In dem westafrikanischen Land haben Islamisten, Terroristen und das Militär Hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Besuch in einem Lager in der Hauptstadt Bamako.

Rokia hat ihren Kopf auf die Schulbank gelegt und wirkt, als sei sie vom Unterricht zutiefst gelangweilt. Darauf angesprochen, weist die 16-Jährige den Eindruck zurück: «Ich lerne gerne, ich habe gerade nur sehr starke Kopfschmerzen.» Rokias Schule steht auf einer ehemaligen Abfallhalde und ist überhaupt eine ungewöhnliche Lehranstalt: Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters werden von einem einzigen Lehrer unterrichtet.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

«Es ist nicht immer einfach», sagt Francis Tchernou, der Lehrer. 70 Schülerinnen und Schüler seien angemeldet, die Jüngsten fünf Jahre alt, die Ältesten 16. «Und Sie sehen ja selbst, was das für ein Ort ist.» Tchernou unterrichtet in Faladié, einem der grössten Vertriebenenlager in Malis Hauptstadt Bamako. Überall liegt Abfall herum. Dazwischen stehen Rinder, Esel, Ziegen und Schafe. Die frühere Abfalldeponie dient heute als Viehmarkt, auf dem Nomaden ihre Tiere zum Verkauf anbieten.

Dazwischen versuchen jene Menschen in behelfsmässigen Hütten zu überleben, die vor der islamistischen und ethnisch motivierten Gewalt im Zentrum Malis geflohen sind. Nach Schätzungen der lokalen Hilfsorganisation, die Tchernou ein schmales Gehalt bezahlt, leben hier bis zu 4000 Menschen.

Die Familie von Rokia kam vor rund fünf Jahren hierher, aus einem Dorf etwa 700 Kilometer nordöstlich von Bamako. «Ich weiss nur, dass viele Familienmitglieder getötet wurden. Deshalb haben meine Eltern zu fliehen beschlossen», sagt Rokia. Damals war sie elf Jahre alt. Noch immer dächten ihre Eltern nicht im Entferntesten daran, Faladié wieder Richtung Heimat zu verlassen. Das freut Rokia: «Ich möchte hierbleiben und weiter zur Schule gehen.» Sie weiss, dass es in ihrer Heimatregion keine Schulen und auch keine Gesundheitszentren gibt – der malische Staat ist in vielen ländlichen Regionen kaum präsent.

Politische Gewalt hat Hunderttausende vertrieben

Mali wird von Militärs regiert, Assimi Goïta steht seit einem Putsch 2021 an der Spitze des Staates. Als die Armee die Macht übernahm, jubelte ein Grossteil der Bevölkerung. Die Militärs und die Bevölkerung warfen der bis dahin zivilen Regierung Korruption, Veruntreuung und das Scheitern im Kampf gegen islamistische Terrorgruppen vor. Seit 2012, als die politische Krise in Mali offen ausbrach, wurden Tausende Zivilisten getötet, Hunderttausende Menschen flohen vor der politischen Gewalt. Eine französische Anti-Terror-Mission und eine Stabilisierungs-Mission der Uno hatten das nicht verhindern können.

Nach dem Putsch vollzogen die Militärs einen radikalen Kurswechsel: Sie beendeten die Uno-Mission und überwarfen sich mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Stattdessen sind seit Ende 2021 russische Söldner im Land, um Mali im Kampf gegen den Terror zu unterstützen. Bis zu 1500 sollen es nach Schätzungen sein. Russland lieferte Kampfhelikopter, Militärflugzeuge, Flugzeuge, Waffen und Munition – während Malis frühere westliche Partner Bitten um Waffen und Munition immer ausgeschlagen hatten.

Erste Demonstration gegen Militärs in Bamako

Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten weiter verschlechterte und obwohl die Militärregierung hart gegen ihre Kritiker vorgeht, blieb die Zustimmung der Bevölkerung zu deren Kurs lange unverändert hoch. Derzeit allerdings scheint sich die Stimmung zu ändern. Die Popularität der Machthaber sinke, sagt ein malischer Journalist, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte.

Für grossen Unmut sorgt etwa eine Anfang März eingeführte Steuer von zehn Prozent auf alle Aufladungen von Telefonguthaben und von einem Prozent auf Geldtransfers via mobile Konten. Am ersten Maiwochenende gab es zudem erstmals seit Jahren in der Hauptstadt Bamako eine Demonstration gegen die Militärmachthaber und für Demokratie. Auslöser war die Ankündigung, Dutzende von politischen Parteien zu suspendieren und nur noch fünf Parteien zuzulassen. Anlass zu Kritik gab ausserdem, dass der Machthaber Goïta ohne Wahl für weitere fünf Jahre zum Präsidenten ernannt werden soll. Die ursprünglich für 2022 angekündigte Wahl und die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung hatten die Militärs immer wieder verschoben und dies unter anderem mit der schlechten Sicherheitslage begründet.

Schwere Niederlagen der russischen Söldner

Gleichzeitig lobt die malische Militärregierung regelmässig ihre Erfolge im Kampf gegen Aufständische und Islamisten sowie die Zusammenarbeit mit den russischen Söldnern. Die Sicherheitslage habe sich tatsächlich verbessert, sagt der malische Politikwissenschafter Paul Oula: «Die Armee und die Regierung sind wieder auf fast dem gesamten Staatsgebiet präsent.» Auch wenn die Situation nicht im ganzen Land gleich sei und die bewaffneten Gruppen weiterhin «hier und da einige Angriffe verübten».

Ulf Laessing, der Leiter des Sahel-Büros der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bamako, schätzt die Lage etwas anders ein: «Es gibt punktuelle Verbesserungen», sagt auch er, «die grossen Verkehrsachsen sind wohl sicherer. Aber in den ländlichen Regionen ist es weiterhin schwierig, weil der Staat da so schwach präsent ist.»

Die Schweiz hätte auf Malis Fläche etwa 30 Mal Platz. Detaillierte Informationen über die Sicherheitslage gibt es nicht. Unstrittig ist aber, dass die malische Armee und ihre russischen Partner 2024 einige schwere Niederlagen einstecken mussten: Im Juli rieben Tuareg-Rebellen im Norden des Landes fast eine gesamte Einheit aus malischen Militärs und russischen Söldnern auf. Dabei sollen rund 80 russische Kämpfer und mehr als 40 malische Militärs getötet worden sein.

Ein paar Wochen später kündigte Malis Armee die «Operation Rache» an, bei der russische Kämpfer sie unterstützen sollten: Die Leichen der im Juli gefallenen Soldaten sollten geborgen, die Schmach der Niederlage gegen die Tuareg-Rebellen durch einen Sieg getilgt werden. Doch der Rachefeldzug scheiterte – zumindest zum Teil, urteilt der französische Journalist Mathieu Olivier, der zum malisch-russischen Verhältnis recherchiert.

Racheakt ist misslungen

In einem Video für das Magazin «Jeune Afrique» sagt Olivier: «Der Konvoi der Armee, der aus mehreren Dutzend Fahrzeugen bestand, kam viel langsamer voran als erwartet und kehrte schliesslich vor dem Ziel um.» Die malische Armee und die russischen Kämpfer hätten dennoch erklärt, ihr Ziel erreicht zu haben, weil sie die Leichen der Gefallenen zurückbringen konnten. «Aber in Mali hatten alle ein Gefecht erwartet, eben die gross angekündigte Revanche, und die hat nicht stattgefunden.»

Olivier informiert sich unter anderem über die soziale Plattform Telegram. Dort hätten die russischen Kämpfer nach der gescheiterten «Operation Rache» zahlreiche scharf formulierte Botschaften verbreitet, darunter den Vorwurf, die malischen Soldaten seien zu wenig professionell. Einige der Malier hätten sicherheitsrelevante Informationen gepostet. Diese Vorwürfe, so Olivier, hätten zu Spannungen innerhalb der malischen Armee geführt. Auch Risse im Verhältnis zu den russischen Partnern seien nun sichtbar: «Die höherrangigen Militärs haben nie wirklich akzeptiert, dass sie von den russischen Söldnern ein bisschen von oben herab behandelt wurden.»

Und dann gelang es Kämpfern einer islamistischen, der al-Kaida nahestehenden Gruppe im September noch, sogar in der Hauptstadt mehrere stark gesicherte Ziele anzugreifen. Bei dem Anschlag auf eine Elite-Polizeischule und einen Flughafen sollen mehr als 70 Menschen getötet worden sein – auch die russischen Kämpfer konnten das nicht verhindern.

Noch sei es zu früh, davon zu sprechen, dass die Beziehung zu Russland abgekühlt sei, sagt Ulf Laessing in Bamako. «Es ist vielleicht eine gewisse Ernüchterung da.» Er beobachte ausserdem, dass der malische Aussenminister wieder die Nationalfeiertage europäischer Botschaften besuche. «Das ist für mich so ein Zeichen, dass die Regierung mit Europa doch wieder mehr zusammenarbeiten will und nicht mehr einseitig auf Russland setzt. Denn die Russen haben die Wende im Kampf gegen die Jihadisten auch nicht gebracht.»

Mali setzt vermehrt auf die Türkei

Zwar hat Russland diesen April angekündigt, die militärische Zusammenarbeit mit Mali zu verstärken. Darüber hinaus aber gibt es einen neuen Player: die Türkei. Ihr Einfluss hat in Mali in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, auch im Bereich der Sicherheit. Die malische Militärregierung hat mittlerweile mindestens 19 bewaffnete Drohnen in der Türkei gekauft, Ankara bietet ausserdem militärisches Training und bewaffneten Personenschutz. «Die Türkei ist zu einem sehr verlässlichen Partner Malis geworden», fasst der malische Politikwissenschafter Oula zusammen. «Dank der türkischen Bayraktar-Drohnen kann unsere Armee ohne fremde Luftwaffe und selbständig operieren. Die Ergebnisse sind im Kampf gegen die Aufständischen spürbar.»

Die Menschen im Vertriebenenlager Faladié sind davon noch nicht so ganz überzeugt. Wie die Familie von Rokia wagen sich die meisten vorerst nicht in ihre Heimatdörfer zurück. Das gilt auch für Mahmoud Hama Diallo, der vor vier Jahren vor der Gewalt im Zentrum Malis nach Bamako geflohen ist. Der Mittdreissiger sitzt auf der Schwelle der Wellblechhütte, in der er mit seiner Familie wohnt. Die Sicherheitslage zu Hause sei etwas besser geworden, sagt der Familienvater, doch zurück wolle er auf keinen Fall: «Unser Heimatdorf ist immer noch die Hölle, hier ist das Paradies.»

Ein Paradies auf dem Viehmarkt, gelegen auf einer ehemaligen Abfalldeponie. Aber hier müssen Diallo und die anderen Vertriebenen nicht jeden Tag um ihr Leben fürchten.

Exit mobile version