Dienstag, Oktober 1

Die 19-jährige Mahbube hat mit Mitstreiterinnen ein Hilfsprojekt aufgebaut, das 120 Schülerinnen in ihrer alten Heimat betreut. Von konservativen Landsleuten wurde sie mit dem Tod bedroht.

Als die Taliban in Afghanistan die Macht übernehmen, ist Mahbube eben in der Schweiz angekommen. Sie ist ein Teenager, allein, spricht kein Deutsch. Es ist der 15. August 2021, und die junge Afghanin muss ein komplett neues Leben beginnen.

Andere würden ihre Heimat in einem solchen Moment vergessen, sich auf ihre eigenen Sorgen konzentrieren. Aber nicht Mahbube.

Sie denkt als Erstes an die Mädchen und Frauen in Afghanistan, die weniger Glück haben als sie. «Ich konnte nicht glauben, was dort passierte», sagt sie heute. «Vorher war es für Frauen schon schwierig, jetzt ist es eine Katastrophe.»

Schulverbot und Verhüllungszwang, Zwangsehen und Verbannung aus dem öffentlichen Leben: «Die Mädchen und Frauen in Afghanistan sind sehr oft sehr allein. Sie sitzen zu Hause, sie dürfen nichts. Ihre einzige Möglichkeit, dem für einen Moment zu entfliehen, ist ihr Handy.»

Aus diesem simplen Gedanken – das Mobiltelefon als Fenster in die Freiheit – ist drei Jahre nach Mahbubes Ankunft in der Schweiz ein unwahrscheinliches Hilfsprojekt entstanden. Mit 120 Schülerinnen, die über ihr Smartphone das erhalten, was in Afghanistan verboten ist: Bildung.

Mahbube ist heute 19, spricht fliessend Deutsch und steht kurz vor der Matura. Sie sitzt in einem hippen Café mitten in Zürich, entspannt, als sei sie schon immer hier gewesen. Ihren Nachnamen nennt die NZZ auf ihren Wunsch hin nicht – dessen Verbreitung könnte, fürchtet sie, Familienangehörige gefährden.

«Hier stehen mir plötzlich alle Türen offen», sagt die junge Afghanin. Der Start in der Schweiz sei hart gewesen. Aber dann habe sie zur Schule gehen können, ins Gymnasium. «Für mich als Frau aus Afghanistan war das unglaublich.»

Es war auch das Ende einer Flucht, die bereits ihr ganzes Leben lang dauert.

Die Flucht

Afghanistan im Jahr 2004. Es ist das dritte Jahr der amerikanischen Invasion, die das Land von den Taliban befreien soll. Die islamistische Regierung ist gefallen. Demokratie, Rechtsstaat, Frauenrechte: All das soll der Bevölkerung gebracht werden. Es ist ein Versprechen, das noch genau 17 Jahre halten wird – bis der Westen das Land fluchtartig verlassen und den Extremisten wieder das Feld überlassen wird.

Mahbubes Familie, damals noch in Afghanistan, flieht kurz nach ihrer Geburt vor den Kampfhandlungen – in das Nachbarland Iran. Der Vater, politisch aktiv, aus der Mittelklasse, ist liberal gesinnt und im Visier der Extremisten. In Iran wächst Mahbube auf, mit vielen anderen Landsleuten. Da die Familie zu einer frühen Fluchtwelle gehört, darf die Tochter zur Schule.

Wer später flieht, hat weniger Rechte, kann seine Kinder etwa nicht zum Unterricht schicken. Ihre Eltern hätten als Reaktion darauf Kurse für afghanische Kinder organisiert, erzählt Mahbube. Helfen statt wegschauen: eine prägende Lektion.

Als sie ein Teenager ist, geht die Flucht weiter – in Richtung Europa, bis ins Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

In einem Online-Post von damals, einem «Brief an Einwohner anderer Planeten», schreibt Mahbube: «Lasst nicht zu, dass es bei euch je einen Ort wie Moria gibt. Lasst nicht zu, dass Kinder und Frauen in Friedhöfen liegen, weil sie Migranten sind. Lasst nicht zu, dass euch Grenzen zwischen Ländern die Grenzen der Menschlichkeit vergessen lassen.»

Als das Lager im September 2020 niederbrennt, ist Mahbube noch immer dort. Sie schreibt: «Unser Moria wurde letzte Nacht durch ein Feuer zerstört. Alle Bewohner sind auf die Strassen und Wälder der Insel verteilt.»

In den kurzen Texten, die Mahbube damals online stellt, schreibt sie über ihre Hoffnungen und Träume, die Sommerbrise in Athen und das Mandala, das sie an die Wand einer Hilfsorganisation malt. Und sie schreibt Kurzgeschichten.

Über eine Frau, die sich im brennenden Moria den Flammen übergibt – «sie sagte sich, dass es besser ist, einmal zu brennen als jeden Tag».

Über das Mittelmeer, das sie sagen lässt: «Ich bin es müde, tote Körper zu sehen, von Fischen gegessen. Mit dem Tod bringen sie ihre Träume in die Tiefe, die vom Wiedersehen mit ihren Familien.»

Mit 16 flieht Mahbube weiter, allein. Bis in die Schweiz. Hier sind Afghaninnen und Afghanen die grösste reguläre Flüchtlingsgruppe. Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Asylgesuche stark angestiegen. Fast 8000 waren es vergangenes Jahr, ein Viertel aller Gesuche.

Vier von fünf Flüchtlingen aus Afghanistan erhalten in der Schweiz Schutz. Auch Mahbube. Sie wird vorläufig aufgenommen und landet danach im Kanton Zürich.

Die Hilfe

Als Lavinia Battaini ihre neue Klassenkameradin zum ersten Mal trifft, weiss sie schnell: Das ist jemand Besonderes. «Sie kam herein, sagte allen Hoi, hat gestrahlt, und man wusste sofort: Jetzt ist sie da», sagt Battaini. «Nicht nur die Schweiz war offen für Mahbube, sie war auch offen für die Schweiz.»

Schnell werden die beiden Freundinnen, und irgendwann erzählt Mahbube ihrer Kameradin von diesem Projekt, das sie kürzlich mit sieben Mitstreiterinnen gestartet hat. Ein Projekt, dem beide bald einen Gutteil ihrer Freizeit widmen werden.

Die Idee ist bestechend einfach. In keinem Land der Welt sind die Frauenrechte laut den Vereinten Nationen so stark eingeschränkt wie in Afghanistan. Nach der 7. Klasse dürfen Mädchen nicht mehr in die Schule. Höhere Bildung, Universität, Karriere: All das verwehrt ihnen die Regierung. Also muss die Bildung auf andere Art zu ihnen. Über das Handy, ihr Fenster in die Welt.

Dazu brauchen sie nur eine Prepaid-Karte mit genügend Geld – und die Gelegenheit, unbeobachtet zu telefonieren. Dann kann die Lehrerin, der Lehrer irgendwo sein, fernab von der Gewalt der Taliban. In der Schweiz zum Beispiel.

Die Idee leuchtet Battaini – 18, in Zürich aufgewachsen – ein. «Bildung befreit», sagt sie. «Zu wissen, dass man Rechte hat – auch wenn sie einem verwehrt sind –, ist der erste Schritt dazu, sich dieses Recht zu schaffen. Wer nichts weiss, bleibt verwundbar.»

Das sehen offensichtlich nicht nur die beiden jungen Frauen so, sondern auch viele Afghaninnen. Ein halbes Jahr nachdem die Idee im vergangenen Herbst entstanden war, wurde sie Realität. Und sie hat auch einen Namen: «Wild Flower», wilde Blume.

Getragen wird das Projekt von freiwilligen Helferinnen und Helfern. Es wächst rasant. «Wir haben mit 150 Franken und 2 Schülerinnen angefangen», sagt Mahbube, «jetzt sind es schon 120 Schülerinnen.»

Die Frauen werden ein oder zwei Mal pro Woche unterrichtet, für jeweils eineinhalb Stunden. Die Lektionen finden heimlich statt, in Gruppen von maximal vier Schülerinnen. Damit nicht alle aufs Mal auffliegen, wenn ein Smartphone durchsucht wird.

Die Lehrpersonen, insgesamt 65, rufen per Video-Call an, geben Hausaufgaben und korrigieren sie aus der Ferne. «Es ist eigentlich ganz einfach», sagt Battaini. Mühsam sei einzig das Aufladen der Prepaid-Karten von der Schweiz aus. Es erfolge, um möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen, via SBB-Automaten. «Und dort muss man jede Nummer einzeln eintippen.»

Und so tippt Battaini mit zwei anderen Freiwilligen jeden Monat 120 Nummern in den Automaten. Jeder überweist sie anonym zwischen 15 und 20 Franken – das ist der Preis für dieses kleine Stück Freiheit.

«In der Schweiz aufzuwachsen, ist ein riesiges Privileg», sagt sie. Deshalb helfe sie Afghaninnen, die sie nie getroffen habe – «weil ich glaube, dass wir mit diesem Privileg etwas tun müssen».

Die Schülerin

Wenn Mahbube von ihrem Projekt erzählt, tut sie es ruhig und sachlich, so wie sie auch über ihr Leben spricht. Als sei das alles ganz normal, alles andere als aussergewöhnlich.

Nur einmal stockt ihr die Stimme, muss sie kurz Atem holen. Dann, wenn sie über die Schülerin spricht, die sie für immer verloren hat.

Die Frauen, die «Wild Flower» unterrichtet, sind über ganz Afghanistan verteilt. Manche sind Schulkinder, die keine Fremdsprache beherrschen. Andere sind vielsprachige Berufsfrauen mit Studium, denen die Machtergreifung der Taliban die Existenz geraubt hat. Etwa die Hälfte war zuvor an der Universität.

Es fing mit wenigen Mädchen an, die Mahbube über private Kontakte gefunden hatte. Über Mundpropaganda, von Frau zu Frau, wurde das Wissen über die Kurse weitergetragen. Heute kommt das kleine Hilfswerk kaum mit dem Rekrutieren von Lehrpersonen nach. Das Programm wird immer breiter: Englisch, Französisch, Mathematik, Geschichte, Informatik.

Die meisten Schülerinnen haben Brüder oder Ehemänner, die den Unterricht tolerieren. Manchmal, wenn einer seine Meinung ändert oder eine Frau heiratet, bricht der Kontakt ab. Die Betroffenen haben keine Wahl, als sich zu fügen.

Keine Wahl – ausser sich das Leben zu nehmen.

So, wie es eine Schülerin tat, die Englischunterricht nahm, zwei, drei Mal pro Woche. «Sie war 16, wollte bei uns weiterlernen», sagt Mahbube. «Aber ihre Familie wollte sie zwingen, einen älteren Mann zu heiraten. Wir haben es erst nicht mitbekommen. Und dann war es zu spät.»

Die Anzahl Suizide ist in ganz Afghanistan dramatisch angestiegen, seit die Taliban wieder an der Macht sind. Offizielle Zahlen gibt es zwar keine. Doch Menschenrechtsorganisationen sprechen auf der Basis eigener Erhebungen von einer Verdoppelung. Rund 80 Prozent der Betroffenen sind demnach Frauen.

Verzweifelt, hilflos, ausgeliefert: So fühlten sich ihre Schülerinnen, sagt Mahbube. «So viele waren komplett in die Gesellschaft integriert, hatten Träume, Perspektiven, eine Ausbildung. Dann hat man sie zu Hause eingesperrt. Und das Einzige, was sie noch dürfen, ist Frau und Mutter werden.»

Sie selbst hätte eine dieser Frauen werden können, sagt Mahbube. «Für mich ist es selbstverständlich, dass ich ihnen helfe.»

Die Zukunft

Kurz nachdem sie in der Schweiz angekommen ist, wird Mahbube mit dem Tod bedroht, immer wieder. Von Männern, die wie sie aus Afghanistan stammen, aber auch anderen, etwa aus Kurdengebieten.

Und zwar, weil sie kein Kopftuch trägt.

Eine von wenigen Frauen sei sie unter ihren Landsleuten gewesen. Ständig beobachtet und getadelt. «Die Augen sind immer auf dir. Alle schauen genau, was du machst. Jede falsche Bewegung wird kritisiert.» Wenn sie mit einem Mann spricht, der nicht ihr Verwandter ist, habe das bei vielen sofort als «haram» gegolten, als verboten.

Dass eine Frau selbst entscheiden, ihren eigenen Weg gehen und sprechen kann, mit wem sie will: Das verstünden viele Männer nicht. Auch in der Schweiz würde sich so mancher Afghane am liebsten eine Frau direkt aus der Heimat holen. «Sie denken, die Afghaninnen hier sind schlechte, europäische Frauen.»

Der Ablehnung ihrer Landsleute ist Mahbube unterdessen entkommen. Vergangenen Sommer begann der Bund, Frauen aus Afghanistan als Flüchtlinge anzuerkennen, nicht mehr als vorläufig Aufgenommene. 1800 Afghaninnen machten 2023 von dieser neuen Regelung Gebrauch. Zu ihnen gehört auch Mahbube, die dadurch eine Aufenthaltsbewilligung erhielt.

Die Schweiz sei damit definitiv ihre Heimat geworden, sagt sie. Hier will sie bleiben, ihr Engagement fortführen – und Medizin studieren. Herzchirurgin will sie werden und vielleicht irgendwann aktiv in der Politik.

Ein Kopftuch trägt sie im Alltag nicht – aber, sagt sie, sie wolle es sich als modisches Accessoire auch nicht nehmen lassen. Beim Fototermin mit der NZZ nimmt sie extra ein transparentes Tuch mit traditionellen Mustern mit. Sie wolle damit zeigen: «Man kann seine Kultur leben und doch Haar zeigen, emanzipiert sein.»

Tradition und Gleichberechtigung: Es ist ein Spagat, wie ihn viele geflüchtete Frauen kennen. Ob er gelingt? Mahbube hat ihn jedenfalls noch nicht aufgegeben.

Aber sie hat auch jene Männer nicht vergessen, die sie einst beschimpften.

Bald schon wird «Wild Flower» deshalb sein zweites Projekt starten: einen Workshop über Gleichberechtigung, speziell für junge Afghanen in Asylunterkünften. «Sie müssen lernen: Wenn Frauen gleiche Rechte haben, verlieren Männer keine Macht. Im Gegenteil: Es geht auch ihnen besser.»

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