Mittwoch, April 30

Dunkel, eng und kalt ist es dort unten – die Wasserströme im Boden sind aus menschlicher Sicht kein besonders lebensfreundlicher Ort. Und doch enthalten sie eine reiche Vielfalt an spezialisierten Lebewesen. Eine Zürcher Forschungsgruppe ist ihnen auf der Spur.

Unter unseren Füssen fliesst die vielleicht wichtigste Lebensgrundlage der Schweiz: Grundwasserströme und -quellen liefern 80 Prozent unseres Trinkwassers. Entsprechend gut untersucht sollte das Grundwasser sein, könnte man denken. Tatsächlich gelte das nur für die chemische und physikalische Zusammensetzung, sagt Florian Altermatt, Professor für aquatische Ökologie an der Universität Zürich, Forschungsgruppenleiter am ETH-Wasserforschungsinstitut Eawag. «Darüber, was alles im Grundwasser lebt, gibt es noch sehr wenig Wissen.»

Altermatt arbeitet daran, diese Wissenslücke zumindest teilweise zu schliessen. Wobei er eher durch Zufall zur Erforschung des Untergrunds kam: Als er vor 14 Jahren seine Forschungsgruppe an der Eawag aufbaute, suchte er sich Flohkrebse als Studienobjekte aus, weil sie in Gewässern verbreitet und ökologisch wichtig sind. Wer die Qualität eines Bachs oder eines Flusses beurteilen will, zählt meist auch diese kleinen Krebstierchen, deren Form ein wenig an Speisegarnelen erinnert.

Bald aber wurde Altermatt bewusst, dass Flohkrebse nicht nur in Oberflächengewässern leben. Manche Arten kommen im Grundwasser oder in Höhlenseen vor. Sie sind typischerweise blind, farblos und haben verlängerte Beinchen, um sich mit ihnen in der Dunkelheit zu orientieren. Je nach Art sind solche Grundwasserflohkrebse zwischen vier Millimetern und vier Zentimetern lang. Damit sind sie, neben einigen Asseln, die grössten Tiere im Untergrund.

Und sie stehen dort zuoberst in der Nahrungskette. «Es sind die Löwen oder Tiger des Grundwassers», sagt Florian Altermatt. Viele von ihnen leben räuberisch; sie ernähren sich von kleineren Tierchen wie Ruderfusskrebschen oder Fadenwürmern, die wiederum Bakterien abgrasen. Die allermeisten Nährstoffe, von denen diese Bewohner des Untergrunds leben, gelangen von der Erdoberfläche in den Untergrund, wenn Regenwasser oder geschmolzener Schnee langsam versickert. Es handelt sich um karge Lebensräume – entsprechend gemächlich ist das Leben: Flohkrebse im Grundwasser können mehr als zehn Jahre alt werden.

Ein Dutzend neue Flohkrebs-Arten

Welche Grundwasserflohkrebs-Arten in der Schweiz existieren und wo sie leben, war weitgehend unbekannt, als Altermatt «in den Untergrund ging», wie er es ausdrückt. Unterstützt von einem Experten aus Slowenien und gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Roman Alther startete sein Forschungsteam ein erstes Projekt. Es stattete Höhlenforscher mit Netzen, Pinzetten und Alkoholröhrchen aus und bat sie, Flohkrebschen in unterirdischen Gewässern zu fangen. «Die Höhlenforscher waren hell begeistert, denn das gab ihnen einen weiteren Grund, um in die Höhlen zu steigen», erzählt Altermatt.

Der Krebschen-Fang im Untergrund wurde ein Grosserfolg: Innert weniger Jahre konnten die Studierenden und Doktorierenden aus Altermatts Team ungefähr ein Dutzend neue Flohkrebs-Arten für die Schweiz nachweisen. Als Hotspot erwies sich das Hölloch im Muotatal SZ mit drei endemischen Flohkrebsen – also Arten, die weltweit nur dort vorkommen und von der Forschungsgruppe erstmalig beschrieben wurden.

Eine Art, Niphargus styx, erreicht eine Körperlänge von mehr als zwei Zentimeter und besitzt stark vergrösserte Greifärmchen, mit denen sie andere Tierchen packen kann. Die zweite Art, Niphargus murimali, wird etwa halb so lang und ist kompakt gebaut. Anhand ihrer Mundwerkzeuge vermuten die Forscher, dass sie sich von Bakterienfilmen auf Gesteinsoberflächen ernährt. Die dritte Art, Niphargus muotae, ist noch etwas kleiner und schon fast wurmartig schlank. Sie lebt wohl in Felsspalten und Ritzen und ernährt sich von abgestorbenem Material.

«Damals merkten wir: Wow, im Untergrund gibt es noch viel mehr zu entdecken», sagt Altermatt. Denn Höhlen machen nur einen kleinen Teil der unterirdischen Räume aus, in denen Grundwasser fliesst. Bloss kann man nicht einfach in einen Grundwasserstrom oder in Felsritzen abtauchen, um dort Lebewesen zu suchen. Deshalb suchte Altermatt nach anderen Zugängen. «Eines Tages kam uns die Idee, in Trinkwasserfassungen nach Flohkrebsen zu suchen», erzählt er.

Im Rahmen von Master- und Doktorarbeiten begann das Team Brunnenmeister von Wasserversorgungen zu kontaktieren. Deren Reaktionen seien sehr interessiert gewesen, und etliche erzählten, sie hätten immer wieder Flohkrebse in Brunnenstuben, sagt Altermatt. «Wir merkten, dass hier ein Bewusstsein vorhanden war. Den Brunnenmeistern war klar, dass der Untergrund belebt ist und dass das nichts Schlechtes ist – Mikroben und andere Organismen tragen zur Reinigung des Wassers bei.»

Brunnenmeister filtern Krebse aus dem Grundwasser

Über die Jahre entstand eine Zusammenarbeit zwischen den Flohkrebsforschern und Hunderten von Brunnenmeistern aus Hunderten Gemeinden in der ganzen Schweiz. Die Brunnenmeister erhalten Sammelutensilien und stülpen feine Netze über die Ausflüsse in ihren Brunnstuben, um Flohkrebse aus dem Grundwasser zu filtern. Nach einigen Tagen oder Wochen kontrollieren sie die Netze, legen die gefangenen Krebschen in Alkoholröhrchen und schicken sie zurück an die Eawag.

Auf diese Weise sind bis heute Flohkrebschen aus mehreren tausend Trinkwasserfassungen zusammengekommen. Und die Forscherinnen und Forscher fanden eine enorme Artenvielfalt. Inzwischen seien in der Schweiz 22 Arten von Grundwasserflohkrebsen beschrieben, sagt Altermatt. «Zusätzlich kennen wir 15 bis 19 Arten, die genetisch klar charakterisiert, aber noch nicht formell beschrieben sind.» Die Schweiz wurde innert Kürze zum Land mit dem wohl grössten systematischen Datensatz an Grundwasserlebewesen weltweit.

Unser Land trage eine besondere Verantwortung für diese Arten, sagt Altermatt. Viele leben schon seit Abertausenden Jahren in denselben Grundwassergebieten und haben dort sogar die Eiszeiten überdauert. Sie können sich im Grundwasser relativ schlecht ausbreiten und haben deshalb – wie die Arten vom Hölloch – oft begrenzte Verbreitungsgebiete.

In einem solch beständigen Lebensraum haben schon geringe Einflüsse grosse Auswirkungen. Und die Einflüsse von aussen auf das Grundwasser wachsen – verursacht durch den Menschen. «Zwar ist die Grundwasserqualität in der Schweiz grundsätzlich gut», sagt Altermatt. «Doch im Mittelland ist beispielsweise die Nitrat-Belastung vielerorts hoch.­» Auch Pestizide und andere Stoffe gelangen in den Untergrund.

Zudem gibt es Pläne, die gesetzlichen Vorgaben zum Anzapfen des Grundwassers für Wärmepumpen oder die Wärmespeicherung zu lockern. Momentan darf sich die Grundwassertemperatur aufgrund von Wärmeentnahme oder Wärmezugabe um nicht mehr als drei Grad verändern. «Was würde es für die Lebewesen bedeuten, wenn man künftig einen Grundwasserleiter im Sommer um zehn Grad erwärmen und diese Speicherwärme im Winter wieder entnehmen würde?», fragt Florian Altermatt. Eine Antwort darauf hat momentan niemand – dazu gibt es schlicht zu wenig Wissen über das Leben im Untergrund.

Der Mensch beeinflusst die Biodiversität im Untergrund

Altermatts Forschungsgruppe hat nun erste Schritte unternommen, um nicht nur Flohkrebse, sondern die Biodiversität allgemein im Grundwasser zu untersuchen. Im Tösstal suchten die Forscherinnen und Forscher nach Gensequenzen in Grundwasserproben. Mit dieser Technik, der sogenannten Umwelt-DNA-Methode, lassen sich Lebewesen nachweisen, ohne dass man sie sehen oder fangen muss. Denn jedes Lebewesen gibt – zum Beispiel über Urin, Kot oder Hautschuppen – ständig Erbgut an die Umwelt ab, anhand dessen sich Arten bestimmen lassen.

Im Grundwasser fand sich vor allem Mikroben-Erbgut, wie Altermatt sagt. «Und wir entdeckten Hinweise darauf, dass der Mensch die Biodiversität im Untergrund beeinflusst.» In Brunnstuben im Landwirtschaftsgebiet zeigte sich nämlich eine deutlich andere, geringere genetische Vielfalt als in Brunnstuben im Wald. Einen ähnlichen Zusammenhang gebe es auch beim Vorkommen von Flohkrebsen, sagt Altermatt. «Es handelt sich aber um eine Korrelation. Wie genau eine landwirtschaftliche Nutzung die Grundwasserfauna beeinflusst, können wir bislang nicht direkt nachweisen.»

Weil das Leben im Untergrund gemächlich verläuft, dürften sich dort auch Schadstoffe nur langsam wieder abbauen. Umso wichtiger sei es, Vorsichtsmassnahmen zum Schutz der Grundwasserfauna zu treffen, sagt Altermatt. Dazu müsse die Untergrund-Biodiversität so rasch wie möglich erforscht und ihr Zustand überwacht werden. Nur so lässt sich verhindern, dass die «Löwen des Untergrunds» verschwinden, bevor ihre Vielfalt überhaupt entdeckt ist.

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