Auf dem Flug Qantas 32 von Singapur nach Sydney sitzen im grössten Passagierjet der Welt 469 Menschen. Sie entkommen 2010 dank ihren Piloten sehr knapp einer Katastrophe.

Es ist eine ungewöhnliche Cockpitbesatzung, die sich am Morgen des 4. Novembers 2010 in der Lobby eines Hotels in Singapur trifft. Der Flugkapitän Richard de Crespigny (damals 53-jährig) und vier Kollegen sollen an jenem Tag den Qantas-Flug 32 von Singapur nach Sydney fliegen. Und zwar im grössten und damals modernsten Passagierflugzeug der Welt, dem doppelstöckigen Airbus A380.

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Die australische Fluggesellschaft Qantas mit dem weissen Känguru auf rotem Grund am Heck gibt es bereits seit 1921, sie ist damit eine der ältesten Airlines der Welt. Sie hat bis heute noch nie ein Flugzeug durch einen Unfall verloren und gilt deshalb als sicherste grosse Fluggesellschaft überhaupt. Obwohl dieser Flugzeugtyp erst seit September 2008 als jüngster in der Flotte ist, kann sich die Qantas-Besatzung an jenem Tag die erfahrenste A380-Crew der Welt nennen.

Denn durch Zufall wird die üblicherweise aus drei Mann bestehende Cockpit-Crew – zwei reguläre Piloten und eine Ablösung – auf diesem Flug durch zwei Check-Kapitäne verstärkt, von denen der eine an jenem Tag den Kommandanten auf dem jährlich fälligen Streckenüberprüfungsflug bewerten soll und der andere wiederum den ersten Check-Piloten prüft. Besonders beachtlich ist die Zeit, die diese Piloten bereits im neuen A380 verbracht haben – alle zusammen fast 5000 Flugstunden. Richard de Crespigny ist ein Pilot erster Garde, mit 35 Jahren Flugerfahrung in der australischen Luftwaffe und bei Qantas, ausserdem ein vorbildlicher Teamplayer und erstklassiger Motivator.

Mit fünf Piloten und 24-köpfiger Kabinenbesatzung sind 469 Menschen an Bord von QF32. Das Startgewicht liegt an jenem Tag mit 465 Tonnen fast hundert Tonnen unter dem möglichen Maximalgewicht des A380. Als alle startklar sind, fragt der Kapitän de Crespigny seine Kollegen im Cockpit, ob sie noch irgendwelche Fragen oder Wünsche hätten. Der Co-Pilot Matt Hicks antwortet trocken: «Nein, aber stürz bitte einfach nicht ab!» Um 9 Uhr 57 Ortszeit hebt der Airbus A380 mit dem Kennzeichen VH-OQA und dem Taufnamen «Nancy Bird Walton» (nach der australischen Flugpionierin und Gründerin der Flying Doctors im Outback) vom Changi-Airport in Singapur ab.

Der Riese ist gerade gut vier Minuten in der Luft und auf rund 2200 Metern Höhe noch im Steigflug über der indonesischen Insel Batam gegenüber von Singapur. Der Kapitän de Crespigny will gerade die Anschnallzeichen in der Kabine ausschalten, als plötzlich ein lauter Knall zu hören ist. Er schaut sofort nach rechts zu seinem Co-Piloten Matt Hicks. In diesem Moment ertönt ein zweiter Knall, lauter als der erste. Er lässt das Flugzeug kurz erbeben.

Die Cockpit-Crew hat keine Zeit, über die Ursachen zu spekulieren, denn sofort gehen die «Master Warning»-Lichter als höchste Alarmstufe an, und ein durchdringender Alarm schrillt. Für den Kabinenchef Michael von Reth klingt die zweite Explosion wie tausend Glasmurmeln, die auf ein Wellblechdach geworfen werden. Dies waren die Schrapnellexplosionen aus dem Triebwerk, die zunächst die Tragfläche durchschlagen und dann den Rumpf treffen, wie sich in der nachfolgenden Untersuchung der Flugaufsichtsbehörde FAA herausstellt.

Keine Ansteuerung der Triebwerke mehr möglich

Richard de Crespigny trifft in dieser Drucksituation sehr schnell eine erste Entscheidung. Er wählt beim Autopiloten den «Altitude and heading hold»-Modus. Damit wird der Kurs beibehalten, aber statt weiter zu steigen, senkt sich die Nase des A380, und die Maschine bleibt auf der erreichten Flughöhe. Doch der Airbus reagiert anders, als der Kapitän erwartet: Die Nase senkt sich zwar, aber die Triebwerke reagieren nicht auf die Steuerbefehle, und die Geschwindigkeit des Riesenflugzeugs nimmt weiter zu.

Nun probiert es der Pilot mit den Schubkraftreglern – aber auch das automatische Schubregelungssystem, ein Herzstück des Fly-by-Wire-Systems, funktioniert offenbar nicht. Das ist die elektronische Flugzeugsteuerung des A380 und der meisten anderen modernen Flugzeuge.

Die Besatzung muss spätestens in diesem Moment erkennen: Wir haben ein grosses Problem. Der Kapitän übermittelt wenig später an die Flugsicherung einen Notruf, eine Stufe unter dem Mayday für einen akuten Notfall: «Pan, Pan, Pan, Qantas 32, Triebwerksausfall, wir bleiben auf 7400 Fuss und halten den Kurs.»

Die Besatzung versucht, das Flugzeug zu stabilisieren, ohne zu wissen, was gerade passiert ist. Schnell stellt sich heraus, dass das Problem beim Motor 2 liegt, dem inneren Triebwerk auf der linken Seite. Es handelt sich offenbar um ein katastrophales Versagen des Motors mit Trümmeraustritt. Das ist der Albtraum jedes Piloten und jedes Triebwerkherstellers.

Die ersten 50 Minuten nach der Explosion verbringen die Piloten damit, die sich auf ihren Bildschirmen überschlagenden Fehlermeldungen durchzugehen. Auch die Motoren 1, 3 und 4 sind auf verschiedene Weise in ihrer Leistung gemindert. «Das Treibstoffsystem war in totaler Unordnung, Hydraulik, Elektronik und Pneumatik beeinträchtigt und sogar unsere Flugsteuerung gestört», erinnert sich de Crespigny.

Die Lage ist äusserst ernst – so hat sie sich in einem A380 noch nie und auch sonst vermutlich noch in keinem Airbus je ergeben. Jedes dieser Probleme allein kann ein Flugzeug flugunfähig machen. «Ein Hydraulik- und Elektrikversagen ist potenziell katastrophal, wenn man weiss, dass bei einem Airbus alle Klappen und Ruder damit betätigt werden», so de Crespigny.

Unvorhergesehen und unvorstellbar

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Die Piloten wissen, dass der Treibstoff auf der linken Seite für zweieinhalb Stunden Flugzeit reichen wird. Spätestens dann wird das noch funktionierende Triebwerk Nummer 1 ausgehen. Der Airbus dreht Warteschleifen rund 60 Kilometer östlich von Singapur über dem Meer, durch die Schäden am Flugzeug kann die Cockpit-Crew allerdings kein Kerosin ablassen.

Das Ergebnis: Die Maschine ist mindestens 50 Tonnen zu schwer für eine Landung. Der Kapitän bittet nun die beiden Check-Kapitäne um Unterstützung, um auszurechnen, welche Landebahnlänge der A380 in Singapur benötigt. Zunächst geben die Piloten für die Berechnung die insgesamt neun ausgefallenen landekritischen Systeme mit ein. Das Resultat: Eine Landung auf dem Changi-Airport sei damit unmöglich. De Crespigny bittet um einen weiteren Versuch. Nun geben die Check-Kapitäne lediglich das tatsächliche Gewicht des Jets ein – immer noch 41 Tonnen über dem für eine Landung in Singapur erlaubten Maximalgewicht. Jetzt sagt der Computer: Die Maschine würde 100 Meter vor dem Ende der 4000 Meter langen Landebahn zum Stehen kommen. Die Cockpit-Crew ist sich einig: Wir versuchen es.

Der Kapitän de Crespigny informiert die Fluglotsen und den Kabinenchef darüber, dass das havarierte Riesenflugzeug nach dem Aufsetzen auf der Landebahn 20C womöglich über das Pistenende hinausschiessen wird. Er gibt symmetrischen Schub über die äusseren Triebwerke Nummer 1 unter der linken Tragfläche und Nummer 4 unter der rechten Tragfläche.

Das Fahrwerk lässt sich nicht wie normal in Landeposition bringen, denn auch hier sind wichtige Verbindungen durch den Einschlag von Triebwerksteilen zerstört worden. Die Piloten probieren daher das Notausfahrverfahren. Und tatsächlich – nur dank der Schwerkraft fallen die 22 Räder heraus, rastet das Fahrwerk ein.

Doch das ganze Landeunterfangen ist alles andere als einfach: Die linke Tragfläche ist zehn Tonnen leichter als die rechte, eine gefährliche Gewichtsverteilung beim heiklen Landemanöver. Dazu schaltet sich der Autopilot 300 Meter über dem Boden ab – der erfahrene Flugkapitän muss den lahmen Riesenvogel von Hand landen.

Der Fluglotse Tony Tang hat vom 80 Meter hohen Kontrollturm den havarierten Riesen mit dem Fernglas im Visier. «Ich konnte QF32 im Endanflug gut sehen, Treibstoff strömte aus der Tragfläche», sagt der schockierte Towerlotse später. So etwas hatte er zuvor in seiner 26-jährigen Laufbahn noch nie erlebt.

Bremsen und Triebwerk glühen nach

Um 11 Uhr 46 Ortszeit und damit fast zwei Stunden nach dem Abheben landet der Qantas-Flug 32 wieder in Singapur. Das Flugzeug schwankt, Rauch steigt von den Fahrwerken auf, denn eine Schubumkehr kann nur das Triebwerk 3 liefern, die meiste Bremswirkung liefern die Radbremsen. Tatsächlich kommt der Airbus A380 dann 150 Meter vor dem Ende der Landebahn zum Stehen.

Noch ist keine Zeit zum Aufatmen, sicher sind seine Insassen in diesem Moment noch nicht, im Gegenteil. Nach der trotz allen Widrigkeiten geglückten Landung ist die Lage plötzlich nochmals sehr brenzlig: Nicht nur weil einige Bremsen rot glühen und gleichzeitig weiter Kerosin aus Einschlaglöchern in der linken Tragfläche ausströmt. «Es war ein surreales Gefühl, auf der Bahn zu stehen, mit 440 Passagieren, die geduldig in der Kabine sitzen, während Jet-Treibstoff ganz in der Nähe eines 900 Grad heissen Entzündungsherds ausläuft», so de Crespigny gegenüber ABC Australia.

Am gefährlichsten ist aber der Umstand, dass sich das Triebwerk Nummer 1 einfach nicht abschalten lässt. Selbst als fast alle Instrumente und Anzeigen im Cockpit ausgeschaltet sind, läuft die Turbine unentwegt weiter.

Doch die Crew möchte unter keinen Umständen die Passagiere über die Notrutschen bergen lassen. Die Flughafenfeuerwehr gibt ihr Bestes und versucht das laufende Triebwerk mit massivem Hochdruck-Löschwasserstrahl aus zwei Kanonen und dann mit Schaum zu stoppen.

Schliesslich veranlassen die Piloten, dass die Passagiere über eine einzelne Treppe am Unterdeck aussteigen – auf der rechten Seite. Dort, wo beide Triebwerke bereits stillstehen und die Fluggäste vor allem nicht die verheerende Zerstörung des explodierten Triebwerks sehen können.

Um 12 Uhr 40 Ortszeit verlässt der erste Gast den A380, 52 Minuten nach dem Ausrollen, exakt eine Stunde später der letzte der 440 Passagiere, alle unverletzt.

Der Flug Qantas 32 hätte das nach dem Absturz der Japan Airlines 1985 zweitschwerste Unglück der Luftfahrtgeschichte mit einem einzelnen Flugzeug werden können. Doch am Ende ist kein Mensch bei diesem Vorfall zu körperlichem Schaden gekommen, was die Insassen vor allem dem Geschick und der Besonnenheit ihrer Piloten verdanken.

Als Ursache stellt sich später ein Fertigungsmangel bei der Herstellung des Rolls-Royce-Trent-972-Triebwerks heraus. Die Reparatur des malträtierten A380 dauert anderthalb Jahre und kostet fast 150 Millionen Dollar.

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