Donnerstag, Oktober 3

Zwei Jugendliche sollen einen Angriff auf die Zurich Pride geplant haben. Der Forensiker spricht über die Ursachen von Radikalisierung – und die Mittel dagegen.

Eine Woche vor der Zurich Pride, dem grössten queeren Umzug des Landes, verhaften Zürcher Ermittler zwei Jugendliche. Der Verdacht: Die beiden – 17 und 14 Jahre alt – planten einen Anschlag auf die Pride.

Beide Teenager haben einen islamistischen Hintergrund, wie Recherchen der NZZ zeigen. Der ältere soll sich in einschlägigen Kanälen danach erkundigt haben, wie man mit einem Lastwagen einen Anschlag durchführen könnte. Zunehmende Radikalisierung, Online-Konsum von IS-Propaganda, Kontakt zu anderen Islamisten: Es ist nicht der erste solche Fall.

Erst im April wurden in Schaffhausen und im Thurgau drei radikalisierte Jugendliche festgenommen, die den IS unterstützt haben sollen. Im März stach in Zürich ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln einen orthodoxen Juden nieder und verletzte ihn lebensgefährlich. Er streamte die Tat live und nahm ein Bekennervideo auf, in dem er sich als IS-Anhänger zu erkennen gab.

Ausführlich mit solchen Fällen befasst hat sich der forensische Psychologe Jérôme Endrass, stellvertretender Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung und Professor an der Universität Konstanz.

Herr Endrass, wie wird aus einem Jugendlichen ein radikaler Islamist?

Es gibt bei der Radikalisierung so etwas wie eine Schnellbleiche. Der Inhalt ist dabei gar nicht so relevant. Bei gewissen Jugendlichen ist von Anfang an eine starke Prädisposition zu Gewalt vorhanden. Die Ideologie sagt nur, in welche Richtung sie sich richtet. Die suchen ein Ziel – etwas, bei dem sie ihren geballten Frust und ihre Wut ausleben können. Etwas, das ihrem Tun Legitimation gibt. Es braucht also keine intensive Überzeugungsarbeit, keinen Gruppendruck, um sie von diesem Ziel zu überzeugen. Oft geht es auch wahnsinnig schnell, bis sie nach ihrem Kontakt mit der Ideologie gewalttätig in Erscheinung treten.

Aber woher kommt diese Gewaltbereitschaft?

Bei Aggressivität und dissozialem Verhalten gibt es drei entscheidende Faktoren: die Gene, das soziale Umfeld und die Erziehung. Wenn jemand mit grossem Gewaltpotenzial zur Welt kommt, ist es zum Beispiel matchentscheidend, in welchem Umfeld er gross wird. Manchmal kommt dann der «perfekte Sturm» zusammen: die Prädisposition, ein schwieriges Umfeld und dazu noch überforderte Eltern.

Wenn Sie von Umfeld sprechen: Geht es da um die reale oder die digitale Welt?

Die reale Welt ist entscheidend. Klar gibt es Stimulation aus dem virtuellen Raum. Aber es gibt wenige Leute, die nur über das Internet radikalisiert werden. Das ist ja eine weitverbreitete Angst, aber sie trifft nicht zu. Die Mehrheit jener, die die Schwelle zur Gewalt überschreiten, wird in ihrem sozialen Umfeld radikalisiert.

Geht es da nur um die Familie oder auch um das gesamtgesellschaftliche Umfeld?

Es gibt auch übergeordnete Faktoren: In Frankreich gibt es aktuelle Erhebungen, gemäss denen in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen jeder Vierte Gewalt gegen Jüdinnen und Juden legitimiert. Da passiert offensichtlich gesellschaftlich etwas. Gefährlich ist es, wenn alle Faktoren zusammenkommen: eine individuelle Prädisposition zu Gewalt, ein soziales Umfeld, in dem extreme Ansichten gepusht werden, und ein gesellschaftliches Klima, das sie legitimiert.

Und solche Situationen versuchen islamistische Propagandisten gezielt auszunutzen.

Es wird eine diffuse Propaganda gestreut – in der Hoffnung, dass irgendein gewaltgeneigter Jugendlicher von sich aus loszieht. Im Nachhinein heisst es dann: Das war einer von uns. Es ist eine Propaganda-Franchise. Bei uns fühlen sich völlig andere Leute angesprochen als im Nahen Osten. Leute, die psychisch auffällig und eher randständig sind. Jihadist wird niemand, der erfolgreich ist. Ich habe einige Extremisten interviewt. Die geben zum Teil unverblümt zu: Wenn sie eine Freundin gehabt hätten, wenn es in der Schule besser gelaufen wäre, dann wären sie nicht nach Syrien zum IS gegangen.

Diese Art von islamistischer Gewalt ist also ein spezifisch europäisches Phänomen?

Genau. Ein Beispiel: Wir haben zusammen mit einer deutschen Behörde über 300 Fälle von islamistischen Gefährdern angeschaut. Ein relevanter Teil von ihnen waren psychisch Kranke. Solche Leute würde im Nahen Osten niemand zu einem Anschlag schicken.

Wie kann man eine solche Dynamik der Radikalisierung verhindern?

Wir müssen dort ansetzen, wo die Jugendlichen abgehängt werden. Die erfolgreichsten Deradikalisierungsprojekte sind die, in denen gar nicht mehr gross über Ideologie gesprochen wird. In denen man den Jugendlichen das bietet, was die Extremisten ihnen auch anbieten. Es geht darum, eine Mitmachkultur zu schaffen, ihnen eine Identität zu geben, an der sie sich festhalten können. Einfach ohne Diskriminierung, Gewalt und Demokratiefeindlichkeit.

Sie sprechen von Jugendarbeit in Dörfern, Quartieren, religiösen Gemeinschaften . . .

. . . und Schulen. Das sind wichtige Orte, weil sich dort gewaltbereite Einzeltäter finden und zusammenschliessen können. Darum hat im Kanton Zürich die Schulsozialarbeit einen relevanten Stellenwert im Bedrohungsmanagement eingenommen.

Bundesanwalt Stefan Blättler stellte jüngst in einem NZZ-Interview infrage, ob der Ansatz aus dem Jugendstrafrecht – abholen und integrieren statt bestrafen – reicht, um mit dieser Form von Extremismus umzugehen. Braucht es mehr Härte?

Ich finde eben nicht, dass wir in der Schweiz weich wären. Bei der Früherkennung gehören wir zu den führenden Ländern in Europa. Praktisch jeder Kanton hat ein kantonales Bedrohungsmanagement. Das wiederum ist vernetzt mit den Jugenddiensten, der Schulsozialarbeit und den Psychiatrien. Diese Nähe ist entscheidend. In Deutschland gab es in den letzten zwanzig Jahren über zehn Schulattentate. In der Schweiz kein einziges. Wir hatten Jugendliche, die auffielen. Aber bei denen haben wir sofort reagieren können.

Nun spricht die Bundesanwaltschaft von einer Zunahme terroristischer Verfahren. Es waren 2023 über hundert, 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Wie erklären Sie sich das?

Bei extremistisch motivierter Gewalt gibt es Modetrends. Vor ein paar Jahren stand eher rechte Gewalt im Zentrum, jetzt ist es islamistisch motivierte – und in zwei Jahren ist es vielleicht wieder umgekehrt. Die geopolitische Lage spielt auch eine Rolle. Das haben wir schon beim Syrien-Krieg beobachtet, der Jugendliche stark für Extremismus mobilisiert hat. Und man sieht es nun im Kontext des Gaza-Krieges. Schauen Sie sich an, wie viele Leute plötzlich bereit sind, antisemitische Positionen zu verbreiten. Dann können Sie erahnen, was für einen Effekt solche Konflikte auf Jugendliche und junge Erwachsene haben können.

Welche Faktoren bestimmen denn, ob ich mich als Jugendlicher den Rechtsextremen oder den Islamisten anschliesse? Ist es einfach Zufall, wer zum Feindbild wird?

Es gibt ideologische Einflüsse, die mitbestimmen, in welche Richtung Gewaltbereitschaft sich äussert. Wenn man ein junger Muslim ist und aus Nordafrika kommt, dann wendet man sich kaum den Rechtsextremisten zu – der Islamismus ist anschlussfähiger. Wenn man auf dem Land lebt, in einer konservativen Gegend, wird man eher rechtsradikal. Und wenn man ein Städter ist, in einem linken Milieu, ist es wahrscheinlicher, dass man sich den Autonomen anschliesst. Wir haben in einem grossangelegten Projekt deutsche Schulattentate untersucht. Da gab es bei denselben Tätern parallel rechtsextremes und linksextremes Gedankengut. Das hat die Täter nicht gestört. Alles, was ihr Feindbild bediente, war ihnen recht.

Es gibt ja das primär von rechts vertretene Narrativ des importierten Extremismus, das postuliert, diese Art von Radikalisierung habe mit Migration und Migrationshintergrund zu tun.

Wir verzeichnen in Europa keine starke Zunahme extremistischer Gewalt, obwohl es in den letzten Jahren sehr viel Migration gab. Der Trend ist stabil, zum Teil gar abnehmend. Die Art der Gewalt verändert sich einfach. So wie wir auch sonst in der Gesellschaft einen gewissen Sockel an Kriminalität haben, ist es auch hier: Es gibt einen Sockel von Menschen, die bereit sind, extremistische Gewalt anzuwenden. Bei der Frage, unter welchem Banner sie das tun, spielt es eine Rolle, woher jemand kommt und welche gesellschaftlichen Konflikte gerade virulent sind.

Bei der jüngsten vereitelten Aktion war die Zurich Pride im Visier. Das soll zuvor auch schon bei zwei Schwestern der Fall gewesen sein, die kürzlich vor dem Bundesstrafgericht standen. Ist die LGBTQ-Gemeinschaft besonders im Fokus von Extremisten?

Das ist uns in Europa, in Fällen extremer Gewalt, bisher weniger begegnet. Aus der LGBTQ-Gemeinschaft hört man aber, dass Übergriffe von Extremisten im Alltag häufig sind. Das sind dann nicht die grossen Anschläge, sondern es geht beispielsweise darum, dass schwule Paare sich nicht mehr wohl fühlen, offen ihre Partnerschaft zu zeigen.

Wenn nun auch grosse Veranstaltungen in den Fokus rücken, ist das also ein neues Phänomen.

Da wäre ich vorsichtig. Bei wenigen Einzelereignissen kann man noch nicht von einem Trend sprechen. Was klar ist: Bei islamistischem Extremismus stehen bestimmte Gruppen im Zentrum. Es sind Jüdinnen und Juden, es sind genauso muslimische Gemeinden, die als moderat gelten. Und es sind auch LGBTQ-Veranstaltungen.

Welche Verantwortung tragen Social-Media-Konzerne für die Inhalte, die gewaltbereite Jugendliche an extremistisches Gedankengut heranführen?

Es ist sinnvoll, über die Rolle dieser Konzerne und ihrer Algorithmen nachzudenken. Es wird aber nicht der Game-Changer sein. Dieser liegt in der realen Welt. Es gibt Zehntausende Schreibtischtäter, die online sagen, sie seien bereit, irgendwelche Leute zu massakrieren. Der grosse Schritt ist jener ins Reale. Darauf muss auch die Präventionsarbeit fokussieren.

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