Montag, November 25

Im Kopf von Vergewaltigern und militanten Aktivisten greife derselbe Mechanismus, erklärt Endrass. Er hält Ideologien in Verbindung mit Aggressivität für gefährlich.

In Deutschland planen Rechtsextreme die Deportation von Hunderttausenden von Migranten, in Frankreich verbrüdern sich Bauern mit Rechtsextremen, und in ganz Europa blüht der Antisemitismus auf. Stimmt der Eindruck, dass sich derzeit viele Milieus radikalisieren?

Der Zugang zu radikalen Ideologien und Forderungen ist heute einfacher, und radikale Strömungen sind weniger auf ein kleines Milieu beschränkt. Ja, das hat sich verändert. Als Forensiker bereitet mir aber etwas anderes grössere Sorgen.

Nämlich?

Das zunehmende Zusammenspiel von radikalen Forderungen mit Militanz. Radikale Ansichten sind für uns Forensiker für sich allein noch nicht unbedingt besorgniserregend. Gefährlich werden extreme Auffassungen aber in Kombination mit Militanz. Also mit einer aggressiven, oft gewaltbereiten Haltung, die keinen Widerspruch duldet und die Welt trennscharf in Gut und Böse einteilt. Und genauso wie radikale Ideologien leichter über soziale Netzwerke verbreitet werden können, lassen sich militante Aktivitäten dank neuen Technologien leichter koordinieren.

Begünstigen rechts- oder linksextreme Ideologien Militanz nicht immer?

Mehrheitlich ja, aber das ist nicht einmal das Hauptproblem. Bewegungen, die Militanz ausstrahlen, sind ganz unabhängig von der dahinterstehenden Ideologie für gewisse Leute attraktiv. Es gibt Menschen, die Militanz für sich allein einfach gut finden.

Und wie wird man militant?

Das hat viel mit der Persönlichkeit zu tun. Es handelt sich oft um Machertypen, die ungeduldig oder ungestüm sind und zudem zu einem Schwarz-Weiss-Denken neigen. Das Gegenteil von Salon-Intellektuellen oder Couch-Potatoes, die sich in Internetforen austoben. Für Menschen mit einer solchen Persönlichkeitsstruktur sind aktivistische, militante Gruppen ausserordentlich attraktiv. In unserer Forschung sehen wir, dass der Inhalt, für den eine betreffende Gruppe steht, häufig gar nicht so relevant ist, solange sie die Inhalte mit Militanz vertritt.

Wenn die Persönlichkeit und die Psyche wichtiger werden als die Ideologie: Könnte ein Rechtsextremer geradeso gut linksradikal sein?

Zumindest bei Personen, welche die Schwelle zur Gewalt überschreiten, gibt es in der Forschung starke Hinweis darauf, dass dies genau so ist. Die Militanz ist dominant – die innere Überzeugung ist anpassungsfähig.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Wir haben die Biografien von rund 250 Islamisten analysiert. Bei jenen Personen, die bedrohlich geworden sind, stand am Anfang in der Regel nicht eine innere Überzeugung, die immer stärker wurde und schliesslich in den Extremismus mündete. Es war genau umgekehrt: Es handelte sich um aggressive Menschen, die einen Drang zur Militanz aufwiesen und sich eine für sie passende Organisation suchten.

Das heisst, die Ideologie dahinter spielt gar keine Rolle?

Doch. Sie bildet die Legitimation für Gewalt und Militanz.

Inwiefern?

Wer die Schwelle zur Gewalt überschreitet, sucht dafür in aller Regel eine Legitimation. Das sieht man nicht nur bei militanten Aktivisten, sondern in der Kriminalität generell. Der Mechanismus ist: Man legt sich einen Grund zurecht, weshalb eine Verhaltensweise angeblich notwendig ist. Fast alle Menschen benötigen eine solche Legitimation, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Wenn ich eine Bank überfalle, tue ich das, weil ich Geld haben möchte – und nicht aus Überzeugung.

Aber wenn Sie mit Bankräubern sprechen, merken Sie rasch, dass viele ihr Verhalten gar nicht so falsch finden. Sie sagen, die Banken seien sowieso zu reich oder die Banker seien selber Abzocker und Verbrecher. Sie rechtfertigen ihr Delikt. Das ist bei gewaltbereiten Aktivisten ganz ähnlich.

Ihre These ist also, dass militante Aktivisten das Mindset von Verbrechern haben?

Die Motive sind unterschiedlich, aber die Mechanismen sind ähnlich. Das Grundkonzept, wonach wir Menschen eine Legitimation brauchen, um die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten, sehen wir sowohl beim Bankräuber als auch bei militanten Aktivisten. Ohne Legitimation getraut sich kaum jemand, die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten. Dasselbe Muster, Taten zu rechtfertigen, sieht man übrigens sehr stark bei Sexualstraftätern.

Inwiefern?

Zum Beispiel, indem sie erklären, die Gesellschaft sei prüde. Was ihnen vorgeworfen werde, sei im Grunde gar nicht schlimm. Pädophile behaupten oft, was sie täten, sei im Gegenteil sogar gut für ihre Opfer: Sie würden ein Kind an die Sexualität heranführen. Einige sagen, dass sie als Kind selbst verführt worden seien und dass dies ihnen nicht geschadet habe. Ähnliches sehen wir bei Vergewaltigern: Sie rechtfertigen sich, indem sie darauf verweisen, dass es ein Recht auf Sex gebe, oder eben damit, dass Frauen, die Nein sagten, eigentlich Ja meinten. In der Forensik bezeichnen wir diese Rechtfertigungen als Vergewaltigungsmythen. Kaum ein Gewalttäter, der nicht psychopathisch veranlagt ist, gibt ohne Einschränkung zu, dass die Tat vollumfänglich zu verurteilen ist und er die volle Verantwortung trägt.

Und doch ist es befremdend, wenn Sie Gewaltverbrecher mit Aktivisten gleichsetzen, die möglicherweise idealistische oder gar berechtigte Ziele verfolgen.

Das tue ich nicht. Die Motive unterscheiden sich, der Unrechtsgehalt möglicherweise ebenfalls. Aber im Kopf von Gewaltverbrechern und gewissen militanten Aktivisten greift derselbe Mechanismus. Deshalb wird es dort, wo Ideologie auf Militanz trifft, fast immer ungemütlich. Es ist darum auch kein Wunder, dass viele Leute gewisse Entwicklungen des Woke-Aktivismus als bedrohlich empfinden.

Das müssen Sie erklären.

Bis vor kurzem hat mich als Forensiker die Woke-Debatte nicht interessiert. Woke-Anliegen und die Reaktionen darauf hatten den Charakter des üblichen Links-rechts-Diskurses. Doch inzwischen sehe ich bei vielen Woke-Aktivisten ein Schwarz-Weiss-Denken, wie es für militante Gruppen typisch ist. Zum Beispiel werden Menschen mit europäischem Ursprung als habituelle Rassisten dargestellt. Dieser Rassismus soll sogar genetisch verankert und somit fast unüberwindbar sein. So verkehrt sich ein berechtigtes Anliegen wie das Einstehen gegen den Rassismus sukzessive in sein Gegenteil.

Von da ist es aber noch ein weiter Weg zur Gewalt.

Nicht unbedingt. Wenn Sie die Welt strikte in chronische Verfolger und chronisch Verfolgte unterteilen, ergibt sich daraus genau jene Legitimation, von der wir vorher gesprochen haben. Gewalt gegen den vermeintlichen Unterdrücker ist dann nicht mehr ein Verbrechen, sondern eine Art legitimer Notwehr. Vermischt sich diese militante Sicht mit Aktivismus, dann nehmen Übergriffe gegen Personen zu. Exakt dies kann man bei den Protesten zum Nahostkonflikt beobachten.

Sie meinen den wieder aufkeimenden Antisemitismus?

Genau. In den USA haben antisemitische Übergriffe deutlich zugenommen, wobei Israelkritik vordergründig die Legitimation für solche Angriffe bildet. Sehr oft ist diese Form der Israelkritik durch eine woke Lesart geprägt, wonach sich die Juden nach dem Holocaust global von Verfolgten zu Verfolgern gewandelt haben. Der Antisemitismus wird nach dieser Lesart von den Israeli instrumentalisiert, um selber zu unterdrücken. In Parolen wie «Free Palestine from German guilt» kommt dies zum Ausdruck. Besorgniserregend ist für mich, wie rasch sich solche Ideen verbreiten.

Zum Beispiel an Kundgebungen.

Nicht nur. An Massenkundgebungen, die sich militant gegen Israel richten, werden die Anschläge der Hamas teilweise tatsächlich gefeiert. Die Logik, wonach Israel der alleinige Unterdrücker ist, prägt den Diskurs aber generell stark. So stark, dass es Rektoren amerikanischer Universitäten offensichtlich schwerfällt, die Anschläge der Hamas klar zu verurteilen. Das ist gefährlich. Denn damit wird die Gewaltlegitimation für Leute geschaffen, die zur Militanz neigen.

Der Nahostkonflikt bestimmt die Tagespolitik sehr stark, was die Entwicklung zum Teil erklärt. Sehen Sie andere Bereiche in der Woke-Kultur, die Ihnen Sorgen bereiten?

Woke ist eine breite Bewegung, die wenig trennscharf ist und von der wir noch nicht wissen, wohin sie sich entwickelt. Viele Anliegen der Woke-Bewegung sind diskussionswürdig und meines Erachtens interessant. Zum Beispiel, wenn es um die sexuelle Identität geht. Es entspricht einem breit gestützten Anliegen, diese Fragen zu diskutieren. Aber in einem Teil der Bewegung entwickelt sich eine Haltung, die keine Gegenposition mehr toleriert. Wenn dabei auch die Schwelle zur Gewalt überschritten wird, etwa indem gewissen Personen oder gar ganzen Gruppen der Zugang zur Uni physisch verwehrt wird, ist das beunruhigend.

Sie zeigen sich jetzt besonders besorgt über die Woke-Ideologie. Ist der Rechtsextremismus nicht viel gefährlicher?

Extremismus ist nicht ein Nullsummenspiel. Nur weil der Rechtsextremismus gefährlich ist, heisst das nicht, dass von einer anderen Seite keine Gefahr droht. Wie gesagt: Viele Anliegen der Woke-Community mögen berechtigt sein – das gilt es in einer offenen Gesellschaft zu diskutieren. Aber ein Teil der Bewegung wird zur Gefahr für das Zusammenleben. Er radikalisiert sich. Es geht dabei nicht nur um die inhaltlichen Forderungen. Sondern um die Frage, ob sich gerade Ideologie mit Militanz vermischt und sich so etwas zusammenbraut. Das wird noch zu wenig wahrgenommen – ganz im Unterschied zum Rechtsextremismus. Dort wird die Gefahr von weiten Teilen der Bevölkerung erkannt. Am letzten Wochenende gingen in Deutschland aus berechtigter Sorge Hunderttausende auf die Strasse.

Was gibt den Ausschlag darüber, ob eine radikale Bewegung militante Leute anzieht?

Entscheidend ist der Erfolg: zum Beispiel in Form von Aufsehen, Zustimmung in der Öffentlichkeit oder Medienberichterstattung. Man konnte das vor ein paar Jahren bei der jihadistischen Szene in Deutschland gut beobachten. Sie zog militante Personen an, die sich nicht wirklich für den Inhalt islamistischer Ideologien interessierten. Aber damals war der IS militärisch erfolgreich, und das zog junge, gewaltbereite Männer an. In der Klimabewegung ist es ähnlich – wenngleich deutlich abgeschwächter im Ausmass. Wer Adrenalin mag und in die Zeitung kommen will, der klebt sich irgendwo fest. Am besten dort, wo er den grössten Ärger auslöst.

Welche Rolle spielt die Lebenssituation bei der Radikalisierung?

Eine grosse. Auch das haben wir bei der Analyse der Biografien von Islamisten gesehen. Perspektivelosigkeit ist ein wichtiges Motiv, um sich einer extremistischen Bewegung anzuschliessen. Auch hier ist die inhaltliche Ausrichtung weniger wichtig.

Wie prägen Familie und Freunde die Radikalisierung mit?

Ebenfalls stark. So ist das unmittelbare persönliche Umfeld für die Radikalisierung wichtiger als Inhalte im Internet. Es beeinflusst weniger den Grad und das Ausmass der Entwicklung, sondern vor allem die Ausrichtung. Wer eine Uni besucht und zur Militanz neigt, geht eher in die linksextreme Szene. Wer mit seiner Familie auf dem Land lebt, wo es weniger Migration gibt, landet häufiger im rechtsextremen Milieu. Und wer unpolitisch aufwächst, kommt vielleicht eher zum Fussball-Hooliganismus.

Gibt es auch ein typisches Alter?

Der Krawall-Aktivismus beschränkt sich häufig auf eine bestimmten Lebensphase, meistens ein Alter von unter dreissig Jahren. Danach nimmt die Tendenz stark ab – was sich ja in vielen Milieus offenkundig zeigt. So sind zum Beispiel nur ganz selten Leute über dreissig nach Syrien in den Jihad gereist.

Ist Militanz etwas Krankhaftes?

In den wenigsten Fällen. Es ist wissenschaftlich falsch, militanten Aktivismus zu pathologisieren. Ausschlaggebend sind Persönlichkeitsmerkmale, die in einer bestimmten Gemengelage dazu führen, dass man auf diese militante Form von Aktivismus besonders anspricht.

Und wie findet man wieder aus dem Extremismus heraus?

Da gilt es Extremismus und Militanz zu unterscheiden. Bei der Militanz ist es wie gesagt häufig eine Altersfrage. Beim Extremismus ist es sehr viel komplizierter. Was nicht funktioniert, ist, jemanden mit guten Argumenten zu überzeugen zu versuchen. Druck aufsetzen ist meistens auch kontraproduktiv. Mehr Erfolg verspricht der Versuch, einen persönlichen Kontakt aufzubauen und über gemeinsame Anknüpfungspunkte Haltungen aufzuweichen.

Jérôme Endrass ist stellvertretender Leiter des Zürcher Amtes für Justizvollzug und ausserplanmässiger Professor für forensische Psychologie an der Universität Konstanz. Ausserdem forscht er an der Universität Basel.

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