn als Profi kaufte Iñaki eine Wohnung, in der er die ganze Familie in Bilbao vereinte: «Ich entschied, dass mein Bruder seinen Vater haben sollte und meine Mutter ihren Mann.»

Nach der Rückkehr nach Bilbao schloss sich bald auch Nico einem Jugendteam von Athletic an, und dort sprach sich bald herum, dass er womöglich noch mehr Talent habe als der Bruder. Iñaki absolvierte für Spanien eine U-21-EM und ein Freundschaftsspiel, wurde dann aber nicht mehr berufen und erfüllte seinem Grossvater den Traum, er möge für Ghana spielen.

Nico hingegen gehört seit seinem 19. Lebensjahr fest zum A-Kader des spanischen Nationalteams. Gemeinsam spielen die Brüder aber weiterhin im Verein, den sie in der vergangenen Saison mit dem spanischen Cup-Sieg zum ersten grossen Titel seit vierzig Jahren führten. Rund eine Million Menschen feierten in den Strassen und an den Flussufern der alten Industriestadt auch eine moderne Integrationsgeschichte.

Er schenkt sein Spanien-Trikot einem Athletic-Fan

Dankbarkeit und Verbundenheit mit Athletic sind gross – so gross, dass sie in Bilbao hoffen, Nico möge wider alle Branchengesetze noch ein paar Jahre in diesem besonderen Klub bleiben, der nur mit Basken spielt. Als er nach der Gala gegen Georgien als einziger Spanier sein Trikot an einen Fan verschenkte, wurde das als gutes Zeichen gewertet. Der Anhänger war Nico wegen seines Athletic-Trikots aufgefallen.

Sorgen machen sie sich in Bilbao aber, weil die Ausstiegsklausel in seinem kürzlich bis 2027 verlängerten Vertrag «nur» 58 Millionen Euro beträgt. Solche Summen zahlen Klubs wie der Chelsea FC für Ersatzspieler. Die grössten Avancen macht Nico Williams derzeit aber der FC Barcelona, der zwar eigentlich kein Geld hat, dafür aber ein vielleicht noch besseres Argument: den kongenialen Yamal, der soeben erfolgreich die Mittelschule abgeschlossen hat – von den Ergebnissen erfuhr er vergangene Woche im Teamcamp.

Bevor die beiden Youngster dereinst vielleicht auf allen Ebenen eine gemeinsame Ära prägen, wollen sie vorerst aber weiter an der EM reüssieren. Yamal hat zwei wundervolle Assists auf dem Konto, wartet aber noch auf sein erstes Goal, «er hat es sich für Deutschland aufgehoben», so hofft Rodri. Williams hingegen hat die Blockade durch seinen fulminanten Sololauf gegen Georgien gelöst. Insbesondere im Gruppenspiel gegen Italien hatte er noch beste Chancen vergeben.

Er habe nach ähnlichen Erlebnissen in der Liga mental daran gearbeitet, sich nicht entmutigen zu lassen, erklärte Nico Williams danach. Im Achtelfinal präsentierte auch er dem Kontinent seine jüngsten Lernerfolge.

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