Montag, Oktober 7

Ein Gericht muss entscheiden, ob die Verwahrung der «Parkhausmörderin» Caroline F. aufgehoben wird – wenige Wochen nachdem in Basel ein psychotischer Täter nach zehn Jahren erneut getötet haben soll. Geht die Justiz zu grosse Risiken ein?

Seit dem Tötungsdelikt in Basel durch einen psychisch kranken Straftäter, der vor zehn Jahren bereits einmal zwei Menschen getötet hat, stehen Vollzugsbehörden und Gerichte unter Druck. Hätte der Mann verwahrt werden sollen?

In der Rückschau wird dies vielleicht von vielen so gesehen werden. Ohne die Details zu kennen, erscheint mir der damalige Entscheid rein forensisch gesehen jedoch absolut nachvollziehbar. Der Beschuldigte leidet an einer psychotischen Erkrankung. Personen mit einer solchen Diagnose sind in aller Regel sehr gut therapierbar. Mir ist aus den letzten zwanzig Jahren jedenfalls kein einziger Fall eines an Schizophrenie leidenden Täters bekannt, der nach zehn Jahren Therapie mit einem derart schweren Delikt rückfällig wurde. Es muss sich in Basel also um einen extremen Ausnahmefall handeln.

Immerhin musste die Therapie fünf Jahre nach dem Urteil verlängert werden, weil der Beschuldigte noch nicht resozialisierbar war. Und auch nach zehn Jahren hat sich sein Zustand nicht gebessert, wie sich jetzt zeigt. Hätte es nach einer gewissen Zeit nicht doch den Mut für eine Verwahrung gebraucht?

Ich kann mich zu diesem Fall nicht im Detail äussern, weil ich ihn nicht kenne. In der Schweiz ist der «Mut zur Verwahrung», wie Sie es formulieren, allerdings sehr gross. Die These, dass in der Schweiz zurückhaltend verwahrt werde, ist schlicht falsch. In der Schweiz sind zurzeit gemessen an der Bevölkerungszahl doppelt so viele Leute verwahrt wie in Deutschland. Und auch Deutschland gilt diesbezüglich nicht als besonders zurückhaltend. Wir sind in der Schweiz zudem auch äusserst vorsichtig, wenn es darum geht, jemanden aus einer Verwahrung zu entlassen. Es wäre ein Fehler, nun wegen eines Einzelfalls das gesamte System infrage zu stellen.

Das bedeutet allerdings, dass das System mit einem Restrisiko verbunden ist, das schliesslich die Bevölkerung tragen muss.

Das scheint mir letztlich beinahe die Definition eines freiheitlichen Rechtsstaates zu sein. Es existiert schlicht kein rechtsstaatliches Modell, in welchem der Bevölkerung eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie abgegeben werden kann – zumal die meisten Straftaten von Ersttätern begangen werden. Dass durch unsere Rechtspraxis das Risiko für die Bevölkerung insgesamt nicht tragbar wäre, bestreite ich zudem: Die Schweiz ist eines der sichersten Länder der Welt. Die Rückfallquoten sind ausserordentlich tief. Wir sind laufend daran, das System zu verbessern. Wir werden trotz all diesen Bemühungen Rückfälle nie komplett verhindern können.

Ist das hinnehmbar?

Es ist die Realität. Man kann das durchaus mit dem Flugverkehr vergleichen. Die Luftfahrt setzt alles daran, dass das Fliegen sicher ist und immer sicherer wird. Trotzdem wissen wir alle, dass es früher oder später wieder zu einem Absturz kommt – so tragisch dies auch ist. Solange Menschen reisen wollen und solange wir in einem offenen Rechtsstaat leben wollen, wird es solche Restrisiken geben.

Viele Leute haben jedoch Angst, dass psychisch kranke Täter immer irgendwie gefährlich bleiben.

Diese Angst ist nicht begründet – im Gegenteil: Im Falle von Gewaltstraftätern, die an Schizophrenie leiden und die therapiert werden, ist das Rückfallrisiko sogar deutlich kleiner als bei Gewaltstraftätern ohne eine solche Diagnose. Aber ganz allgemein gilt, dass psychisch kranke Menschen statistisch gesehen nicht gefährlicher sind als gesunde. Wir müssen das immer wieder betonen. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass psychisch Kranke stigmatisiert werden.

Weshalb ist die Rückfallquote bei schizophrenen Personen kleiner?

Der Auslöser für das Delikt ist in aller Regel eine Psychose, also eine Wahnvorstellung. Jemand meint zum Beispiel, er werde angegriffen, obwohl das gar nicht stimmt. Sobald eine medikamentöse Behandlung einsetzt, bildet sich der Wahn und damit auch die Gefährlichkeit komplett zurück. Wenn bei einem gesunden Straftäter die Gewaltbereitschaft aber ein Teil seiner Persönlichkeit ist, ist es viel schwieriger, Veränderungen herbeizuführen.

Frank Urbaniok, der wie Sie Forensiker ist, kritisiert, die Schweiz habe die Verwahrungsinitiative nicht umgesetzt. Teilen Sie seine Meinung?

Ich halte das für eine Schein-Debatte. Es ist keineswegs so, dass die Verwahrungsinitiative folgenlos blieb. Im Gegenteil: Sie hatte gewaltige Auswirkungen. Es werden heute deutlich mehr straffällig gewordene Menschen für sehr lange Zeit verwahrt. Dazu muss man wissen: Es gibt zwei Arten der Verwahrung – die ordentliche sowie die lebenslange Verwahrung –, die direkt auf die Initiative zurückzuführen sind. Heute werden fast alle gefährlichen und nicht therapierbaren Täter ordentlich verwahrt. De facto werden aber auch diese kaum mehr entlassen. Das Ziel der Initiative ist also erreicht.

Wenn solche Straftäter bis ans Lebensende verwahrt bleiben: Was spricht denn dagegen, sie dann gemäss der angenommenen Initiative von Anfang an lebenslang zu verwahren? Immerhin geht es um einen Volksentscheid.

Das Resultat ist bei einer ordentlichen Verwahrung de facto zwar dasselbe. Aber es gibt dennoch einen gewichtigen Unterschied: Bei der ordentlichen Verwahrung wird jährlich überprüft, ob die Voraussetzungen für eine Verwahrung noch gegeben sind. Bei der lebenslangen Verwahrung besteht keine solche Überprüfungsmöglichkeit. Deshalb kann sie nur ausgesprochen werden, wenn ein Gutachten vorliegt, das eine Prognose für eine sehr lange Zeit vornimmt.

Was spricht gegen solche Gutachten?

Sie sind mit grossen Unsicherheiten behaftet. Und sie sind immer schlechter als Gutachten, deren Aussagen sich auf die nächsten zwei Jahre beschränken. Eine ordentliche Verwahrung basiert deshalb auf einer sehr viel besseren Grundlage – selbst wenn das Resultat in vielen Fällen dasselbe bleibt. Genau das zeichnet ein rechtsstaatlich einwandfreies Vorgehen aus.

Wie viele Verwahrte kommen dennoch aus der Verwahrung wieder frei?

Es sind etwa ein bis drei Prozent pro Jahr – es handelt sich also um Einzelfälle. Auch das hat sich in den letzten dreissig Jahren sehr stark geändert. Es ist sehr schwierig, wieder aus einer Verwahrung herauszukommen – oft sind diese Personen zudem älter oder gebrechlich. Und selbst dort, wo es dazu kommt, werden die Leute zuerst jahrelang engmaschig überprüft. Es gibt zudem noch die Möglichkeit der Umwandlung in eine stationäre Massnahme, die später zu einer Entlassung führen kann.

Wie zum Beispiel im Fall von Caroline F., die in den 1990er Jahren als «Parkhausmörderin» bekannt wurde und die seit 26 Jahren verwahrt wird?

Ein Gericht wird die Frage beantworten müssen, ob die Voraussetzungen für eine Verwahrung weiterhin gegeben sind oder ob eine stationäre Therapie erfolgen soll. Dabei wird sich das Gericht unter anderem auf Berichte der Justizvollzugsanstalt, von Psychotherapeutinnen und einem unabhängigen Psychiater abstützen. Und natürlich werden auch protektive Faktoren wie zum Beispiel das Alter berücksichtigt werden.

Bei Gebrechlichkeit ist dies nachvollziehbar, aber mindert das Alter allein schon die Gefährlichkeit?

Das Alter ist ein extrem wichtiger Risikofaktor in Bezug auf die Gefährlichkeit. Es ist sogar noch wichtiger als das Geschlecht. Und es gibt Hinweise darauf, dass es auch wichtiger ist als der Umstand, ob jemand eine Therapie macht oder nicht. Oder salopp gesagt: Wenn man nur lange genug zuwartet, geht das Risiko, das von einer Person ausgeht, von allein merklich zurück. Internationale Studien zeigen, dass die einschlägigen Rückfallquoten bei Sexualstraftätern noch bei wenigen Prozentpunkten liegen, wenn sie das Alter von 60 Jahren überschritten haben.

Dennoch: Ist die Aufhebung der Verwahrung einer derart gefährlichen Frau nicht schlicht zu riskant?

Das ist eine Frage, die das Gericht beantworten muss. Genau diese Güterabwägung zwischen der Sicherheit der Allgemeinheit und den Bedürfnissen des Individuums ist Sache des Gerichtes und gehört explizit nicht in den Zuständigkeitsbereich von Experten. Das Gericht weiss natürlich, dass mit der Umwandlung von einer ordentlichen Verwahrung in eine stationäre therapeutische Behandlung erst ein kleiner Schritt gemacht wird. Dabei muss es dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft weiter Rechnung tragen, genauso wie den Feststellungen im Gutachten. Dazu muss man wissen, dass das Strafrecht einen Therapieversuch vorsieht, wenn ernsthafte Chancen auf Erfolg vorliegen. In der Regel erfolgt dann die Therapie in einer geschlossenen Einrichtung und unter engmaschiger Beobachtung und Begleitung. Bewährt sich eine Person nicht, kann erneut eine Verwahrung angeordnet werden.

Dieses Konzept der stationären Massnahme, die oft als kleine Verwahrung bezeichnet wird, wird ebenfalls kritisiert. Es sei zu riskant und zu teuer, Leute jahrelang zu therapieren, die dann doch unberechenbar blieben und deshalb nicht mehr freigelassen werden könnten. Man therapiere auch untherapierbare Leute, lautet der Vorwurf.

Nicht bei allen Menschen ist von Anfang an klar, wie gefährlich sie sind und wie lange sie dies bleiben werden. Gewisse Menschen sind sehr schwierig zu behandeln. Wenn man mit einer Therapie beginnt, kann man deshalb noch nicht zu hundert Prozent sagen, ob sie auch funktionieren wird. Das liegt in der Natur der Sache. Es gibt deshalb Fälle, in denen sich Personen nachträglich als untherapierbar herausstellen. Auch das gehört zum freiheitlichen Rechtsstaat, dass die Verwahrung die Ultima Ratio ist.

Wie gross ist eigentlich die Gefahr, dass sich Gutachten in die andere Richtung als falsch erweisen? Dass also jemand als gefährlich eingestuft und verwahrt wird, obwohl er es gar nicht ist?

Das Risiko falsch positiver Befunde ist heute sicher deutlich grösser als die Gefahr falsch negativer Prognosen. In der Güterabwägung zwischen Freiheitsansprüchen des Einzelnen und Sicherheitsbedürfnissen der Allgemeinheit urteilen Gerichte mehrheitlich zugunsten Letzterer.

Die Forensik verweist darauf, dass alle Prozesse standardisiert sind. Wie sieht das auf Seite der Fachkommissionen und Vollzugsbehörden aus, die die Entscheide über Vollzugslockerungen schliesslich fällen? Gibt es hier schweizweit eine einheitliche Praxis?

Auch in diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren viel getan, nicht zuletzt auch auf Initiative des Kantons Zürich. Der sogenannte risikoorientierte Sanktionenvollzug hat zum Ziel, Abläufe zu vereinheitlichen. Die Schweiz liegt hier ganz vorne. Unser System arbeitet einheitlich, und die einzelnen Elemente sind gut aufeinander abgestimmt.

Bereits werden weitere Verschärfungen des Verwahrungsrechts diskutiert: Ist es sinnvoll, in ganz bestimmten Einzelfällen auch Jugendliche verwahren zu können?

Die Kinder- und Jugendforensik sowie die Jugendanwaltschaften haben sich dazu sehr deutlich geäussert: Es besteht hier kein Bedarf nach zusätzlichen Massnahmen. Natürlich kann man über Verbesserungen nachdenken, doch dafür muss man nicht automatisch das Gesetz ändern.

Sehen Sie als Forensiker Lücken in der Gesetzgebung, die zu schliessen wären, um die Bevölkerung noch besser vor gefährlichen Straftätern schützen zu können?

Ehrlich gesagt: Nein. Damit will ich nicht sagen, dass wir uns nicht noch weiter verbessern können. Aber im Bereich der Gesetzgebung wurde in den letzten dreissig Jahren derart viel getan, dass ich hier keinen Handlungsbedarf mehr sehe. Man hat zudem massiv in die Ausbildung investiert. Auch bei den Abläufen hat sich enorm viel geändert, und die Forensik hat grosse Fortschritte gemacht. Das System wird laufend weiter optimiert. Wir sind mitnichten an einem Punkt, an dem es weitere grosse Reformvorhaben braucht. Im Gegenteil: Es ist Zeit für eine gewisse Beruhigung. Wenn eine Reform die nächste jagt, ist das für die Praxis kaum mehr bewältigbar. Es führt viel eher zu Reformmüdigkeit – und macht anfällig für Fehler.

Jérôme Endrass ist stellvertretender Leiter des Zürcher Amtes für Justizvollzug und ausserplanmässiger Professor für forensische Psychologie an der Universität Konstanz. Ausserdem forscht er an der Universität Basel.

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