Donnerstag, Mai 8

Erbittert verteidigen die Ukrainer eine Region, die kaum mehr bewohnbar ist. Und doch geht das Leben inmitten der Trümmer weiter. Fünf Begegnungen entlang der Ostfront, wo Trumps Friedenspläne auf grösste Skepsis stossen.

Ljubow Iwanowna hält es nicht mehr aus. «Erst vor wenigen Tagen schlug eine russische Rakete 80 Meter von meinem Haus entfernt ein», erzählt die 73-jährige Rentnerin. Mittlerweile gebe es jeden Tag drei oder vier Einschläge. «Die Nächte sind schlaflos. Ich bin die ganze Zeit angespannt.» Ausserdem habe sie Probleme mit den Augen und dem Herz, den Weg zum nächsten Lebensmittelladen schaffe sie kaum mehr. «Wenn ich für mich selbst sorgen könnte, würde ich bleiben. Aber es geht nicht mehr.»

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So steht Iwanowna an einem Frühlingsmorgen im April mit ihren wenigen Habseligkeiten am Strassenrand und wartet darauf, abgeholt zu werden. Am Tag davor hat sie sich bei einer Hilfsorganisation gemeldet, die Zivilisten aus frontnahen Gebieten in der Ukraine bei der Evakuierung hilft. Das Dorf Drobischewe im Donbass, wo Iwanowna wohnt, ist zwar rund fünfzehn Kilometer von der Front entfernt. Gefährlich ist es hier trotzdem. «Ich merke, dass die Kämpfe näher kommen.»

In Drobischewe leben mittlerweile mehr Soldaten als Zivilisten. Sie bewohnen verlassene Häuser, in den Einfahrten stehen Militärfahrzeuge unter Tarnnetzen. In manchen Vorgärten werden riesige Bunkeranlagen gegraben, durch die Felder und Wälder um das Dorf ziehen sich Schützengräben und Panzersperren. Es ist offensichtlich: Hier bereitet man sich auf einen Kampf vor.

«Ich bin Ukrainerin», sagt Iwanowna bestimmt. Sie erzählt von der Angst, unter der sie litt, damals, als russische Truppen ihr Dorf zwischen März und September 2022 besetzt hielten. Sie habe ihr Haus kaum verlassen dürfen, und wenn, dann nur mit einer weissen Armbinde, die sie als Zivilistin ausgewiesen habe. «Ich will nicht noch einmal unter den Russen leben.»

Dann übergibt sie ihre Taschen den beiden Helfern und steigt, ohne zurückzublicken, ins Auto. Ihr Nachbar werde auf ihr Haus aufpassen. «Vielleicht komme ich irgendwann zurück. Vielleicht gibt es ja Frieden.»

«Viele dachten, dass Trump den Krieg schnell beenden könne»

Wie viele Menschen den Donbass seit Kriegsbeginn verlassen haben, ist unbekannt. Klar ist: Das Gebiet im äussersten Osten der Ukraine leert sich, während die Russen langsam, aber stetig vorrücken. Die Eroberung der beiden Donbass-Regionen Donezk und Luhansk gehört zu Putins obersten Kriegszielen, und seine Armee treibt sie mit roher Gewalt voran. Noch halten die Ukrainer dagegen. Erbittert verteidigen sie eine zerrüttete Region, die kaum mehr bewohnbar ist. Der «Frieden», den Donald Trump in Aussicht gestellt hat, erscheint den Menschen hier als Chimäre.

«Seit Trump sein Amt angetreten hat, haben sich die Anfragen für Evakuierungen vervielfacht», sagt Jewhen Tkatschow. Er ist der Mann, der Ljubow Iwanowna vor ihrem Haus abgeholt hat. «Die Leute hatten auf Trump gewartet. Sie dachten wirklich, dass er den Krieg schnell beenden könne.» Diese Hoffnung ist verflogen. Inzwischen habe er ganze Dörfer evakuiert, in manchen wohne kein einziger Mensch mehr.

Tkatschow hält nicht viel von den derzeit laufenden Verhandlungen: «Sie reden doch nur um des Redens willen.» Der Helfer mit der kehligen Stimme glaubt nicht, dass der russische Präsident an einem Frieden interessiert ist. Zwar hat Putin angeordnet, dass anlässlich der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland die Waffen während drei Tagen schweigen sollen. Doch das beeindruckt hier niemanden. Auch die vom Kreml-Herrn ausgerufene, dreissigstündige «Waffenruhe» über Ostern hatte sich als Farce entpuppt.

Tkatschow hat das am eigenen Leib erlebt. Während einer Evakuierung am Ostersonntag wurde sein Auto von drei russischen Drohnen angegriffen. Er und zwei Zivilisten überlebten unverletzt. Das Auto, das klar als humanitäres Fahrzeug gekennzeichnet war, wurde zerstört. Es war kein Einzelfall: Immer wieder werde er von russischen Drohnen gejagt, sagt Tkatschow. Dann steige er jeweils aus und wedle mit den Armen, um sich als Helfer zu erkennen zu geben. «Manchmal funktioniert das, und die Drohne dreht um. Manchmal greifen sie trotzdem an.»

Dass er selbst noch nie verletzt wurde, hat ihm den Übernamen «Gottes Störsender» eingebracht – als würde eine höhere Macht die Drohnen von ihm fernhalten. Tkatschow sagt: «Ohne meinen Glauben würde ich nicht zehn Prozent dessen machen, was ich tue.» Als Mitarbeiter der Hilfsorganisation Proliska, die von den Vereinten Nationen mitfinanziert wird, muss er zwar offiziell 8 Kilometer Abstand von der Front halten. Doch in seiner Freizeit fährt er trotzdem näher heran, um Menschen zu retten – auf eigenes Risiko.

Tagtäglich wagt sich Tkatschow ins Kampfgebiet. Doch in den vergangenen Monaten sei seine Arbeit noch gefährlicher geworden, als sie ohnehin schon sei. Das habe vor allem mit den Drohnen zu tun. «Früher fühlte ich mich sicher. Ich wusste, dass mich im dümmsten Fall nur eine verirrte Artilleriegranate treffen könnte», sagt er. «Aber jetzt, mit den Drohnen, komme ich mir vor wie ein Ziel im Visier eines Scharfschützen.»

Drohnenpiloten: von Jägern zu Gejagten

Kamen Drohnen noch vor einem Jahr primär im unmittelbaren Frontgebiet zum Einsatz, sind sie heute auch weit darüber hinaus allgegenwärtig. Die ferngesteuerten Fluggeräte haben die Herrschaft über den ukrainischen Himmel übernommen. Vor allem die sogenannten FPV-Drohnen, die sich mit Sprengsätzen auf ihr Ziel stürzen, stellen beiderseits der Front eine tödliche Gefahr dar. FPV steht für «first person view» – der Pilot sieht die Bilder der Drohne in Echtzeit auf einer Videobrille, als fliege er selbst mit. Diese fliegenden Waffen sind hochpräzise, billig und können dank rasanten technologischen Fortschritten immer weiter fliegen.

Auf den Strassen im Donbass zeigt sich, wie sehr die Drohnen in diesem Krieg den Takt vorgeben. Gepanzerte Fahrzeuge sind mit angeschweissten Gitterkäfigen unterwegs, auf den Pick-up-Trucks der Armee sind pilzförmige Antennen angebracht, die Störsignale aussenden. Doch selbst diese Geräte haben ihre Wirkung teilweise eingebüsst: Inzwischen setzen sowohl die Russen als auch die Ukrainer Drohnen ein, die mit Glasfaserkabeln gesteuert werden – gegen sie hilft auch der beste Störsender nichts.

Weil Drohnen derart tödlich sind, sind ihre Piloten nicht nur Jäger, sondern inzwischen auch Gejagte. Die russische Luftwaffe setzt sogar zentnerschwere Gleitbomben ein, um die Stellungen der Piloten zu pulverisieren. «Bekommen die Russen einen von uns in die Hände, nehmen sie ihn nicht als Kriegsgefangenen, sondern erschiessen ihn auf der Stelle. Sie hassen uns», sagt Max, ein schüchterner Soldat, der seit drei Monaten bei der 60. Brigade als Pilot von FPV-Drohnen im Einsatz ist. «An der Front trage ich immer eine Handgranate bei mir. Im schlimmsten Fall will ich es selbst beenden können.»

Aus Sicherheitsgründen will Max weder seinen vollen Namen nennen noch sein Gesicht zeigen. Der 34-Jährige ist zwar in der Ukraine geboren, hat aber sein ganzes Leben in Tschechien gelebt. Im Ausland hätte er sich dem Militärdienst eigentlich entziehen können – doch er ist freiwillig gekommen. «Seit Kriegsbeginn waren meine Gedanken nur noch bei der Ukraine», sagt er. «Nach der Trennung von meiner Freundin hielt mich nichts mehr zurück.»

An diesem Tag steht Max auf einem Übungsgelände fernab der Front, um mit seiner Einheit FPV-Drohnen mit einem neuen Zündmechanismus zu testen. Die Stimmung in der Truppe ist gelöst, während Piloten mit Videobrillen ihre Flugkünste vorführen. Das Surren der Propeller erfüllt die Luft. «Es ist das gefährlichste Geräusch der modernen Kriegsführung», sagt Max.

Er rechnet damit, noch lange im Einsatz zu sein. «Es wird so bald keine Waffenruhe geben. Putin sieht darin keine Vorteile für sich. Und Trump ist ein Volltrottel, der sich manipulieren lässt.» Über die derzeitigen Verhandlungen werde unter den Soldaten ohnehin kaum gesprochen. «Im Krieg schrumpft deine Welt zusammen. Man konzentriert sich auf das, was man tun muss.»

«Lernt von uns, wie man kämpft»

Doch wie lange können die Ukrainer noch Widerstand gegen die Russen leisten, wenn es keine Waffenruhe gibt? Trump macht bis jetzt keine Anstalten, weitere Hilfspakete für das angegriffene Land zu schnüren, und die Europäer sind nur teilweise imstande, die von Washington hinterlassene Lücke zu füllen. Drohnen sind zwar eines der wenigen Waffensysteme, bei deren Beschaffung die Ukrainer vom Westen weitgehend unabhängig sind. Doch mit Drohnen allein wird Kiew die Front nicht halten, geschweige denn den Krieg gewinnen.

Auf die Frage, wie dieser Krieg dereinst enden könne, antwortet Oberstleutnant «Krokodil» – er nennt nur seinen Kampfnamen – mit kämpferischen Parolen: «Wir müssen den Russen so grosse Verluste zufügen, dass sie es nicht mehr wagen, zurückzukommen. Das ist der Auftrag, den ich meinen Soldaten gebe.» Der 41-jährige Offizier kommandiert das 96. Mechanisierte Bataillon der 90. Brigade. Allerdings gesteht auch er ein: «Objektiv gesehen ist es derzeit nicht realistisch, die besetzten Territorien zurückzuerobern.»

Was also ist die Alternative? «Krokodil» will schon zu einer Antwort ansetzen, als sich der Presseoffizier einschaltet, der aufmerksam zugehört hat. Dies seien politische Fragen, sagt er, der Oberstleutnant könne nur zu militärischen Angelegenheiten Auskunft geben.

So berichtet der Offizier von der schwierigen Situation an der Front, davon, dass seine Truppe zwar müde, aber nach wie vor motiviert sei. Ja, es fehle an Munition, Waffen und Soldaten, «aber abgesehen davon machen wir unsere Arbeit sehr effektiv». Bevor sich «Krokodil» wieder in seinen Geländewagen setzt, will er noch eine Botschaft an die «zivilisierte Welt» richten: «Schickt eure Militärexperten hierher, und lernt von uns, wie man kämpft. Der Krieg hat sich verändert.»

Auch im Krieg müssen die Strassen sauber sein

Früher oder später könnte dieser Krieg eingefroren werden, zumindest scheinen die Bemühungen der westlichen Staaten darauf abzuzielen. Die besetzten ukrainischen Gebiete einschliesslich des Donbass blieben dabei auf absehbare Frist durch eine Waffenstillstandslinie geteilt. Ein Gefühl von Sicherheit würde sich bei ihren Bewohnern kaum einstellen, wenn russische Truppen in unmittelbarer Nähe verblieben. Schon jetzt müssen die Hiergebliebenen ihren Alltag in Angst verbringen.

Es sind Menschen wie Waleri und Lilja Butschok. Sie wohnen in Kostjantiniwka, jener Stadt, um die bald schon die nächste grosse Schlacht im Donbass toben könnte. Hier sind im Minutentakt Explosionen zu hören, kaum ein Haus ist unbeschädigt. Von einst rund 70 000 Bewohnern sind laut Schätzungen nur 15 000 geblieben.

Trotzdem macht sich das Ehepaar Butschok jeden Morgen in neonfarbenen Leuchtwesten auf den Weg, um als Strassenfeger ihre Stadt von Schutt und Dreck zu befreien. Zumindest die 61-jährige Lilja wird dafür von der Stadtverwaltung bezahlt, ihr Mann begleitet sie freiwillig. Die Fabrik, in der er vor dem Krieg gearbeitet hatte, wurde zerstört.

Gemeinsam ziehen sie jeweils los gegen die Trümmerhaufen in ihrer Stadt, ausgerüstet nur mit einem Besen. Es ist eine nicht enden wollende Aufgabe – und eine gefährliche. «Jeden Tag spüren wir das Adrenalin», sagt Waleri. Pausen machen sie in einem kargen Kellerraum, wo sie nicht nur Schutz finden, sondern sich auch für einige Minuten mit anderen Strassenfegern austauschen können.

Ans Weggehen denken die beiden nicht. «Wo sollten wir auch hin?», fragt Lilja. «Hier ist es immer noch besser als in irgendeiner Flüchtlingsunterkunft.» Ausserdem sei ihr gefallener Sohn hier begraben. «Wer würde dann sein Grab besuchen, wenn wir weg sind?» Schon einmal mussten die beiden fliehen, als von Russland unterstützte Separatisten-Milizen 2014 die Kontrolle über ihre Heimatstadt Donezk übernahmen. Ein Leben unter russischer Herrschaft komme schlicht nicht infrage, sagt Waleri. «Ich würde mich lieber umbringen.»

Lilja sagt: «Wir bleiben, weil wir immer noch an unsere Streitkräfte glauben. Die Russen kommen ja kaum voran.» Trotzdem: Die Angst bleibt. Ihre Wohnung im 9. Stock eines Plattenbaus im Stadtzentrum betreten die Butschoks nicht mehr. «Zu gefährlich.» Stattdessen wohnen sie nun in einer Datscha am Stadtrand. Ohne Beruhigungsmittel könne sie nicht mehr schlafen, sagt Lilja. Soziale Kontakte hat das Ehepaar nur während der Arbeit. Und wenn um 15 Uhr die Sperrstunde beginnt, weil immer am Nachmittag der russische Beschuss zunimmt, ziehen sich die Menschen in Kostjantiniwka wieder in ihre vier Wände zurück. Das Leben im Donbass ist einsam geworden.

Eine Reise ins Ungewisse

Ljubow Iwanowna hat sich entschieden, all das hinter sich zu lassen. Zwei Stunden nach ihrer Flucht aus Drobischewe ist die Rentnerin mit den beiden Helfern in der Kleinstadt Dobropillja angekommen. Von hier wird sie einen Bus nach Pawlohrad nehmen, wo man sie als Binnenflüchtling registrieren wird. Danach werde sie in einem Heim im Umland von Kiew unterkommen, sie habe sich dort selber ein Bett organisiert, sagt die Rentnerin. «Ich habe mich erkundigt. Es gibt dort einen Garten, wo ich Zwiebeln anpflanzen kann. Ich habe mich schliesslich so ans Gärtnern gewöhnt.»

Als Iwanowna dann allein im sonst leeren Bus sitzt, beginnt sie zu weinen. Sie entschuldigt sich und sagt: «Wissen Sie, das alles ist einfach sehr schwierig für mich.» Für sie beginnt nun eine Reise ins Ungewisse.

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