Sonntag, Januar 19

Militärexperten sehen die Skandale in der ukrainischen Armee als Ausdruck von Systemfehlern und Inkompetenz. Nun reagiert Selenski, denn das Vertrauen der Gesellschaft ist angeschlagen.

In fast drei Jahren Krieg hat kaum ein Video bei den Ukrainern für mehr Empörung gesorgt als jenes der 114. Luftwaffenbrigade. Feldweibel Witali Horschewski steht darin mit einem Dutzend Kollegen vor einem Kampfjet und beschwert sich, dass praktisch alle Mechaniker der Einheit als Infanteristen an die Front geschickt würden. 250 seien bereits weg, weitere 218 hätten entsprechende Befehle der Militärführung erhalten. Sie versuchten, die Ukraine zu schützen, sagt Horschewski. «Aber ohne technisches Personal kann die Luftwaffe nicht funktionieren.»

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In den Medien und den sozialen Netzwerken brach daraufhin am Dienstag ein riesiger Sturm los. Nicht nur Journalisten und Militärexperten geisselten die Absurdität der Strategie, hochspezialisierte, teilweise an modernen westlichen Systemen ausgebildete Soldaten als Kanonenfutter einzusetzen. Auch mehrere Piloten, die in der Ukraine Heldenstatus geniessen, meldeten sich zu Wort. Einen Tag später verbot Präsident Selenski die Verlegung von Spezialisten der Luftwaffe in die Infanterie.

Die Probleme der Ukraine bei Ausbildung und Ausrüstung

Der Skandal um die Techniker ist jedoch nur ein Symptom für ein fundamentales Problem, das die Ukrainer nicht in den Griff kriegen: Ihnen fehlen an der Front die Soldaten, und Kiew organisiert zu wenig Verstärkung. Russlands ständige Sturmangriffe haben die Reihen der Brigaden auf der ersten Verteidigungslinie ausgedünnt. Und die Streitkräfte haben es bisher nicht geschafft, ein nachhaltiges, verlässliches System zur Rekrutierung neuer Kräfte aufzustellen.

Für das ohnehin angeschlagene Vertrauen der Gesellschaft in die Militärbürokratie sind Fälle wie jener der 114. Brigade Gift. Ein erheblicher Teil der Ukrainer wäre bereit, in der Armee zu kämpfen. Doch sie wollen ein Mass an Kontrolle darüber, wie sie dies tun. Die Streitkräfte schreiben Stellen für Drohnenspezialisten oder Mechaniker aus, um geeignete Leute anzuwerben. Wenn diese allerdings das Gefühl haben, sie landeten ohnehin in der Infanterie, werden sie sich eher verstecken oder versuchen, dem Dienst durch Bestechung zu entgehen.

Die Führung in Kiew steht unter grossem politischem Druck, die Probleme endlich zumindest zu lindern, denn die Mobilisierung ist für die ganze ukrainische Verteidigungsstrategie zur Schicksalsfrage geworden. Dabei geht es nicht nur darum, wie die Armee ihr bestehendes Personal einsetzt, sondern auch, wie es ihr gelingt, neue Kräfte auszubilden und auszurüsten. Auch hier gibt es grosse Probleme.

Zu Jahresbeginn machte der Fall der neu aufgestellten 155. Brigade Negativschlagzeilen. Dabei handelt es sich um einen prestigeträchtigen Verband, der seit letztem Sommer mit Unterstützung aus Paris geschaffen wurde. Die Hälfte der knapp 5000 Mann wurde in Frankreich ausgebildet. Um die Kampfkraft zu erhöhen und die Logistik zu vereinfachen, erhielt der «ausländische» Teil der Brigade zudem moderne europäische Waffen: Leopard-2-Panzer, Caesar-Artilleriegeschütze, Milan-Panzerabwehrsysteme.

Dann allerdings deckte der Journalist Juri Butusow, der inzwischen in einer halboffiziellen Funktion Untersuchungen für die Armee durchführt, desaströse Fehlentwicklungen auf. Statt den Soldaten der Brigade Zeit zur Ausbildung zu geben, wurden mehrere tausend nach einer Schnellbleiche an die Front geschickt, um Verluste auszugleichen. Dabei kam es zu 1700 Fällen von Desertion. Teile der in Frankreich ausgebildeten Einheiten wurden zudem sofort in den Kampf geschickt, wo sie wegen unzureichender Ausrüstung mit Störsendern und Drohnen erhebliche Verluste erlitten, auch an westlichem Material.

Strikte Hierarchien und unehrliche Kommunikation

Die Probleme der 155. Brigade entstammen ebenfalls einer Mischung aus Personalmangel, Improvisation und Inkompetenz. Butusow kritisiert dabei vor allem das Kommando des westlichen Militärdistrikts, das für die Aufstellung dieser und weiterer Brigaden zuständig ist. Es habe planlos agiert und, als die Probleme aufgetaucht seien, den dafür nicht verantwortlichen Brigadekommandanten entlassen, statt selbst Konsequenzen zu ziehen.

Der Militärexperte mit dem Pseudonym Tatarigami sieht das Desaster um die Brigade denn auch als Resultat eines Systemversagens. Der Ukraine fehle es an Offizieren und Unteroffizieren, weshalb oft Leute in hohe Positionen kämen, die dafür ungeeignet seien. Unter ihnen seien Männer mit einem noch aus der Sowjetunion stammenden Führungsverständnis, das Hierarchie und Formalismus über die konkrete Problemlösung und den Schutz der Soldaten stelle.

Zudem existiere in der ukrainischen wie der russischen Armee «eine toxische Kultur der unehrlichen Information entlang der Kommandokette», schreibt der ehemalige Offizier. Die Militärführung bestrafe oft die Überbringer schlechter Nachrichten, was dazu führe, dass sich Kommandanten davor drückten, schwierige Entscheidungen zu fällen und etwa einen Rückzug zu befehlen. Das führe zu unnötigen Verlusten. Generell vermisst er Anreize, Fehler frühzeitig anzugehen. Bei der 155. Brigade etwa waren die Probleme intern Monate vor ihrer Veröffentlichung bekannt.

Wegen des Skandals hat das Oberkommando der Armee nun zumindest vorläufig die Aufstellung neuer Brigaden ausgesetzt. Es trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Probleme bei der Organisation und der Ausrüstung die Kampfkraft von zwölf dieser Einheiten erheblich beeinträchtigen. Stattdessen werden Soldaten aus den Formationen nun als Verstärkung in erfahrene Brigaden geschickt.

Fachleute wie Michael Kofman sehen die Massnahme als positive Entwicklung. Auch Tatarigami schreibt: «Es hat wenig Sinn, weitere Brigaden zu gründen, die zu wenig Personal, zu wenig Ausrüstung oder beides haben, wenn die Mehrheit der existierenden Brigaden dieselben Probleme hat.» Werden diese Verstärkungen richtig eingesetzt, könnte der neue Ansatz tatsächlich helfen, die Front zu stärken. Doch die Armeeführung muss heute mehr denn je Zweifel daran beseitigen, dass sie die Lage korrekt einschätzt und die richtigen Prioritäten setzt.

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